Die Reise neigt sich immer schneller dem Ende entgegen. Es liegt etwas in der Luft, was man nicht recht fassen kann. Eine Ahnung von Abschied? Die Tage werden kürzer, das Licht scheint zu schwinden, erscheint am Morgen später, verabschiedet sich am Abend früh.

Es sind Herbsttage, so wie wir sie kennen. Es ist etwas Trauriges da, man spürt es in den Knochen, etwas Dunkles macht sich breit. Aber es ist wahrscheinlich nicht nur die Ankündigung des Herbstes, es ist das nahende Ende des Caminos. Vermeintlich noch viele hundert Kilometer entfernt, doch bereits spürbar.

Wehmut? Nicht an diesem Morgen.

Killing in the name of

In der Herberge „Albergue de Peregrinos de Santa Marta de Tera“ ist schon früh der Teufel los, wer hätte auch was anderes erwartet. Im Flur unterhält sich morgens um halb sieben jemand lautstark mit einem Geschäftspartner, es muss sich um etwas äusserst Wichtiges handeln. Idiot!

Unsere jungen Damen sind allerdings noch in tiefstem Schlaf versunken, bis ein anderer Gast in unserem Zimmer das Licht anzündet und die Mädchen aus ihren Mädchenträumen erwachen, ziemlich verstört um sich blicken … und sich wieder zurück in den Schlaf sinken lassen.

Da ich aber schon mal wach bin und keine Lust habe, meine Siebensachen im Dunkeln zusammenzusuchen, spiele ich auch einmal den frommen Pilger, der in aller Herrgottsfrühe aufsteht und Lärm macht.

Ich denke, „Killing in the Name of“ von Rage against the Machine dürfte genügen, um auch den letzten Schlaf zu vertreiben. Und he, es funktioniert. Das ist meine Rache an all den vergangenen Nächten in den vermaledeiten Herbergen.

Vier Köpfe schnellen in die Höhe, überraschte Blicke, darunter auch ein paar böse und grimmige.

Lo siento, Señoritas!

Von Santa Marta nach Rionegro del Puente

Da es auch hier weder eine Bar noch etwas Ähnliches gibt, das zu dieser höchst unchristlichen Zeit geöffnet hat, bin ich wieder mal zähneknirschend gezwunden, mein Frühstück in Form von hartem Brot, geschmolzener Schokolade und eiskaltem Wasser als Ersatz für einen Kaffee zu mir zu nehmen.

Es hat nichts mir Genuss zu tun, es handelt sich lediglich um Nahrungsaufnahme zwecks Energieversorgung, So sollte eigentlich kein Tag begonnen werden.

Die Nacht und die Dunkelheit

Ja, und dann, schon beinahe eine Tradition, tauche wieder einmal in die Dunkelheit. Eine einsame Lampe verströmt etwas kümmerliches Licht, gerade genug, um die Strasse zu erkennen, die jedoch bereits nach ein paar Metern in die Schwärze der Nacht gleitet.

Irgendwo (in der „Zeit“?) gibt es viel Schönes über die Nacht zu lesen:

„Die Nacht hat uns alle im Griff. In der Dunkelheit ist der Mensch ein anderer als am Tag. Er durchlebt eine Metamorphose. Sein Körper, seine Organe, seine gefühle und Gedanken sind andere als am Tag. Homo Sapiens verwandelt sich nach Sonnenuntergang in ein Wesen, dessen rationale Kräfte verblassen, dessen Seelenwelt sich weit öffnet.“

Ein herzliches Dankeschön dem unbekannten Ersteller dieser wunderbaren Einsichten.

Der Rio Tera

Ein kreidiger Geruch nach Regen liegt in der Luft. Das Ende der langen Hitzetage? Am schiefergrauen Himmel türmen sich Wolken mit schneeweissen Konturen, das Wetter scheint nun tatsächlich etwas vorzuhaben.

Der Weg führt eine Weile dem Fluss Tera entlang, der vielen Dörfern als Namenszusatz dient. Also nicht Terra, wie man fälschlicherweise meinen könnte. Es ist eine lange, relativ unspektakuläre Etappe, es gibt wenig zu sehen, also konzentriert man sich auf den nächsten Schritt, der Geist meilenweit weg, wo auch immer.

