Mark Twain behauptete in seiner unnachahmlichen Art: „Man merkt erst auf Auslandreisen, was für ein Trottel man ist.“
Die Unbedarftheit und Ignoranz der meisten Indienfahrer, was im Besonderen auch uns betrifft, ist nichts Neues. Im besten Fall kann es unserer Jugend und der Unbekümmertheit zugerechnet werden.
Man fährt so dahin, rechts und links des Weges liegen unbekannte Welten, die man nicht kennt und zum grossen Teil gar nicht versteht. Man lernt neue Lebenswelten kennen, Mentalitäten, die nicht nur fremd, sondern gelegentlich ausgeprochen beängstigend sind.
So wie hier in Maschhad, der heiligen Stadt. Von der wir keine Ahnung haben. Aber das werden wir nachholen.
Kalte Nächte und herrenlose Hunde
Aber bevor wir uns der unbekannten Stadt und ihrer Highlights annehmen, gilt es zum ersten Mal echt kalte Nächte zu überstehen. Hier im äussersten Nordosten des Landes herrscht ein typisches Kontinentalklima – am Tag bis zu 30 Grad heiss, in der Nacht nahe am Nullpunkt.
Auf jeden Fall sind wir froh um unsere guten Schlafsäcke (wenigstens etwas, was bei der Vorbereitung nicht vergessen wurde). Wir kuscheln uns bis zur Nasenspitze unter die schützende Decke und finden es in unserem temporären Zuhause fast wie bei Mutter zuhause.
Das erinnert mich doch glatt an eine unvergessliche Reise, die Jahre später stattfinden wird, aber wie man weiss, wird der Samen für spätere Unternehmungen viel früher gelegt. Wie beispielsweise jetzt, auf unserem Trip nach Indien.
Wie schon Buddha sagte, alles, was auf der Welt geschieht, ist eine Folge von Ursache und Wirkung. In den meisten Fällen nicht auf Anhieb erkennbar.
Was die herrenlosen Hunde betrifft – sie sind auch hier an jeder Ecke zu finden. Grosse Viecher mit struppigem Fell und hungrigen Augen. Ihr besonderer Liebling ist schnell erkoren: Roli schwingt sich um Nu zu einem Wohltäter in Sachen Verköstigung vernachlässigter Tiere auf.
Ein rollendes Hotel
Gegen Abend kommt Leben in die Bude. Ein riesiger roter Bus, mit ebenso grossem Anhänger mit herzigen kleinen Bullaugen, parkiert neben unserem Standplatz. Es handelt sich ganz klar um ein Exemplar der bekannten und nicht minder berüchtigten rollenden Hotels der Firma Rotel Tours.
Von nun an ist für Unterhaltung gesorgt.

In den nächsten Minuten entleert sich aus dem Bus ein scheinbar endloser Strom von Menschen, älteren und jüngeren, alle aus unserem nördlichen Nachbarland, alle mit erschöpftem und etwas leidendem Ausdruck in den Gesichtern.
Man hat den Eindruck, dass sie aus der ersten Stufe der Vorhölle entronnen sind, denn als erstes wird die Toilette besetzt, und man fragt sich, ob auf solche Einrichtungen aus Platzgründen verzichtet worden ist.
Anfänglich sehen wir dem Besuch mit Skepsis entgegen, er entwickelt sich jedoch schnell in eine Abendunterhaltung der besonderen Art.
Denn nun vollzieht sich unter unseren staunenden Augen ein Musterbeispiel teutonischen Organisationstalents.
Alles huscht hin und her, in Windeseile wird eine Küche installiert, ganze Berge von Konservendosen bereitgestellt, Tische und Stühle erscheinen wie von Zauberhand aus den dunklen Innereien des Busses. Und es dauert tatsächlich nur eine knappe halbe Stunde bis die ersten hungrigen Gäste mit Teller und Tasse auf ihr Abendbrot warten.
Respekt!
Den krönenden Höhepunkt unserer Unterhaltung bilden jedoch die Auseinandersetzungen zwischen den älteren und den jüngeren Reisenden. Während die älteren Herrschaften (etwas muffig, mit heruntergezogenen Mindwinkeln) auf Respekt und Anstand pochen, entsprechen die jüngeren mit ihren frischen Gesichtern eher dem Gegenentwurf zu den spiessigen Mitfahrern (wobei man sich fragen muss, was diese Jungen ausgerechnet zu dieser Art des Reisens gebracht hat).
Man stellt sich lieber nicht vor, wie die lange Reise unter diesen mühsamen Bedingungen abläuft. Und wenn man dazu an die Schlafplätze (zu jedem Bullauge ein Bett oder was Ähnliches) denkt, werden Albträume erst richtig beängstigend. Da werden Erinnerungen an MRI-Röhren wach.
Zumindest sind sie sich bezüglich der anderen Campingbewohner einig. Man flüstert sich mit abschätzigen Blicken böse Worte zu. „Zigeuner. Hippies. Ungewaschene Leute. Mit sowas müssen wir uns abfinden.“
Immerhin beruhigt sich nach dem wohlverdienten Abendbrot die Stimmung, denn jetzt folgt deutsche Gemütlichkeit mit Gesang und Musik.
Zentralasien kommt näher
Auf den Strassen der Stadt, deren Eroberung wir am nächsten Tag angehen, begegnet man zum ersten Mal nun anderen ethnischen Gruppen. Im Gegensatz zu den Persern und Arabern (man hüte sich davor, die Perser als Araber zu bezeichnen, das zieht sich bis in unsere Tage hin) weisen diese mongolische Züge auf oder profaner ausgedrückt, sie haben Schlitzaugen.
Die Nähe Afghanistans und Turkmenistans macht sich zum ersten Mal bemerkbar. Sie sind uns auf den ersten Blick sympathisch, denn sie strahlen etwas aus, was den Einheimischen abgeht – eine eigene Würde, eine entspannte Gelassenheit.
Es macht die Vorfreude auf die nächsten Wochen noch grösser.
Der Imam-Reza-Schrein
Nicht überraschend, dass Maschhad an Schönheit und Sehenswürdigkeiten die Hauptstadt Teheran bei weitem übertrifft.
Insbesondere das Heiligtum mit den goldenen Kuppeln, der Imam-Reza-Schrein, der heilige Schrein des achten schiitischen Imams Reza, stellt einen unvergleichlichen Höhepunkt in architektonischer wie auch kultureller Hinsicht dar. Es ist die einzige Grabstätte eines schiitischen Imams auf iranischem Boden.
Er beherbergt des Weiteren die Goharschad-Moschee, ein Museum, eine Bibliothek, vier Seminare, einen Friedhof, die Razavi-Universität für islamische Wissenschaften, einen Speisesaal für Pilger, große Gebetshallen sowie weitere Gebäude (Wiki).

