Der Morgen am Kaspischen Meer zeigt sich in seinem besten Gewand, schon beinahe sonntäglich.

Es kann vortrefflich gefaulenzt werden. Das Wetter ist warm und von würziger Klarheit (falls es sowas überhaupt gibt, aber offenbar verführt der blaue Himmel über dem blauen Meer wieder mal zu allerlei poetischem Unsinn).

Und übrigens – der zweite orange Bus ist doch noch eingetroffen, offenbar hat das Elbursgebirge soviel Neugierde bewirkt, dass eine ungeplante Übernachtung am Strassenrand nicht vermieden werden konnte.

 

Faulenzen in Chalous

Wir campieren in der Nähe des Ufers, ein Zaun verstellt den Weg zum Strand, der Boden ist steinig, man fragt sich, was sich hier normalerweise abspielt. Ist es ein Badestrand? Ein ungenützter Platz, den niemanden interessiert? Wer weiss, auf jeden Fall sind wir recht glücklich über die Umgebung, und da wir ja nicht baden wollen, sind uns die Steine ziemlich egal.

 

The Caspian Sea welcomes us with perfect weather
So kann man es aushalten – Strand, Meer, Sonne

Wir sind also in Chalous (oder Tschalus oder Chalus), einem Dorf am Kaspischen Meer, wunderbar gelegen, man kann es hier tatsächlich aushalten. Damals tatsächlich noch ein Dorf, etwas ärmlich, alles andere als eine Destination für Touristen. Aber das sind wir ja auch nicht. Ausser ein paar verlausten Hippies auf dem Weg nach Indien gibt es selten Besucher.

 

Tschalus at the Caspian Sea  Tschalus Iran

Chalous am Kaspischen Meer – damals ein Dorf, heute eine mittelgrosse Stadt (CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=868156)

Otto

Heute sieht die Sache allerdings etwas anders aus. Aus dem Dorf ist eine Stadt geworden, knapp 50’000 Einwohner, und es hat tatsächlich einen touristischen Hotspot, ein Erholungsgebiet namens Namakābrūd, Tourist City genannt. Und he, es gibt sogar zwei Seilbahnen, die auf einen Berg hinaufführen.

Alles undenkbar im Jahr 1974.

Immerhin haben wir in Gestalt eines schmutzigen schwarzen Hundes Gesellschaft erhalten, wir nennen ihn Otto. Nicht, dass wir seine besondere Sympathie erweckt haben, er wird bei uns ganz einfach nicht geschlagen, dafür ausgiebig gefüttert. Roli beweist zum ersten Mal sein überaus grossherziges Herz für Tiere, vor allem herrenlose Hunde. Nicht überraschend, dass Otto nach kurzer Zeit so zutraulich wird, dass er uns (vor allem Roli) nicht mehr von der Seite weicht.

Es gibt allerdings ein kleines Problem: in Abwesenheit von Toiletten muss man sich bei gewissen Bedürfnissen in die Büsche schlagen, was natürlich Ottos Neugier weckt. Es gilt also, vor dem Gang hinter die Büsche allerlei Ablenkungsmassnahmen zu treffen, die erfolgreich sind – oder auch nicht.

 

Steine fliegen

Die Dorfjugend hat entdeckt, dass da ein paar seltsame Ausländer am Ufer des Meeres campieren. Wir stehen nun sozusagen im Schaufenster, man beobachtet uns aus der Ferne, doch niemand wagt es, näher zu kommen.

Es dauert nur bis zum Einbruch der Dunkelheit bis die ersten Steine fliegen. Das, was wir eigentlich in der Osttürkei erwartet haben, findet nun also hier statt. Nun denn, etwas Bewegung tut gut nach all den Stunden im Auto, und so erweist sich ein sportlicher Hundert-Meter-Lauf als das, was es braucht, um die unwillkommenen Störenfriede in die Flucht zu schlagen. Es ist allerdings kein Anlass sich zu ärgern, in unserem Alter hätten wir die Langeweile genauso bekämpft.

 

Ein Pillendreher und das Glasperlenspiel

Die vor uns liegende lange und wahrscheinlich mühsame Strecke bis Maschad und anschliessend durch Afghanistan verlockt natürlich zu Musse, zu Faulenzen, zu allem, was man so macht, wenn man Zeit und keine Eile hat.

