„Brothers and sisters, the time has come for each amd everyone of you to decide whether you are gonna be the problem or whether you are gonna be the solution.

You must choose, brothers, you must choose. It takes five seconds, five seconds a decision, five seconds to realize your purpose here on the planet. It takes five seconds to realize that it’s time to move. It’s time to get down with it. Brothers it’s time to testitfy. I want to know, are you willing to testify? …“ [MC5 – Ramblin‘ Rose live, opening speech]

 

Kick out the Jams

Sehr seltsam, dass an diesem wunderschönen Morgen, an einem der seltsamsten Orte der Welt, beim Erwachen dieses Lied in meinem iPhone läuft. MC5. Ihr bekanntester Song Kick out the Jams beginnt mit dem unvergesslichen Aufruf Kick out the Jams, Motherfuckers. Lasst die Sau raus, ihr Motherfuckers! Genau. Einfach grossartig. Und stimmt auch heute noch. Diese Energie, diese Dynamik.

Die Quintessenz der 60-Jahre. Der wunderschönen, unvergesslichen Jahre. Als alles anders wurde.

Aber was erzähle ich da von längst vergangenen Zeiten. Ich bin hier in Jodhpur, ich sitze jetzt auf der Dachterrasse und geniesse ein exquisites Frühstück. Der Kopf ist noch schwer vom Schlaf, aber bereit für einen weiteren Tag in Rajasthan. Man sagt, dass chemische Prozesse im Hirn, physiologisch ausgelöst beispielsweise durch Anstrengung, den Eindruck hervorrufen, die Welt unterschiedlich wahrzunehmen. Der Himmel ist blauer, die Luft riecht frischer, eine eigentümliche Wonne strömt durch den Leib.

Vielleicht braucht es keine Anstrengung, keine Auszehrung durch Hunger und Durst, um diese Wonne hervorzurufen. Es genügt, an einem Morgen wie diesem vor dem Frühstück zu sitzen und zu träumen. Aber wie man weiss, hält die Wonne nicht an. Denn es gilt weiterzureisen. Nach Bikander am Rand der Wüste. Zur roten Stadt.

Eigentlich reut es mich an diesem wundervollen, klaren und würzig duftenden Morgen, schon wieder weiterziehen zu müssen. Aber Time is Running out! Im Hotel behauptet man, dass die Government Busse nach Bikaner stündlich fahren, also ist keine Eile angesagt.

Also noch ein letztes Mal durch die Gassen der blauen Stadt wandern. Übrigens kennzeichnet die Farbe Blau die Zugehörigkeit der Bewohner zur Kaste der Brahmanen, allerdings haben heute auch Nicht-Brahmanen diesen Brauch übernommen. Man sagt der Farbe nach, dass sie ein effektives Mittel zur Abwehr von Moskitos sei. Das scheint mir schon eher ein auf die heutige Zeit zutreffendes Merkmal zu sein. Mir scheint, dass es hier tatsächlich keine Moskitos gibt …

Dabei gäbe es noch soviel zu sehen. Zum Beispiel befindet sich nördlich des Forts der Jaswant Thada genannte Memorialbau für den im Jahr 1895 verstorbenen Maharaja Jaswant Singh II. Oder der Umaid-Bhavan-Palast, der zu den größten und eindrucksvollsten Palästen Rajasthans zählt. Und auch die drei Stufenbrunnen der Stadt. Und und und …

 

Breakfast in the Haveli
Frühstücksraum im Haveli

This way you ought to be able to take any breakfast
So müsste man jedes Frühstück einnehmen können

Alles, was es braucht

Ich gehe also langsam und einmal mehr mit dem Gefühl, in diesem Augenblick am absolut richtigen Ort zu sein, durch die geschäftigen Strassen, grüsse links und rechts, jetzt nicht mehr mit Julee sondern mit Namasté, und erhalte den einen oder anderen erstaunten Blick zurück.

Ein Fremder um diese Zeit an diesem Ort scheint doch eher eine Ausnahme zu sein. Man ist entspannt, plaudert, lacht, tauscht die neuesten Neuigkeiten aus. Diese Leute brauchen kein Facebook. Sie haben alles, was es braucht.