Merkwürdig, dass immer schon nach den ersten Metern eine eigenartige Entspanntheit einsetzt. Der Körper weiss, was auf ihn wartet, der Kopf ist noch etwas im Rückstand, aber er wird aufholen. So wie an jedem anderen Tag.

Die Gronze Etappen stimmen nicht immer mit meinen überein. Meine heutige Etappe führt nur bis Rionegro del Puente, keine Ahnung, was sich die Gronze-Leute gedacht haben. 36 km? Ohne einen triftigen Grund?

Distanz 28 km, Zeit 9 Std. 31 Min.

Dunkler Himmel, schwarzer Fluss

Wie gesagt, der Wettergott scheint schon mal eine erste Warnung abzugeben, dass er gewillt ist, uns zu zeigen, wer der Herr im Haus ist. Ich wandere also schon fast etwas geknickt unter den dräuenden Wolken vor mich hin, links der Fluss, genau so dunkel wie der Himmel, dann wieder gerade aus, so wie man das kennt.

Ich werde, auch nichts Neues, immer mal wieder überholt, man nickt sich zu, geht wortlos weiter. Dazu passt ein anderer weiser Spruch: „Die Jungen sind schneller, die Alten kennen die Abkürzungen.“

Schön wär’s.

Brot und Geist

Emmanuel hingegen, der Franzose, den ich in Tabara kennengelernt habe, weist mich beim Überholen darauf hin, dass in einem guten Kilometer entfernt in Calzada de Tera eine Bar gibt, die wundersamerweise offen ist. Wir schlagen zu, auch wenn es einen Umweg bedeutet.

Das Restaurant ist gleichzeitig für die Verteilung des Brotes zuständig. Der Lieferant bringt am Morgen das frische Brot, die Einwohner holen sich im Verlauf des Tages ihre Ration ab.

Der etwas schüchterne Wirt (eine löbliche Ausnahme im selbstbewussten Spanien) verkauft mir zögernd ein Stück Brot, muss aber vorher seine Liste kontrollieren, damit nicht plötzlich jemand vergessen wird.

Am Nachmittag dreht der Wind auf, es tröpfelt. Also doch! Ich ziehe den Rucksackschutz über und versuche wieder einmal erfolglos, den Poncho überzuziehen. Es muss doch verflucht nochmal eine Möglichkeit geben, einen Regenponcho anzuziehen, ohne dass jemand dabei helfen muss. Ich muss mir dazu ein paar Gedanken machen, Zeit dazu habe ich ja genug.

Gottlob verzieht sich der Regen, offenbar nur als Vorspiel gedacht. Beim Embalse de Agavanzal überquere ich den Staudamm, während mir der orkanartige Sturm um die Ohren pfeift und ich verzweifelt versuche, meinen Hut vor dem Davonfliegen in den See zu bewahren.

Immer mehr Ruinen

Es fällt auf, dass die Ruinen entlang des Weges häufiger werden. Die Etappe gibt einen ersten Eindruck davon, was uns in Galizien erwartet. Die Dörfer leiden an Abwanderung, die dazu führt, dass ganze Weiler verlassen sind, die zurückgelassenen Häuser sind leer und verfallen langsam, während mitten drin Kirchen mit ihre typischen Kirchtürmen stehen, sie sind eine Art letzte Bastion gegen Verfall und Vergessen.

Diese verlassenen, uralten Lehmhäuser, Ställe und Hütten strahlen etwas Trauriges aus. Warum ausgerechnet hier, zwischen Mombuey und Asturianos, die Entsiedelung und der Verfall so sichtbar sind, ist schwierig zu ergründen. Man wandert instinktiv schneller, als wollte man möglichst schnell dieser tristen Einsamkeit entfliehen.

Ein sehr seltsamer Missionar

In einem winzigen Kaff namens Vilar de Farfon mit wahrscheinlich etwa 2.5 Einwohnern wartet eine besondere Überraschung, eine Herberge, sie nennt sich The Pilgrim Mission.