Und so geht ein weiterer Tag dahin, nichts Besonderes, nichts Erwähnenswertes, ein bisschen spazieren dem Meer entlang, meistens aber vor allem schwatzen und Kaffee trinken, sich noch besser kennenlernen. Wir fahren ins Dorf, füllen unsere Vorräte auf, denn bis Maschad wird es nicht viele Gelegenheiten dafür geben.

Von Tashkoskim - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0,
Von Tashkoskim – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0,

Hermann Hesse - Das GlasperlenspielEs braucht wenig, um uns abzulenken. Zum Beispiel durch ein seltsames Tier, das durch den Sand kriecht und eine Mistkugel vor sich her rollt. Es handelt sich um einen sogenannten Pillendreher, also einen waschechten Skarabäus.

Ich zitiere aus Wikipedia:

Sie ernähren sich vom Kot pflanzenfressender Säugetiere und werden deshalb auch Koprophagen (Kotfresser) genannt. Nach der Paarung formt der Käfer eine Kugel aus Dung, die seine Körpermasse oft um ein Vielfaches übertrifft. Diese Kugel klemmt er dann zwischen seine Hinterbeine und rollt sie rückwärts laufend vor sich her, bis er eine geeignete Stelle findet und die Kugel mit Hilfe von Kopf und Vorderbeinen im Boden vergräbt. Das Weibchen legt die Eier dann an die vergrabene Kotkugel, von der sich die Larven später ernähren.

Der Pillendreher galt im Alten Ägypten als Symbol für die Auferstehung und für den Kreislauf der Sonne. Den Toten gab man Skarabäen, kleine Käferamulette, als Grabbeigabe zum Schutz im Jenseits mit, aber auch Lebende trugen Skarabäen als Schmuck.

Also, auch Faulenzer haben dazwischen ihre fünfzehn intelligenten Minuten, diese sind dem heiligen Käfer gewidmet. Wir wünschen seinen Nachkommen auf jeden Fall guten Appetit.

Da die Käfer aber nicht den Tag füllen, versuchen wir anderweitig etwas für den Geist zu tun, in meinem Fall mit Hermann Hesse und seinem Glasperlenspiel. Die Reisebücher sind auf jeder Reise die Kirsche auf dem Dessert, unverzichtbar in langen Nächten, langweiligen Bus- oder Bahnfahrten.

Josef Knecht hat es im altehrwürdigen Orden Kastalien bis zum angesehenen Magister Ludi, zum Meister des Glasperlenspiels, gebracht. Dieses Spiel vereint in sich das Wissen und die Künste der ganzen Welt. Wir begleiten den jungen, hochbegabten Waisenknaben Josef Knecht auf seiner Laufbahn durch alle Stufen der Ordenshierarchie bis zu dem Punkt, an dem in ihm eine weitreichende Erkenntnis reift…

Ich muss gestehen, dass der Roman viele Jahre auf meinem persönlichen Kanon gelegen hat, ich allerdings bis zum Schluss nicht kapiert habe, wie dieses seltsame Spiel funktionieren soll. Egal. Heute ist die Hesse-Euphorie verflogen, man ist älter geworden, die Zeit des Steppenwolfs gehört zu den jüngeren Jahrgängen.

 

Der Nachthimmel über dem Kaspischen Meer

Bevor es am nächsten Morgen losgeht, bewundern wir noch ein letztes Mal den Sternenhimmel über dem Kaspischen Meer. Jetzt erst kann man erkennen, was uns durch die Lichtverschmutzung in unseren Breitengraden entgeht.

Angesichts dieses funkelnden endlosen Meers von Sternen fühlt man mit einem Mal seine eigene Zwergennatur. Wir sind nichts, buchstäblich weniger als ein winziges Staubkorn im Universum. All das, was da oben scheint und vermutlich längst verloschen ist, ist die wahre Welt, während wir auf unserer seltsamen blauen Kugel an unsere Besonderheit glauben. Nichts könnte weniger wahr sein, nichts könnte drastischer beweisen, dass wir vernachlässigbar sind. Da oben, in unserer Milchstrasse, unserer eigenen Galaxie, schwirren Milliarden von Sonnen, von Planeten, von anderen Fels- und Staubkörpern umher, und das ist nur eine Galaxie von weiteren Milliarden.

Da kann man schon sehr klein und sehr demütig werden.

Wir verrenken also unsere Hälse, werden ganz still und leise, betrachten die Pracht des Universums und gehen beschenkt ins Bett.

 

Passender Song: Dolly Parton – Jolene

Und hier geht der Trip weiter … in Richtung Maschad im Osten des Irans

 

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