Ihre Zukunft steht allerdings in den Sternen. Das Klima in Jodhpur ist heiß und trocken (Wüstenklima); Regen fällt normalerweise nur in der Monsunzeit (Mitte Juni bis Mitte September). Die Klimakrise hat in weiten Teilen Indiens zu einer drastischen Verknappung des Trinkwassers geführt. Dies ist in besonderem Maße in Jodhpur spürbar. So gehört die Stadt zu jenen 21 bedeutenden indischen Städten, deren Grundwasserreserven nach Berechnungen der Regierungsagentur NITI Aayog im Jahr 2020 vollständig aufgezehrt sein werden.

Das sind düstere Aussichten. Und einmal mehr wird klar, wie sehr der Klimawandel Regionen trifft, die am allerwenigsten etwas dafür können.

 

Relaxed atmosphere
Entspannte Atmosphäre …
... along sacred buildings
… entlang heiliger Bauwerke

Nach einer Viertelstunde gelange ich zu einem grossen Platz, in dessen Zentrum der Clock Tower steht, ein Relikt aus alter britischer Herrschaft. Irgendwann lande ich in einem Grosshandelsgeschäft, der Inhaber zählt voller Stolz die vielen Abnehmer seiner wundervollen Stoffe in Europa auf. Während wir an einer Tasse Tee nippen, erzählt er mir voller Stolz von seinen geschäftlichen Erfolgen. Ich bin einmal mehr beeindruckt von der Geschäftstüchtigkeit der Leute.

Aber das ist kein Wunder, denn Jodhpur hat eine lange Vergangenheit als Handelsstadt. An einer belebten Handelsroute gelegen, die einst Delhi mit der Provinz Sindh verband, wurde die Stadt aus den Erträgen des Karawanenhandels mit Opium, Sandelholz, Datteln und Kupfer erbaut. Heute ist Jodhpur Sitz mehrerer Ausbildungsinstitutionen sowie Garnisonsstadt. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind die Möbel-, Metall- und Textilindustrie. Die meisten Menschen arbeiten jedoch als Kleingewerbetreibende, Handwerker, Händler sowie im Dienstleistungsgewerbe (Rikscha-Fahrer, Lastenträger etc.).

 

Clocktower in Jodhpur
Clocktower in Jodhpur
Business acumen Indian style
Geschäftstüchtigkeit nach indischer Art

Mit Pferderischka zum Busbahnhof

Schliesslich bringt mich eine Pferderikscha zum Busbahnhof. Der Kutscher hat mir vor der Abfahrt immer wieder die fünf Finger für 50 Rupien vor die Nase gehalten, damit ja kein Missverständnis über den zu bezahlenden Preis entstehen könnte. Ich gebe ihm schliesslich 100 Rupien, er muss mir allerdings versprechen, das zusätzliche Geld für das Pferd auszugeben …

 

Der Government Bus

Die Einsicht, dass man bestimmten Aussagen bezüglich Verfügbarkeit und Abfahrtstermine der Busse keinen Glauben schenken sollte, ist mir bekannt. Jede Stunde ein Bus?

Der Bus, dessen Motor eben gestartet wird, ist der letzte an diesem Tag nach Bikaner. Ich habe also wieder mal Glück gehabt. Es handet sich um einen typischen Government Bus, vor allem für die Einheimischen gedacht, und dies schlägt sich auch im Preis nieder. Ich bezahle 245 Rupien, umgerechnet also etwa 3.50, für gut sechs Stunden Fahrt.

Natürlich ist der Bus alt, in schlechtem Zustand, es gibt weder Aircon noch Ventilator, das heisse Lüftchen aus den offenen Fenstern muss genügen. So gefällt es mir. Keine Ahnung, warum ich mich in diesen grausligen Vehikeln so wohl fühle. Schon nach kurzer Zeit setzt sich ein junger Inder neben mich, stellt sich vor, und es beginnt eine dreistündige, äusserst unterhaltsame und informative Diskussion mit dem Schwerpunkt Indien. Erstaunlich, wieviel ich von diesem jungen Mann, knapp achtzehn Jahre alt, über sein Land erfahre, und einmal mehr muss ich eingestehen, dass ich eben immer noch nichts weiss und verstanden habe.