Es handelt sich – etwas euphemistisch ausgedrückt – um eine Art Restaurant, bestehend aus einem einzigen Tisch und ein paar Stühlen, und irgendwo versteckt so etwas wie eine Übernachtungsmöglichkeit. Der Herr des Hauses ist ein ziemlich englisch aussehender Mann in den 60-ern und entpuppt sich als Südafrikaner, der offenbar ein Leben lang Missionar war.

Er erzählt von Sambia, von Varanassi, wo er mit seiner Frau fünf Jahre lang missionierte, vom Himalaya und anderen Orten, wo man nicht auf Anhieb annimmt, dass seine Missionstätigkeit auf grosse Resonanz gestossen sein kann.

Doch je mehr er redet, desto mehr entpuppt er sich als nervender Verschwörungstheoretiker. Klimawandel? Wunderbar, die Erde wird grün. Covid – alles Erfindung. Migration – gesteuert. Grund: die Leute haben zuwenig Kinder.

Seine Reden ohne Punkt und Komma, vor allem ohne jeglichen Sinn, werden irgendwann zuviel. Ich kann nicht anders, als ihn als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen und dass er einen Haufen dummes Zeug erzählt. Was ihn nicht davon abhält, mir beweisen (!) zu wollen, dass Jesus gelebt hat und auferstanden ist.

Immer wieder überraschend, auf welche absonderlichen Figuren man auf dem Camino antreffen kann. Aber dass dabei auch Missionare sind, ist doch etwas unerwartet.

Me gusta comer

Weiter geht es auf und ab, meine und Emmanuels Wege treffen sich immer wieder, dann verlieren wir uns wieder aus den Augen. Der junge Herr ist ja auch ein paar Jährchen jünger. Der Weg folgt dem See entlang, dann noch ein paar Aufstiege, und dann endlich Rionegro, wo nicht nur eine besondere Herberge, sondern auch ein wahrlich festliches Mahl wartet.

Das Abendessen im angrenzenden Restaurant ist nämlich eine Rarität auf dem Camino, etwas, was auf gar keinen Fall verpasst werden darf. Ich bin mit Cordula und Henning da, an einem anderen Tisch sitzt Emmanuel. 

Es handelt sich dabei nicht einfach um ein normales Essen, nein, es ist ein Dinner von höchster Klasse, von auserlesener Qualität, von einem Meister der Kochkunst zubereitet.

Es gibt im Dorf eine Art Kochclub namens Me gusta comer, der seinen Gästen jeweils am Abend ein Mehrgang-Menü offeriert. Der Wirt, gleichzeitig der Koch, ein grimmig aussehender Herr in den besten Jahren, stellt sich vor den Tisch, man schweigt ehrfürchtig, währenddessen er das heutige Menü erklärt. Wir sind mit allem einverstanden.

Und es kann nicht oft genug wiederholt werden – so gut habe ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gegessen. Nach der Vorspeise, deren Zusammensetzung ich vergessen habe, aber unvergleichlich mundet, wird der Hauptgang serviert, ebenso köstlich, dazu erlesener Wein und schliesslich ein Dessert für die Götter.

Ich wage fast nicht zu sagen, was es kostet. 15 Euros pro Person. Ich denke mal, dass ein vergleichbares Menü in Zürich, wenn auch vermutlich nicht vom Chef selbst zubereitet, mindestens einen dreistelligen Betrag in Schweizerfranken kostet.

Die Wege des Herrn sind wirklich unergründlich.

Und noch zu erwähnen – diese Herberge ist für einmal ein Beispiel dafür, wie es auch sein könnte. Grosszügige Räume, hervorragend renoviert, mit Küche und mehreren Badezimmern, und die Betten sind soweit voneinander entfernt, dass auch das schlimmste Schnarchen wie ein entferntes Gewitter klingt.


Von Rionegro del Puente nach Asturianos

Am frühen Morgen liegt Nebel über den Feldern, er kriecht in die Kehle, kämpft gegen die Dämmerung. Lichter blinken in der Ferne, schwach und kaum sichtbar. Es ist kühl geworden, der Herbst. War es das?

