Der Ruf des Muezzin weckt aus tiefem Schlaf, man kriecht empor aus dem Schlamm der Bewusstlosigkeit. Die erste Nacht in einem fremden Land. Irritierend, irgendwie surreal. Vögel begrüssen den Morgen jubilierend, ich hoffe für sie, dass es etwas zum Jubilieren gibt.

Später besteigen wir frohgemut eines der wartenden Gaudis (der Gaudi? das Gaudi?) und lassen uns durch die Stadt kutschieren. Die Sinne offen, lassen wir die fremden Aromen, Bilder, Geräusche der Stadt auf uns wirken. Eigentlich ist alles braun. Die Häuser. Die Strassen, die Gassen, die Hinterhöfe. Der Staub, der alles bedeckt. Monochromatisch.

Aber da sind Farben. Überraschend und doch wieder nicht. Denn der lokale Handel hat sich an die Nachfrage der Touristen angepasst.

Wandelnde Afghanmäntel

An allen Ecken und Enden laden kleinere und grössere Läden zum Eintreten, zum Shoppen, zum Feilschen. Ihr Angebot aus lokaler Kunstfertigkeit, manches heutig, anderes aus tiefster Vergangenheit,  lässt sich perfekt mit dem Geschmack der jungen Touristen koordinieren: Felldecken, Teppiche, Schmuck, alte Waffen und andere Antiquitäten, Stiefel und natürlich Afghanmäntel in unübersehbarer Menge und Qualität.

Unsere Reisegefährten, offenbar voller Respekt vor der zu erwartenden Kälte in den nördlichen Gefilden des Landes, lassen sich überreden und kleiden sich ein. Man könnte meinen, dass wir einen Auflug in die Arkis machen.

Es handelt sich nach erfolgtem Handel ohne Übertreibung um sechs währschafte wandelnde Afghanmäntel. Sie fallen allerdings nicht gross auf, denn jeder zweite Tourist sieht genauso aus.

Es könnte gut sein, dass sich ihre Vorsicht auszahlt, denn die frostigen Nächte in Kabul, von denen Heimkehrer raunen, könnten noch einige ungute Überraschungen bereiten.

Wir werden sehen. Aber es sieht auf jeden Fall schön aus, wenn auch etwas gewöhnungsbedürftig.

Türme und Moscheen

Eine leichte Brise weht, als wir uns den wirklichen Sehenswürdigkeiten der Stadt nähern. Manchmal hat man den Eindruck, dass es Dinge jenseits der profanen Wirklichkeit gibt. Es gibt Kunstwerke und Kunstwerke, diese hier gehören in die Kategorie ewiger Hinterlassenschaften menschlicher Kreativität.

Nur schon die Aussenmauern der Moschee sind eine Augenweide, und man fragt sich, welche Künstler hier am Werk gewesen sind. Das Auge kann sich kaum sattsehen, und immer wieder taucht die Überlegung auf, wie sehr sich diese Kunstwerke vom profanen Alltag der heutigen Zeit unterscheiden.

Aber so stehen wir halt da, staunend und mit offenem Mund, können kaum glauben, was die islamische Kunst der Welt hinterlassen hat.

 

 

Die Fremden sind Gäste

Etwas fällt sofort auf – im Gegensatz zu vielen Iranern sind die Einheimischen in Herat freundlich und zurückhaltend. Es scheint, dass Ehre und Tradition verlangen, die Fremden, auch wenn sie noch so seltsam erscheinen, als Gäste zu behandeln.

Aber vielleicht ist die Wirklichkeit viel profaner: sie interessieren sich schlichtweg nicht die Bohne für das seltsame Volk, das mehr durch Zufall in ihrer Stadt aufgetaucht ist. Also beachtet man sie gar nicht, ausser man will ein Geschäft mit ihnen machen. Und davon gibt es einige.

Darunter auch das Geschäft mit dem Geld.

Bankbeamte und andere Schlitzohren

Die Freundlichkeit und Zurückhaltung gilt allerdings nicht überall. Zum Beispiel dann, wenn unbedarfte Ausländer, denen man offenbar jede Intelligenz abspricht, vor dem Bankschalter stehen und Geld wechseln möchten.

Man betritt also als Kunde eine Bank, um Dollars in Afghanis zu wechseln. An sich eine einfache Geschichte, die man kennt. Nicht so hier in Herat (und sämtlichen zukünftigen Orten in diesem Land ebenfalls). Der Beamte, mit abweisendem grimmigem Gesichtsausdruck, als hätte er etwas Schlechtes gegessen, rechnet den entsprechenden Betrag aus und zählt die Scheine in Afghani auf den Tresen.

Während der Wartezeit – die Warteschlange ist lang – hat man Gelegenheit, seine Tricks zu beobachten, die zwar plumper nicht sein könnten, aber trotzdem funktionieren. Beim Herauszählen irrt er sich und zwar immer zu seinen Gunsten.

Eigentlich ist die Lösung ganz einfach. Man nimmt das Paket Noten – es sind viele – entgegen und zählt sie vor den Augen des Beamten nochmals durch, ganz langsam natürlich. Die ärgerlichen Blicke des Bankbeamten sagen alles. Denn der Betrag stimmt nicht. Es fehlen Noten, nicht viele, aber trotzdem.

Man gibt also das Bündel Noten zurück, er zählt grimmig ein zweites Mal, legt ein paar Noten hinzu. Und diesmal stimmt es. Zumindest fast. Aber der Sieg ist so überwältigend, dass man grosszügig über den kleinen Betrag, der immer noch fehlt, hinwegsieht und sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen kann.

Soviel zu diesen unnötigen Kleinkriegen. Man muss sie mitmachen, ob man will oder nicht.

Feilschen und Tee trinken

Aber schliesslich sind wir hier im Orient, wo kein Produkt, und sei es nur eine Handvoll Äpfel, keine Dienstleistung, einen festen Preis hat. Wo alles und jedes zuerst ausgehandelt werden muss. Und damit muss man sich als Europäer, gewohnt an feste Regeln und Preise, zuerst anfreunden. Auf jeden Fall dauert es seine Zeit, bis man die innere Blockade überwindet und selbst zum professionellen Feilscher wird.

Natürlich sind auch die Strassenhändler Schlitzohren, die sich niemals eine Gelegenheit entgehen lassen, einen Kunden übers Ohr zu hauen. Doch das geschieht mit einer gewissen verschmitzten Lässigkeit.

Und so findet man sich plötzlich auf dem Boden sitzend und Tee trinkend, während der orientalische Teppichhandel in die nächste Phase geht. Wenn die Händler nämlich merken, dass man ein harter Verhandlungspartner ist und nicht den erstbesten, viel zu hoch angesetzten Preis akzeptiert, dann beginnt das wirkliche Spiel, dessen Ausgang von Anfang an klar ist.

Das schlaue Grinsen im Gesicht zeigt, dass am Ende zwar immer der Händler gewinnt, man dem Kunden aber den Anschein vermitteln will, dass er gewonnen hat. Schliesslich soll er wiederkommen.

Dem sagt man wahrscheinlich die Psychologie der alltäglichen Wirklichkeit.

So geht der Tag vorüber, man möchte bleiben, eintauchen in die Seele dieses seltsamen Ortes, der soviel auslöst. Aber wir müssen weiter, bis Kabul sind es über 1000 Kilometer durch Wüste und Einöde. Immerhin tröstet uns der Gedanke, dass wir uns auf dem Heimweg wiedersehen werden.

 

Song von 1974: Stevie Wonder – Living for the City

Und hier geht der Trail weiter … nach Kandahar

 

Ähnliche Beiträge

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.