 

Krankenstation für Kühe

Nach der halben Strecke verabschiedet er sich, ich bleibe zurück, habe nun etwas mehr Zeit, die Aussicht zu geniessen, die vorbeiflitzende Halbwüste, wo Kamele, Kühe, Geissen nach Futter suchen. Irgendwann eine grosse mehrteilige offene Halle, wo es nichts als Kühe gibt. Offenbar ist dies eine Art Krankenstation für verletzte und kranke Tiere, die hier gepflegt und wieder aufgepäppelt werden. Wer hätte das gedacht. Die Finanziereung erfolgt über Spenden der Gläubigen, die nichts über ihre geliebten heiligen Rindviecher geben.

Und wieder einmal – wer Indien versteht, versteht die Welt.

 

Ein wahrhaft fürstliches Zimmer

Ein TukTuk bringt mich zu meinem Hotel, über elend grässliche Strassen, und hält vor dem Eingang eines wunderschönen uralten Palastes. Donnerwetter! Das ist mein Hotel? Es ist tatsächlich so, ich bin in einem ehemaligen Maharaja-Palast gelandet, werde in ein riesiges Zimmer voller Spiegel, kostbarer Sofas und Sessel und einem gigantischen Himmelbett geführt.

Princely bed
Das nenne ich mal ein Bett

Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache, denn weder mein momentanes Äusseres noch meine Kleider noch mein Gepäck entsprechen den üblichen Gepflogenheiten dieses Etablissements. Im riesigen Innenhof hat sich eine aus Deutschen und Schweizern gemischte Gruppe versammelt und lauscht den Erklärungen ihres Guides. 

Ich werde zum Gala-Dinner eingeladen, aber ich verzichte gerne darauf, und lasse mich von einem jungen Inder, der in der gleichen Gasse einen Laden betreibt, mit dem Töff in ein indisches Restaurant chauffieren, wo ich mir ein wunderbares Paneer Butter Masala genehmige …

Die organisierte Truppe hat sich frühmorgendlich bereits aus dem Staub gemacht, vermutlich zum nächsten, im Schnelldurchgang abzuspulenden Hotspot. Und so scheint es, als wäre ich der letzte und einzige Gast. Man fühlt sich fast ein bisschen verloren in dem riesigen Gebäude, in dem es ausser mir nur noch Generationen von Vögeln, die im Innenhof ihre Bleibe gefunden haben, und ein paar lautlos herumgeisternde Bedienstete gibt. Sehr seltsam.

 

Inmitten des Gestanks und der Hitze

Der Weg durch die Stadt, durch die verwinkelten Gassen. die in alle Richtungen gehen, manchmal auch nirgendwohin, ist eine anspruchsvolle Aufgabe für einen kompetenten Navigator, was ich allerdings nicht bin. Aber immerhin schaffe ich es irgendwie ins Zentrum der Stadt, also dort, wo es mir am besten gefällt, inmitten des grössten Trubels, dort, wo der Lärm, der Gestank und die Hitze am schlimmsten sind. Wo Kamele schwer beladene Wagen ziehen. Wo mindestens ebenso schwer beladenen und völlig überfüllte TukTuks ihren Weg durch das Getümel suchen.

 

Camel on Bikaner Street

TukTuk heavily loaded

Street scene in Bikaner - with camel

The usual hustle and bustle

Bikaner – am Rand der Wüste

Bikaner ist – wie sich schon bald zeigen sollte – keiner der touristischen Hotspots Rajasthans. Was zur Abwechslung sehr willkommen ist. Trotzdem wohnen hier beinahe 700’000 Einwohner, was auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen ist. Die Wüste Thar liegt südlich, aber ihre Nähe ist spürbar. Das Klima ist warm bis heiß und trocken; die für indische Verhältnisse außerordentlich geringe Regenmenge von unter 250 mm/Jahr fällt hauptsächlich während der sommerlichen Monsunzeit. Bikaner gehört wie Jodhpur zur den 21 bedeutenden indischen Städten, deren Grundwasserreserven im Jahr 2020 vollständig aufgezehrt sein werden.

Es ist wichtig, eine Stadt zu Fuss zu erkunden, und zwar nicht dort, wo die (normalen) Touristen hingehen, sondern dort, wo sich das wirkliche Leben abspielt. Dort, wo alle fünf Sinne angesprochen werden. Wo die Ohren dröhnen. Wo die Hitze das Gehirn unter dem Hut verdampft. Wo die Augen ununterbrochen von einem Eindruck zum anderen huschen. Erst dann kann man sie spüren, man erkennt, wie sie tickt, und kann dann beruhigt auf ein Transportmittel umsteigen.

