Erwachen mit David Bowie
Der Griff zum iPhone und der iTunes-Datenbank ist immer die erste Bewegung, noch bevor das System hochgefahren wird.
Die Random Auswahl ermöglicht jeden Morgen die Überraschung des Tages, heute eigentlich sehr willkommen mit David Bowie. Dieses Lied allerdings, aufgenommen kurz vor seinem Tod Anfangs 2016, ist nicht gerade das, was einen optimistischen Tagesanfang beflügelt.
Es ist einer seiner besten, aber auch traurigsten Songs seines umfangreichen Katalogs an unvergesslichen Liedern. Ich habe mir das Video schon unzählige Male angesehen und falle jedesmal in eine Art Endzeitstimmung. Es ist voller Angst, handelt vom Ende, vom Tod, dunkel und voller Trauer.
Bowie sieht krank aus, am Ende seiner Kräfte, nahe am Tod. Aber die Musik ist überwältigend. Nur schon das Schlagzeug (offenbar hat er sich die Unterstützung junger Jazzmusiker geholt) lohnt genaueres Hinhören.
Jemand schrieb als Kommentar zum Video: If you ever feel sad, know that the earth is 4.35 billion years old, and you were born at a time to listen to David.
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Das ist natürlich kein optimistischer Einstieg in diesen Tag, der wohl einer der anstrengensten der ganzen Tour werden wird. Aber mal sehen, ich bin ja nicht abergläubig.
Immerhin bringt mich der Touren-Guide auf bessere Gedanken:
Saumweg, Kantonsstrasse, Gotthardbahn, Autobahn, Neat-Baustelle… Spätestens in Erstfeld gleicht das Urnertal einem Durchgangskorridor. Silenen, Amsteg: symbolträchtige Orte am alten Saumweg. Gute Sicht auf die Hügelkirche von Wassen und die Kehrtunnels.
Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 1000 m | 540 m; Wanderzeit 6 h 00 min
Meine Werte: Länge 24.87 km; Aufstieg | Abstieg 1300 m | 855 m; Wanderzeit 8 h 12 min
Ein tückischer Fluss
Die ersten Kilometer sind die Zugabe von gestern. Eine Stunde und 40 Minuten bis Erstfeld, und dann erst fängt die eigentliche Etappe an. Immerhin folgt der Weg der Reuss, die sich heute in einigermassen ruhigem gemächlichem Zustand präsentiert. Man müsste blind sein, um nicht zu erkennen, dass der Fluss auch anders kann. Dass er das ganze Tal überfluten kann, wenn ihm danach ist.
So beispielsweise im Oktober 2020.
Solche Naturereignisse werden sich häufen, der Klimawandel lässt grüssen. Viele Leute haben immer noch nicht begriffen, dass gerade die Alpen in erhöhtem Mass betroffen sein werden. Es wird mehr gravierende Ereignisse geben, auf der anderen Seite wird sich durch das Verschwinden der Gletscher die Wasserversorgung entscheidend verändern.
Aber wie schon an anderer Stelle erwähnt – man macht weiter wie bisher, und falls endlich etwas passiert, dann viel zu langsam.
Die Menschheit schaufelt sich ihr eigenes Grab.
Überraschenderweise führt der Weg schon bald in einen dunklen Tunnel, eher unerwartet, aber nicht unerwünscht. Etwas Abwechslung tut immer gut, vor allem wenn sie das Auge von der immer gleichen Schönheit der Umgebung löst und man in die finsteren Werke des Menschen geführt wird.
Allerdings muss ich zugeben, dass dieses finstere Werk lediglich einen winzig kurzen Abschnitt unter der Erde durchführt. Grund dafür ist, dass der Weg durch einen steilen Abhang, der bis zum Fluss hinunterführt, blockiert wird.