Wenn ich gewusst hätte, dass heute der letzte sonnige Tag ist, wäre ich vielleicht öfters stehen geblieben, hätte die Hitze noch ein letztes Mal in vollen Zügen genossen, die Sonnencreme mit Bedacht aufgetragen, denn ab heute bleibt sie in der Tasche.

Aber eben, man weiss es nicht, verscheucht die Wetterprognose aus den Gedanken.

„Es wird wohl nicht so schlimm werden.“

Tja, das ist wohl der eigentümliche Einfluss des Glaubens auf die menschliche Existenz.

Immerhin, die Nacht in der Herberge war hat mich mit langem tiefem Schlaf belohnt. Emmanuel, den ich nun immer wieder treffe, entpuppt sich als Herbergenchef am Stevensonweg in Frankreich, vielleicht eine Idee für eine zukünftige Wanderung.

Kaffee und eine Mondrakete

Und wieder muss ich die blöde Gronze Etappe korrigieren, meine eigene läuft von Rionegro via Mombuey nach Asturianos und keinen Schritt weiter. Aber die Etappe ist wiederum lang und flach und genauso monoton wie viele davor.

Distanz 27.7 km, Zeit 8 Std. 24 Min.

Mombuey ist schnell erreicht, also Frühstück im nächsten Restaurant. Nur schon der Geruch nach frischem Kaffee vertreibt die letzte Müdigkeit. Der blaue Himmel hat das Zepter übernommen, letztes Aufbäumen vor der endgültigen Niederlage?

Das Dorf bietet aber nicht nur guten Kaffee und süsse Brötchen, sondern auch eine sehr eigenwillige Kirche. Ihr Turm erinnert an … ja was denn? Vielleicht eine Mondrakete, vielleicht aber auch was ganz anderes. Aber lassen wir das.

Na ja, viel ist nicht zu sagen über dieses Kaff mit einem Namen, der an Grösse, an Wichtigkeit erinnert. Aber manchmal ist die Welt eben eine verdrehte. Dafür gibt es grosse Städte mit tausenden von Einwohnern mit bescheidenen, beinahe unterwürfigen Namen wie Homel (Belarus), Jilin (China) oder Kinki (Japan).

Ja, wenn man Zeit hat wie auf dem Camino, tauchen solch merkwürdige Gedanken auf. Dabei sind Namen doch Schall und Rauch, wie wir schon längst wissen …

Von Estevoaei – Eigenes Werk

Ein älterer Herr auf einem Stein

Die Wege sind wie gehabt, lang und schön und heiss, wie ich es liebe. Man fühlt sich unbezwingbar, schon über 750 Kilometer, der Rest ein Klacks.

Und so denkt der rüstige alte Herr, es wäre doch Zeit, den heroischen Augenblick festzuhalten. Er schlägt sich in Pose, legt um seine Mundwinkel ein spöttisches, schon beinahe überhebliches Grinsen und wartet auf Emmanuel, seinen Fotographen.

Man könnte das Ganze natürlich man mit Fug und Recht als den berüchtigten Hochmut vor dem Fall bezeichnen.

Denn der Fall folgt sozusagen auf dem Fuss, in meinem Fall auf dem rechten Schienbein. Denn kaum bin ich wieder auf dem Weg, beginnt es zu schmerzen. Ich denke an ein vorübergehendes Problem, doch der Schmerz bleibt, wird eher intensiver.

Dieser Moment bedeutet das Ende meiner sorglosen Wanderung, ich weiss es nur noch nicht.

Wilde Tierwelt

Natürlich hat man von der reichhaltigen Tierwelt in diesen Gegenden gelesen, doch mit Ausnahme der Schweine und Schafe und Kühe und Ziegen verstecken sich die wilden Tiere vor den Augen des Wanderers.

Deswegen ist es nicht nur erfreulich, sondern ausgesprochen überraschend, wenn plötzlich eine Herde Hirsche (oder sind es Rehe?) über den Pfad springen und zwischen den Bäumen verschwinden. Man hat ja als einsamer Wanderer selten die Gelegenheit, einem Wesen zu begegnen, das nicht nur rucksackbewehrt und schnaufend an dir vorbeirauscht, sondern etwas eleganter und wilder den Weg kreuzt.