Folgt man der Geschichte des Heiligtums, wird man über eine Kaskade von Opfertod und Märtyrern, von Verwüstungen, Wiederinstandsetzung, Kriegen, Zerstörung, Erdbeben und Bombardierungen geführt. Es ist eine Geschichte, die sich andernorst ähnlich abgespielt hat. Immer geht es um Macht und Religion (was dasselbe ist), um Einfluss und unterschiedliche Moralvorstellungen.
Aber eben, aus all diesen Verrücktheiten und Tragödien ist dieses Wunderwerk entstanden. Wie heisst es im „Dritten Mann“?
„Denk dran, was Mussolini gesagt hat: In den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe. 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr.„
Filmzitate Datenbank
Museen, Schleier und ein Schlepper
Es ist nicht überraschend, dass der innere Bereich nur durch Moslems betreten werden darf. Unsere hilflosen Versuche, es trotzdem zu tun, wird durch herbeieilende Wächter schnell unterbunden (natürlich haben sie recht, man erinnere sich an Mark Twain).
Und es ist auch nicht erstaunlich, dass der Zugang für Frauen absolut tabu ist. Unsere Damen benötigen sogar für den Durchgang durch den Hof, der zum Museum führt, einen Schleier. Ein Mann eilt flugs herbei, ein paar Schleier in der Hand, die er bereitwillig zur Verfügung stellt. Und so schaffen wir den Besuch des Museums doch noch.
Viel ist allerdings nicht zu sehen, immerhin erfreuen wir uns an den grossartigen Mosaikwänden. Da wäre natürlich zu erwähnen, dass zur Zeit, als diese Kunstwerke entstanden, sich unser Europa noch in der tiefsten Dunkelheit des Mittelalters befand. Tja, Reisen bildet, wie man so schön sagt, und bringt gelegentlich ein paar feste eurozentrische Überzeugungen ins Wanken.





Tschelo Kabāb
Der Herr mit den Schleiern hat uns nicht vergessen, wie könnte er auch, schliesslich hat er uns einen Dienst erwiesen, der nun beglichen werden sollte. Wir haben es also mit einem waschechten Schlepper zu tun, was mich wiederum an ähnliche Gegebenheiten erinnert.
Er erwartet heute ein paar grosse Geschäfte, allerdings müssen wir ihn enttäuschen. Wir wollen weder Geld wechseln noch Teppiche kaufen, aber wir haben nach den anstrengenden Besuchen Hunger. Immerhin kann er uns nun zu einem Kellerrestaurant führen (wo er sicher eine ansprechende Provision erhalten wird), und so kommen wir endlich zum ersehnten Tschelo Kabāb, dem iranischen Nationalgericht.
Es ist mit Abstand das beste Essen, was wir seit Wochen gekostet haben.
Passender Song von 1974: The Allman Brothers – Ramblin‘ Man
Und hier geht der Trail weiter … in Richtung Afghanistan