Dunkelheit über der Welt, ich bin in Trivandrum angekommen, früher als erwartet, noch ganz schwer und verschlafen. Die indischen Züge sind immer wieder für eine Überraschung gut. Hier ist Endstation auf der Fahrt in den Süden, mindestens was die Reise per Zug anbetrifft. Ab hier gibt es nur noch Busse.

Und so stehe ich mit Sack und Pack auf dem Bahnhof, es ist knapp fünf Uhr morgens, und ich versuche mich zu orientieren. Gemäss Führer müsste unweit des Bahnhofs auch der Busbahnhof sein (was er auch ist), und ebenso nahe müsste ein Restaurant bzw. Café sein, wo man frühstücken können müsste.

 

Auf der Suche nach einem Restaurant

Nichts von alledem. Ich irre mit dem ganzen Gepäck durch schlecht beleuchtete, allerdings gar nicht menschenleere Strassen und finde heraus, dass ich zu früh bin und die besagten Adressen geschlossen sind.

Bahnhofbuffet
Kein angenehmer Ort für Frühaufsteher

Aber immerhin – es gibt ein geöffnetes Bahnhof-Restaurant, das mir ob der Neon-beleuchteten Atmosphäre jeglichen Hunger nimmt. Der seltsam aussehende und merkwürdig riechende Milchkaffee bleibt stehen.

Schliesslich finde ich ein winzig kleines Restaurant von ungefähr vier Quadratmetern, wo ich etwas Weisses, Undefinierbares esse und dazu Mineralwasser trinke. Aber das, was ich mir am meisten wünsche, ein Kaffee, bleibt mir vorenthalten.

Das Lokal ist aber wunderbar indisch und sehr einheimisch. Man sieht kaum die Hand vor den Augen, was angesichts des undefinierbaren Essens wahrscheinlich gar nicht schlecht ist. Ich kann mich dem Charme nicht entziehen, verzichte aber aus Höflichkeit darauf, Fotos zu schiessen. Eigentlich schade, denn die frühmorgendliche Zeit spült eine Menge unterschiedlicher Leute herein. Ich bin als Ausländer natürlich ein Aussenseiter und werde heimlich, aber intensiv begutachtet.

 

Trivandrum erwacht

Während sich die Dunkelheit leise davonschleicht, erwacht die Stadt zum Leben. Der Markt öffnet seine nicht vorhandenen Pforten, erste Kunden wühlen sich durch das Angebot, das Stimmengewirr wird lauter.

Endlich geht was.

Ich – immer noch mit Rucksack und allem – schlendere durch die Strassen. Ich beobachte gespannt, welche Mechanismen sich einstellen, angefangen bei den TukTus, die sich mit röhrendem Motor einreihen, bei den Shops, die einer nach dem anderen ihre Türen öffnen und die ersten Kunden durch die Eingänge verschwinden.

Alles ist anders und trotzdem auf seltsame Weise bekannt.

 

TukTuks waiting for passengers  Slow transition to day

 

Südwärts

Dann endlich finde ich heraus, an welcher Stelle der Bus nach Kanyakumari abfährt. Allerdings gilt es bis Acht zu warten, denn erst dann wird der Local Bus auftauchen. Und tatsächlich, da ist er, pünktlich wie die indische Eisenbahn. Ich setze mich wie gewohnt ganz hinten hin. Da die Nachfrage nach den hintersten Plätzen mehr als beschränkt ist (man wird je nach Instandhaltung der Federung hin und her geworfen), besteht immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es genügend Platz hat.

 

Local Bus
Local Bus Richtung Süden

 

Höllenritt und Höllenspass

Die Fahrt dauert über drei Stunden, ein Höllenritt wie gewohnt, in rasendem Tempo zwischen Fussgängern und Velos und Hunden und Kühen und Kindern hindurch. Der Bus weicht mit röhrendem Getöse andern Autos und Bussen und Lastwagen knapp aus. Knapp bedeutet im besten Fall ein paar Zentimeter, im schlimmsten Fall ein paar Millimeter. Aber es macht – falls man imstande ist, das Risiko eines mörderischen Crashs auszublenden – einen Höllenspass.

Auch abgesehen vom Risiko, als eines der Millionen Opfer des Strassenverkehrs in die Annalen einzugehen, ist es eine mehr als unterhaltsame Fahrt durch Keralas Süden.

 

From Trivandrum to Kanyakumari
Von Trivandrum nach Kanyakumari

 

Kerala

Übrigens, der Bundesstaat Kerala ist nicht nur seiner wunderbaren Strände berühmt, sondern auch wegen der politischen Lage. Seit 1962 wechselten sich – bis auf kurze Phasen der President’s rule – die Communist Party of India (Marxist) und der Indische Nationalkongress an der Regierungsspitze ab.

Hinsichtlich der sozialen Entwicklungsindikatoren (Alphabetisierungsgrad, gesellschaftliche Stellung der Frau, wirtschaftliche Entwicklung, Kontrolle des Bevölkerungswachstums) belegt Kerala einen der Spitzenplätze unter den indischen Bundesstaaten.

Die unmittelbare Auswirkung ist fatal: weil die properierenden indischen Unternehmen den Einfluss der Politik fürchten, meiden sie Investitionen in den Bundesstaat. Dies führt wiederum dazu, dass die gut ausgebildeten Bürger, d.h. mehrheitlich junge Männer, dazu gezwungen werden, im Ausland zu arbeiten, wo sie zum Teil ausgebeutet werden.