Eine Herde Hirsche oder Rehe kreuzt den Pfad

Metallica und ein Glockengeläut

Heute ist einer dieser Tage, wo es mir zuweilen langweilig wird und ich etwas Aufmunterung benötige. Ausserdem schmerzt mein blödes Schienbein nun so richtig. Dazu scheinen mir ein paar Heavy Metal Klänge genau das Richtige zu sein. Mit einem Blick in die Runde vergewissere ich mich,  dass mein Alleinsein total ist, und lasse mein iPhone krachen.

Und so wird die heilige Stille der Landschaft durch die Songs von Metallica und Nine Inch Nails und Queens of the Stone Age erschüttert. Ich entschuldige mich bei allen erschrockenen Fröschen am Wegrand und gelobe Besserung.

Keep on rocking, Man!

In Entrepeñas, dem letzten Dorf vor Asturianos, treffe ich wieder einmal auf Emmanuel, der sich im Schatten der Ortskirche eine Pause gönnt. Ich setze mich zu ihm, wie ein altes Ehepaar, meistens schweigsam, entspannt.

Merkwürdigerweise hängt vom Kirchturm ein Seil mit farbigen Wimpeln herunter, das geradezu danach verlangt, daran gezogen zu werden. Und so veranstaltet Emmanuel um vier Uhr ein nachmittägliches Glockengeläut, das zum Gebet ruft. Es würde mich nicht wundern, wenn sich schon bald ein paar fromme Bürger zur Messe einfinden würden.

Und tatsächlich, nach ein paar Minuten tritt eine alte Frau aus einem Haus, doch sie lacht lauthals über den Streich und schenkt uns Trauben.

Periostitis

Wen wundert’s, auch über Asturianos ist wenig zu berichten, ausser dass die Herberge im Anhang einer Sporthalle mit angeschlossener Bar untergebracht ist. Ausserdem liegt sie oberhalb des Dorfes, man erhält also die Gelegenheit, auf dem Weg dahin die Honoritäten des Dorfes kennenzulernen. Doch mit Ausnahme des einen oder anderen Blickes von einem Balkon herunter hält sich das Interesse in Grenzen.

Ein gehörntes Tier mit misstrauischem Blick begrüsst jeden Ankömmling, vielleicht übernimmt es die erste Prüfung auf Eignung zur Übernachtung.

Die Bar ist geöffnet, die Erstkontrolle meines Schienbeins zeigt Unerfreuliches. Es ist ziemlich geschwollen, schmerzt und fühlt sich heiss an. Emmanuel bringt einen Ausdruck ins Spiel, der mir neu ist: Periostitis oder auf Deutsch Knochenhautentzündung.

Autsch! Eine Knochenhautentzündung? Die Dame an der Bar nickt zustimmend, holt etwas Eis und drückt es auf mein Bein, während ich krampfhaft versuche, meinen angeborenen Optimismus zu bewahren.

Später erfahre ich, was die Probleme ausgelöst hat. Es ist natürlich die Achillessehne an der rechten Ferse, die sich schon ziemlich lange bemerkbar gemacht hat. [Einschub: jetzt, nach über drei Monaten beim Schreiben dieses Blogs, kämpfe ich immer noch mit der verfluchten Achillessehne, und jeder, der sich auskennt, behauptet, dass die Schmerzen monatelang anhalten. Fuck!]

Der Abend verläuft etwas bedrückt, Cordula und Henning versuchen ihr Bestes, um meine gedämpfte Stimmung zu erhellen, was ihnen jedoch bestenfalls in Ansätzen gelingt.

Die Tür zur Herberge ist bereits geschlossen, immerhin ist die Bar nebenan noch offen, und man öffnet für mich. Ich werfe noch ein Ibuprofen ein und hoffe auf baldige Besserung.


Von Asturianos nach Puebla de Sanabria

Natürlich sind ausser mir und Emanuel alle anderen längst weg. Wieder einmal kaltes Wasser, hartes Brot und Schokolade zum Frühstück. das geht mir langsam echt auf den Geist.

Das Bein fühlt sich ganz ordentlich an, aber das dürfte auch an den Medikamenten liegen. Wie auch immer, ich muss die 16 Kilometer hinter mich bringen. Das Wetter entspricht meiner Stimmung und hat sich mit Düsternis überzogen. Ich ziehe lange Hosen mit Gamaschen an.