Eine andere Abwechslung – der Truckstop Gotthard, wo die Lastwagen gestoppt und überprüft werden, ob sie in technisch einwandfreiem Zustand sind (eine Panne oder noch Schlimmeres im Gotthard Autobahntunnel ist fatal, siehe 2001). Und ob sie nicht überladen sind (was offenbar nicht selten vorkommt) oder die Fahrer sich nicht an die Ruhezeiten gehalten haben (was erschreckenderweise noch häufiger vorkommt).
Alles Gründe, sich die Sache sehr genau anzusehen. Alle Trucks, die den Anforderungen nicht genügen, werden zurückgehalten. Manchmal wird der Fahrer gezwungen, Ruhepausen einzulegen, manchmal muss das Fahrzeug repariert werden, bevor es die Genehmigung zur Weiterfahrt erhält.
Man stelle sich vor, was passieren kann, wenn ein Lastwagen mit kaputten Bremsen im Gotthardtunnel ein Problem verursacht. Der Tunnel in der heutigen Form wird in einer einzigen Röhre geführt (eine zweite ist im Moment im Bau), d.h. dass sich die Vehikel kreuzen. Ein kleiner Unfall führt zu katastrophalen Auswirkungen.
Man stellt sich das lieber nicht vor.
Planes, Trains & Automobiles
Planes ist etwas übertrieben, obwohl die gelegentlichen weissen Schlieren am Himmel von oberirdischer Aktivität zeugen.
Aber der Titel gefällt mir, denn er erinnert an eine Filmkomödie gleichen Namens von 1987 mit Steve Martin und John Candy. Unbedingt ansehen, sehr lustig (vor allem, als ihr Auto in Brand gerät), zeigt gegen Ende jedoch auf eine tragische Geschichte hin, die auf gut amerikanische Weise positiv aufgelöst wird.
Was hingegen nicht übertrieben ist, ist die unüberhörbare Präsenz von Zügen und Autos.
Durch dieses enge Tal bewegt sich der gesamte europäische Nord-Süd Verkehr. Jedes Jahr überqueren einige hunderttausend Lastwagen den Gotthard, von den PWs ganz zu schweigen. Obwohl die sogenannte Alpeninitiative eigentlich die Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Schiene bezweckte, hat sich an der Zahl nicht viel verändert.
Ausserdem bewirkt das Nadelöhr des Tunnels, dass sich an bestimmten Feiertagen (Ostern, Pfingsten) oder bei Ferienbeginn der Verkehr über viele Kilometer staut und den Autofahrern eine Wartezeit von manchmal über zwei Stunden auferlegt.
Wie auch immer, je enger das Tal wird, desto mehr streiten sich die Verkehrswege um den begrenzten Raum.
Da ist einerseits die Autobahn, die das Tal in zahlreichen Kehren über unzählige Brücken durchquert. Da ist die Bahn, die alte Strecke, die erst nach Wassen in den Tunnel fährt. Da ist die normale Strasse für den Verkehr abseits der Autobahn.
Und last but not least gibt es einen Wanderweg, der sich irgendwo auf dem Weg Richtung Süden durchzwängt. Auf diesem Weg befinde ich mich.
Die Gotthardbahn
Ein Wort zur Zugverbindung: der alte Eisenbahntunnel (siehe Bild) war ja das Ergebnis einer Jahrhundertleistung in Sachen Tunnelbau.