Nur dann lernt man sie wirklich kennen. Man spürt ihren Puls, die durch die Strassen strömende Energie, das Leben in seiner vielfältigsten Art.

 

Ludwig XIV. und keine Touristen

Wie erwähnt, ich bin mit leichtem Gepäck unterwegs, und da mein Laundry-Service massiv Verspätung hat (oder haben mich die kichernden Frauen missverstanden?), bin ich gezwungen, die verschwitzten Kleider von gestern nochmals zu tragen. Ist mir zwar etwas unangenehm, aber ich mache es wie Ludwig XIV. und trage zur Feier des Tages etwas mehr Deo und Parfum (!?) auf, um den möglicherweise etwas strengen Geruch zu überdecken.

Da mir aber nicht selten ebensolche olfaktorischen Überfälle von allen Seiten in die Nase dringen, fühle ich mich nicht sonderlich schuldig. Schliesslich gehe ich nicht zu einem Date, sondern lediglich auf einen langen Spaziergang durch die Stadt und ev. zur nächsten Festung, die sich – wie sich herausstellen wird – nicht viel von allen anderen Festungen unterscheidet, die mir bisher untergekommen sind.

Nur, wo sind alle Touristen? Ich meine nicht die Selfies-verrückten indischen Touristen, sondern die Bleichgesichter, die mit den geröteten Wangen und den sonnenverbrannten Schenkeln und den unförmigen Hüten auf dem Kopf? Kein einziger auszumachen. Ich vermute stark, dass Bikaner nicht zu den bevorzugten Destinationen gehört.

Habe ich schon erwähnt, dass es heiss ist? Es ist heiss.

 

Und ein weiterer Palast – das Junagarh-Fort

Nach Jodhpur und seinem Meherangarh-Fort ist es für jeden weiteren Palast schwierig, sich dagegen behaupten zu können. Das Junagarh-Fort, aus Ziegelsteinen erbaut und mit rötlich-gelbem Sandstein, im Innern zum Teil auch mit weißem Marmor verkleidet, hat es tatsächlich schwer. Das Fort ist heute einer der am besten erhaltenen Rajputen-Paläste; es dient jedoch zu großen Teilen als Museum.

Filigrane, manchmal etwas kitschig wirkende Holz-, Lack- und Stuckarbeiten mit Spiegel- und Glaseinlagen sowie Wandmalereien schmücken die Innenräume.

 

Junagarh-Fort
Das Junagarh-Fort

Inner courtyard

richly decorated

Wealth from ancient times

Guardian?

View to outside

kitschy little tower

and a marzipan tower

Courtyard

Safran und andere Gewürze

Am Abend dann – in frischen Kleidern, geduscht und geföhnt  – lasse ich mich von meinem indischen Permanent-Begleiter doch noch zu einem Besuch des Spice-Marktes überreden (was ich eigentlich gar nicht will, aber die Strategien der Jungs sind so clever und verfeinert, dass man sie zwar erkennt, aber trotzdem wissentlich in die Falle tappt).

 

Any kind of spice
Jede Art Gewürz

Ich kaufe also überteuerten Safran (bei einem Freund meines Freundes), lasse mich mit einem überteuerten TukTuk (ein anderer Freund meines Freundes) in ein billiges Restaurant (kein Freund meines Freundes?) chauffieren und kaufe schliesslich überteuerte kleine Ganesh-Figuren (beim Bruder meines Freundes). Und das alles im vollen Wissen, wie der Hase läuft. Andererseits sind die Kosten immer noch verkraftbar, und manchmal muss man derart offensichtlichen Talenten den Tribut zollen, ohne dabei dauernd an das eigene Portemonnaie zu denken.

Also letzte Maharaja-Nacht. Ich habe mich erkundigt, und die Wahrnehmung hat sich bestätigt: ich bin tatsächlich der einzige Gast. Ich komme mir vor wie Van Helsing bei Graf Dracula in seinem Schloss in den Karpaten. Vielleicht geistert hier irgendwo die verwunschene Seele eines längst verblichenen Maharajas herum und sucht Erlösung (aber nicht bei einem ahnungslosen Schweizer Touristen, der nur ganz zufällig hier gelandet ist). Mir egal, die Nacht ist still und klar und heiss wie der Teufel …

 

PS Song zum Thema:  James Brown – Body Heat

Und hier geht die Reise weiter … nach Jaipur

 

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