Beim Wandern werden die Grundbedürfnisse auf das absolut Notwendigste, die Basics, gesenkt. Essen, trinken, ein Bett für die Nacht, Gesundheit. Alles andere verliert an Bedeutung. Man ist mit weniger zufrieden, begnügt sich mit dem, was da ist.

Könnte eine Lehre, eine Art Blaupause für ein besseres Leben sein. Aber eben …

An diesem Morgen, nach einer unruhigen Nacht voller Zweifel, bin ich lange wachgelegen, mit schmerzenden Achillessehnen und Zweifel, ob ich die anstehenden 28 Kilometer bis Gallistio schaffen kann. Doch nach maximal 4-5 Stunden Schlaf geschieht einmal mehr das Unerwartete: ich fühle mich völlig ausgeruht, fit für die nächsten Herausforderungen.

Die Pilger oder was immer diese Frühaufsteher sind, haben längst das Weite gesucht, ich werde sie vermutlich in Gallisteo wieder antreffen, mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht (der Eintrag in meinen täglichen Notizen zeigt meine Abneigung: „Ich hasse die alten Pilger, sie stehen um halb sechs auf, und ich kann nicht mehr schlafen“.)

Ich marschiere also schon mal los, der Magen ist leer, wenig Hoffnung auf einen Kaffee mit Zutaten. Doch als müsste Cañaveral im letzten Moment noch ein paar positive Punkte buchen, ist eine Bar tatsächlich geöffnet und bietet Frühstück an. Und so sitze ich einfach da, die restliche Müdigkeit verfliegt mit jedem Bissen der riesigen Churros, mit jedem Schluck des gezuckerten Kaffees, und ich bin glücklich.

So wenig braucht es. Wie gesagt, eine Blaupause.

Cañaveral – Galisteo

Auch wenn ich wieder der letzte Mohikaner auf dem Weg bin, ist es trotzdem immer noch zappenduster. Der Weg führt wie immer bis ans Ende des Dorfes, bevor er abzweigt. Aber als würde mich das Dorf ein letztes Mal ärgern wollen, fehlen sämtliche Wegweiser („Schlecht beschildert, fuck Canaveral!“).

Ich werfe einen letzten Blick zurück im Zorn und trete ein in die Dunkelheit des Wegs.

Distanz 27.18 km, Zeit 8 Std. 38 Min.

Kühe und Dehesas und Lord of the Rings

Der Anfang ist mühsam, denn ein steiler Anstieg führt mich den Hang hinauf, während die Dunkelheit dem Tag weicht. Und oh Wunder, ich bin doch nicht ganz der letzte Mohikaner, denn einmal mehr rauschen Doug und Heidi mühelos an mir vorbei.

Die Landschaft ändert sich nun schnell, zur Abwechslung mal andere Bäume als die ewigen Kork- und Steineichen. Was bleibt sind die ewigen Kühe, die mir aber genausowenig Beachtung schenken wie ihre Kollegen auf den bisherigen Etappen. Die Dehesas hingegen, diese riesigen Ländereien, die man sich in diesen Ausmassen bei uns gar nicht vorstellen kann, dehnen sich weiterhin bis zum Horizont aus.

Manchmal, Tolkien ist wie immer mein ikonischer Begleiter, finde ich wieder diese Hobbitmomente unter schattigen Bäumen und genehmige mir das erste oder zweite oder gar dritte Frühstück (ich habe dich nicht vergessen, Pippin) und lasse den Blick in die Umgebung schweifen.

Die Landschaft wird grüner

Man kann es erst gar nicht glauben, aber die Einöde weicht zurück, macht grünen Weiden Platz und stellt ein paar Kühe hinein, um das unerwartete Bild gebührend zu vervollständigen. Ich bin allerdings skeptisch, was die Nachhaltigkeit dieser Zurschaustellung anbetrifft. Es ist sicher nur eine Zwischenepisode, die nächste trostlose Einöde wartet wahrscheinlich bereits hinter der nächsten Biegung.