Und dann ist er da, der Regen

Nach einer guten Stunde, in Palacios de Sanabria, endlich eine Bar, alle sind da, an der Bar versammelt, Emmanuel, Cordula und Henning. Mein Bein über Nacht zu einem Thema geworden, man erkundigt sich nach dem Befinden, ich winke ab, kein Problem. In Tat und Wahrheit bin ich mir bewusst, dass der gegenwärtige Zustand lediglich den starken Medikamenten zu verdanken ist.

Der Weg führt durch Wälder, dann wieder lange der Strasse entlang. Man kann sich Schöneres vorstellen. Kurze Zeit später beginnt es zu tröpfeln, da ist er nun also, der lange ersehnte Regen. Ob er sich nach all den Hitzetagen als Segen herausstellen wird, steht offen.

Dabei ist es erst ein paar Stunden her seit der grossen Hitze, der mittäglichen Schläfrigkeit, dem Gefühl, lebendig verbrannt zu werden. Und der Sehnsucht nach Abkühlung, nach kühlen Brisen, nach einer warmen Decke über den Ohren, um die nächtliche Kälte zu vertreiben.

Und jetzt hat sich die Sehnsucht erfüllt, doch es erinnert mich an einen alten weisen Spruch: Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.

Distanz 17 km, Zeit 5 Std. 30 Min.

Ein neues Gefühl

Obwohl es sich noch eher um ein leichtes Nieseln handelt, gehe ich kein Risiko ein und ziehe den Poncho über.

In der Zwischenzeit habe ich mir nämlich eine ausgeklügelte Methode überlegt, um das Problem zu lösen: man legt den Rucksack ab, zieht den Poncho von hinten über den Rucksack und rollt den vorderen Teil zusammen. Dann legt man den Rucksack an und zieht den aufgerollten Teil des Ponchos nach vorne über den Kopf. Es braucht etwas Übung, klappt aber beim zweiten Mal perfekt.

Natürlich fehlen auf dem Weg die düsteren Kirchen ebenso wenig wie burgenähnliche Gebäude, derer Geschichte und Zweck unerfindlich sind. Nach all diesen Tagen und Wochen haben sie jegliche Anziehungskraft verloren, und so geht man achtlos an ihnen vorbei, der Blick auf dem Pfad, der immer sumpfiger wird.

Puebla de Sanabria

Es beginnt stärker zu regnen, ich fühle mich aber wohl und sicher in meinen Regenklamotten. Die Landschaft ist nun so grün wie nie zuvor, eigentlich schön zu wandern. Was mich aber nicht davon abhält, nach gut 10 Kilometern wieder mal den Weg zu verpassen.

Da die Wirkung der Medikamente nachlässt und die Schmerzen stärker werden, entschliesse ich mich, den Rest der Etappe bis Puebla de Sanabria der Strasse zu folgen. Ich realisiere langsam, dass ich ein gröberes Problem habe.

Die letzten Kilometer verlaufen unter strömendem Regen. Es ist dunkel geworden, der Himmel so schwarz wie nie, eine Weltuntergangsstimmung. Weit vor mir erkenne ich Cordula und Henning die Strasse überqueren, auch ihr Gang zeigt, dass sie alles andere als glücklich sind.

Die Stadt liegt unter einem grauen Mantel, die Strassen pitschnass, die Häuser still, man hört ausser einem gelegentlichen Motorgeräusch kaum einen Laut. Es ist Sonntag, man bleibt bei diesem garstigen Wetter lieber in der warmen Stube.

Der Hotelwirt erwartet mich bereits und führt mich zu meinem Zimmer. Am Abend quäle ich mich hinauf zur Stadtmitte, die etwas oberhalb liegt, esse mit Cordula und Henning, dann hinke ich mit schmerzendem Bein in dunkler Stadt zurück zum Hotel.

Es macht den Anschein, als bräuchte ich dringend einen Plan B.

Passender Song: Rage against the Machine – Killing in the Name of

Und hier geht der Camino weiter (vielleicht) … keine Ahnung wohin

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