Der über 140 Jahre alte Gotthardtunnel wurde als Scheiteltunnel unter den Gipfeln des Gotthardmassivs in Nord-Süd-Richtung gebaut. Er war das zentrale Bauwerk der Gotthardbahn in der Schweiz. Der 15’003 Meter lange Eisenbahntunnel besteht aus einer einzelnen, doppelgleisig ausgebauten Tunnelröhre zwischen den Ortschaften Göschenen im Kanton Uri und Airolo im Kanton Tessin. Der Tunnel wurde um 1880 auf einer Höhe von 1150 Metern über dem Meer gebohrt und gesprengt. Die Zufahrtsrampen schlängeln sich durch das Reusstal und das Tal des Ticino bis auf diese Höhe. Der Tunnel wird im Mittel von etwa 1100 Metern Gebirge überdeckt. (Wikipedia)
Das ist Vergangenheit. Seit der Eröffnung des Gotthard Basistunnels im Jahre 2016 ist die alte Bahnstrecke zum Touristenerlebnis degradiert worden. Sie fährt zwar noch in periodischen Abständen, doch ihre Zukunft ist ungewiss. Offenbar gibt es Überlegungen, die alte Gotthardbahn ins UNESCO Kulturerbe aufzunehmen, andere noch in Arbeit befindliche Studien gehen in Richtung einer Reaktivierung als Verkehrsaches für den Gütertransport. Grund: die viel langsamer verkehrenden Güterzüge im Basistunnel verlangsamen den Personenverkehr massiv.
Mal sehen. Aber wenn man die einst so stolze Bahn sieht, kommt Traurigkeit auf. Sie hat mehr verdient als ihr gegenwärtiges Schicksal.
Nun beginnt der Aufstieg
In Amsteg, dem letzten Dorf, bevor die Steigung in Richtung Gotthard beginnt, trinke ich zwecks mentaler Vorbereitung auf die kommenden Anstrengungen friedlich einen Kaffee und nasche einen Mandelgipfel. Das Dorf scheint ausgestorben, nur ein vereinzeltes Auto hat sich ins Dorf verirrt und fährt im Schneckentempo an mir vorbei.
Der Himmel bzw. das Wetter vollzieht die üblichen Kapriolen. In einem Moment strahlt der Himmel in tiefstem Blau, lediglich geschmückt durch ein paar niedliche Wolken. Im nächsten Augenblick überzieht er sich mit finsterem Gewölk, die Sonne verschwindet, wird zum Rückzug gezwungen.
Jetzt beginnt der mühsamere Teil der heutigen Etappe. Der Fluss bleibt unter mir zurück, nun erkennt man seine eigentliche Natur als wilden Bergbach. Man muss es gesehen haben, um zu glauben, zu welchen wütenden Monstern Bergbäche werden können.
Es braucht ein starkes Gewitter oder ein lang anhaltender Regen, um die Bäche in Minuten anschwellen zu lassen. Die Unkenntnis darüber hat schon den einen oder anderen Badenden erwischt.
Mit tödlichen Folgen.
Das Tal wird nun richtig eng. Der Lärm der Autobahn mischt sich mit dem Gurgeln und Tosen des Bachs, manchmal ergänzt durch das Sausen des irgendwo versteckt vorübereilenden Zugs. Der Geräuschpegel, ein permanenter Begleiter durch das Tal, wird lauter, eindringlicher.
Obwohl man sich mitten in der Natur wähnt, ist man umgeben von Zivilisation und deren Auswirkungen. Beton. Abgase. Lärm. Zerstörung.
Doch unversehens wird man an die Vergänglichkeit erinnert und sei es bloss durch eine verwitterte Sitzbank. Und plötzlich spürt man seine Muskeln und Sehnen, die Anstrengung, das Alter und damit – alles andere als erwünscht – die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit.
Und dann endlich – die berühmte Kirche von Wassen
Auch die längste Etappe kommt irgendwann an ihr Ende. Das heutige Ende wird schon von weitem angezeigt – das berühmte Kirchlein von Wassen. Es hat eine lange Geschichte.
Nach der Eröffnung der Gotthardbahn im Jahr 1882 wurde das Kirchlein von Wassen zu einem Wahrzeichen auf der Fahrt in den Süden. Wegen der Kehrtunnel sehen Zugreisende die Kirche dreimal von einer anderen Seite.
Also eine Touristenattraktion erster Ordnung. Heute (siehe oben) eine vergangene Sache.
Für mich bedeutet es Durchatmen, ein Bier trinken, die Beine hochlagern, an nichts denken. Oder an alles …
Passender Song: Bob Marley – Concrete Jungle
Und morgen geht die Reise weiter … nach Andermatt