Unversehens klingt auch das Gurgeln von Wasser in den Ohren, manchmal versteckt unter Gebüschen, manchmal ganz unsichtbar, manchmal als währschafter Kanal, der wahrscheinlich der Bewässerung dient. Das könnte seit langem der Beweis dafür sein, dass es auch in der trockenden Extremadura tatsächlich Wasser gibt.

Am Ziel

Eigentlich überrascht es nicht, dass sich kurz vor dem Tagesziel Gallisteo die grünen Wiesen wieder verziehen, und sich das wohlbekannte Bild verbrannter Wiesen und Äcker zeigt. Immerhin zeugen gelbblühende Gebüsche, dass noch nicht alles verloren ist.

Und dann kommt Gallisteo näher, seltsam, dass die knapp 28 Kilometer ohne die geringste Anstrengung hinter mir liegen. Einmal mehr zeigt sich dass das Wandern eigentlich etwas sehr Einfaches ist. Man stellt den Geist ab, macht einen Schritt nach dem anderen, und wenn alle Schritte getan sind, ist man am Ziel und stellt den Geist wieder an (oder lässt es bleiben).

Der Besenwagen

Das Restaurant, wo ich ein Zimmer reserviert habe, ist gerammelt voll mit meinen Mitwanderern, die längst am zweiten oder dritten Bier sitzen und mich lauthals begrüssen. Immerhin kann man sich nun beruhigt zurücklehnen, denn nun ist auch der letzte eingetroffen.

Das ist nicht das erste Mal und wird nicht das letzte Mal sein, dass ich sozusagen die Rolle des Besenwagens spiele. Eine Rolle, die mir aber ganz gut gefällt.

Doug und Heidi sind da, lange Diskussionen über Gott und die Welt und am Schluss eine innige Umarmung. Herrgott, immer diese Abschiede von Menschen, die einem im Nu an Herz gewachsen sind.

Das Zimmer ist einfach, aber ganz in Ordnung, mit Ausnahme des Lichtschalters, der ausser Reichweite des Bettes angebracht ist. Möglicherweise eine späte Rache des verantwortlichen Elektromonteurs, der sich wahrscheinlich heute noch kaputt lacht.


Von Gallisteo nach Carcaboso

Galisteo ist von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben, das realisiere ich erst am Morgen. Also bevor ich mich an die kurze Etappe nach Carcaboso mache, gehört dem kleinen Ort die gebührende Aufmerksamkeit.

Und so stehe ich nach dem Frühstück vor dem Stadttor, einem ziemlich erstaunlichen Nachweis mittelalterlicher Baukunst. Schmale Gassen führen verwinkelt durch das Dorf, das ja lediglich knapp 1000 Einwohner hat. Eine weiss Gott aufwendige Anlage für so wenige Menschen. Aber man müsste sich wahrscheinlich tief in die Geschichte eingraben, um die Umstände zu erfahren.

Das Erbe der Mauren

Immerhin habe ich herausgefunden, dass Galisteo das meiste seiner trutzigen Abwehr den Mauren zu verdanken hat. Sie errichteten unter anderem auch die Stadtmauer, die Muralla Almohade, die 1996 zum Kulturgut erklärt wurde.

Zu den Sehenswürdigkeiten von Gallisteo gehören der Torre de la Picota, ein ehemaliger Teil der maurischen Festung, und die Kirche Nuestra Señora de la Asunción, die einen eleganten Mudéjar-Chor hat. In der Umgebung von Gallisteo gibt es offenbar auch mehrere archäologische Fundstätten, die Zeugnisse von prähistorischen, römischen und westgotischen Kulturen bieten.

Ich bin beeindruckt.

Eine furchterregend steile Treppe führt auf die Stadtmauer hinauf, ich habe per Zufall den richtigen Moment erwischt, denn hinter den Mauern streckt eben die Sonne ihr gleissendes Antlitz hervor.