 

Kanyakumari

Bedauerlicherweise erreichen wir schon gegen Mittag Kanyakumari, den südlichsten Punkt des indischen Subkontinents. Ich hätte es noch stundenlang ausgehalten.

Das im Führer vorgeschlagene Hotel ist mehr als nur fragwürdig. Erstens muss ich jedes Mal fünf Stockwerke hoch steigen (immerhin etwas sportliche Betätigung). Zweitens gibt es nur ein asiatisches Steh-WC, wo es mir zum Leidwesen meiner Geruchsnerven nicht gelingt, die Spülung richtig zu betätigen. Aber was soll’s, morgen bin ich weg.

 

Ein seltsamer Ort

Das Städtchen hat mit Sicherheit schon bessere, ruhigere Zeiten erlebt. Die Tatsache, dass es neben der geographischen Lage auch noch ein hinduistisches Heiligtum und ein sehr sonderbares Gebäude zu Ehren Gandhis, dessen Asche hier im Meer verstreut wurde, beherbergt, hat eine Jahrmarkt-artige Atmosphäre hervorgebracht.

 

Chewing gum? Marzipan? Gandhi would have turned in his grave  Sellers and buyers

Marzipan? Kaugummi? Man weiss es nicht genau. Auf jeden Fall eine ziemlich missratene Huldigung an den grossen Gandhi. Aber schliesslich sind wir in Indien, da ist alles zulässig und auf seine eigene Weise wunderbar verrückt, wie das ganze Land.

 

Looks tasty  Smells awesome

Überall stehen Stände, es wird eine Unmenge an undefinierbaren Dingen angeboten, es wimmelt von Pilgern, von Sadhus und andern heiligen Leuten und zahlreichen, vor allem indischen Touristen.

 

Tea & Coffee Bar  Waiting for customers

 

Der Fischerhafen

Ich lasse mich treiben, atme die spezielle Atmosphäre ein und versuche, nichts zu denken. Ich habe dauernd Hunger und finde trotzdem nichts, was mir zusagt oder was mir unbedenklich scheint.

Es gibt einen wirklich schönen Fischerhafen, wo die Fischer gemächlich ihre Netze flicken, ein langer Steindamm führt weit ins Meer hinaus (wo ist nun der südlichste Punkt, hier oder doch weiter westlich, wo die beiden winzigen Inseln mit weiteren Heiligtümern liegen?).

 

Fishermen at work (some just watching)  Colored boats and white church

Habe ich behauptet, dass Indien farbig ist, wie kein anderes Land auf der Welt? Wenn es noch einen Beweis dafür braucht, hier ist er.

 

On the way to work (or returning?)

 

Wo sich zwei Meere treffen

Eigentlich möchte ich ja die Füsse ins Wasser tauchen, den rechten ins Arabische Meer, den linken in den Golf von Bengalen, ich kann aber die richtige Stelle nicht finden. Auch gut. Übrigens befindet sich auf der einen der beiden Inseln eine riesige Statue, die mich an die beiden am Strom liegenden Figuren aus „Lord of the Rings“ erinnert. Boote fahren unermüdlich hin und her, bringen indische Touristen zu den Heiligtümern und wieder zurück.

Ich kann mich irgendwie nicht so recht damit anfreunden, aber wahrscheinlich fehlt mir schlicht der religiöse Kontext, um die Bedeutung erkennen zu können.

 

Vivekananda Monument and Tiruvalluvar Statue  Two oceans meet

Vivekananda-Denkmal und Tiruvalluvar-Statue am Ort, wo sich zwei Ozeane treffen

 

Ein besonderer Sonnenuntergang?

Gegen Abend versammeln sich unzählige Leute am Meer, wo es den Sonnenuntergang zu bestaunen gibt. Der versprochene gleichzeitige Mondaufgang findet aber heute nicht statt, also fotografieren die Leute wie verrückt die untergehende Sonne. Ganz ehrlich, sie sieht nun wirklich genauso aus wie an jedem andern Ort, wo die Sonne untergeht.

Ich fotografiere also die Leute, die die Sonne fotografieren, und habe einen Heidenspass dabei. Leider habe ich immer noch nicht herausgefunden, welches nun der heilige, Nicht-Hindus unzugängliche Tempel ist. Ich betrete das tempelartige Gebäude am Meer nicht, obwohl es sich später herausstellt, dass der eigentliche Tempel ganz woanders ist …

 

Waiting for the famous sunset
Warten auf den Sonnenuntergang

 

Abend mit Larry

Am Abend bin ich müde von der langen Reise und setze mich in ein Gartenrestaurant eines ziemlich guten Hotels, warte auf das Essen und beobachte die Gruppen von Touristen, die lachenden jungen Menschen, die verliebten Paare.

Ein nicht mehr ganz junger Kanadier am Nebentisch setzt sich nach einer höflichen Begrüssung an meinen Tisch. Es entwickelt sich ein langes und intensives Gespräch über Gott und die Welt. Er stellt sich als Larry vor, hat keine Familie und verbringt den Winter jeweils für zwei Monate irgendwo auf der Welt (er ist Dachdecker und hat in diesen Monaten keine Arbeit).

Ich gehe früh ins Bett, während der permanent starke Wind am Fenster rüttelt, und werfe ein Medikament gegen die Kopfschmerzen ein. Bereits um Vier werde ich geweckt von einer schrecklichen Frauenstimme, die über Lautsprecher hinduistische Gesänge zum Besten gibt.

 

PS Song zum Thema:  Mark Lanegan – Floor of the Ocean

Und hier geht’s weiter …

 

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