Wieder mal ruft das weite Land, am Horizont grüssen Berge, oder sind es lediglich Hügel, die sich wichtig machen? Ich kann es ihnen nicht verdenken. Als Hügel ist man in der Gesellschaft von platten Ebenen ein Berg.

Doch es geht weiter, nicht übertrieben weit heute, die paar Kilometer bis Carcaboso sind ein Klacks. Also nehme ich es easy, die Schritte der selten befahrenen Landstrasse entlang werden automatisch langsamer, der Kopf leert sich und macht Platz für anderes, nicht nur Gedanken an die nächsten Kilometer, die nächsten Ebenen.

Unterwegs ein Kaffee, die Bars gleichen sich ebenso die Baristas und hoffentlich auch der Kaffee.

Distanz 1.5 km, Zeit 3 Std. 26 Min.

Ghost Dog Weisheiten

Immerhin grüssen allerhand blühende Blumen und Früchte an Kakteen am Wegrand, Grussmeldungen von angenehmeren Jahreszeiten. Man bleibt unwillkürlich stehen, atmet den Duft ein, bewundert die Früchte.

Eine Weisheit von Ghost Dog scheint angebracht: Nichts zählt so sehr wie der gegenwärtige Augenblick.

Das Hotel in Carcaboso ist perfekt, für die grosse Wäsche fehlt allerdings der Stöpsel im Lavabo, aber das sind Probleme, die sich ertragen lassen.

Die nächsten Etappen sind lang und anspruchsvoll, aber he, es geht Salamanca entgegen. Morgen endlich der Arco de Càparra, ein Höhepunkt, aber es wird gemäss Wetterprognose eine neue Hitzewelle erwartet. Vielleicht hat dann mein (Sonnen-)Schirm Premiere.


Von Carcaboso zum Arco de Caparra

Nach 8 Stunden Schlaf und einem tadellosen Frühstück im Hotelrestaurant bin ich bereits um 7.40 wieder unterwegs, langsam nähere ich mich den Aufstehroutinen der Pilger an. Es ist dunkel, der Himmel hängt noch eine Weile sein sternenbedecktes Tuch über der Welt, doch das Morgenrot deutet seine baldige Ankunft an.

Der Blick auf die Karte zeigt eine furcheinflössende Ebene mit so ziemlich nichts, also keine Bäume, keine Sträucher, nur endlose Wege durch eben … nichts. Das dürfte ein verflucht harter Tag werden.

Distanz 22.13 Km, Zeit 6 Std. 27 Min.

Trotz der kargen Landschaft gibt es eine Menge zu tun und zu sehen, tausend Gatter zu öffnen und zu schliessen (eine Aufgabe, die ernst zu nehmen ist), und immer wieder Ruinen am Wegrand, Zeugen einer besseren Vergangenheit.

Manchmal fahren Radfahrer vorbei, ganz behutsam, als wollten sie den Wanderern ihren Respekt zeigen. Dann ein gemurmeltes Buen Camino, und weg sind sie, eine kleine Staubwolke hinter sich herziehend.

Merkwürdige Menschen

Der regelmässige Klang der Schritte auf dem Pfad, begleitet vom Klackern der Stöcke im Takt, sind die einzigen Geräusche, sieht man vom Geraschel der Blätter auf den leblosen Wiesen, dem Singsang von Vögeln, die sich irgendwo verbergen, ab.

Die ebenen Flächen, sanft umrahmt von niedrigen Höhenzügen und Steineichenwäldern, machen die Etappe zu einem Spaziergang. Die Bäume stehen wie aufrechte Soldaten in genügend grossem Abstand voneinander und lassen so das Sonnenlicht bis zum Boden. Gut für die Schweine- und Rinderherden, die sonst kein Gras finden würden.

Bei einem Brunnen treffe ich einen jungen Mann asiatischer Herkunft an, wahrscheinlich aus Korea stammend, wir nicken uns zu, Buen Camino, und ich folge dem Weg weiter. Nach ein paar Kilometern zeigt der Blick auf die App, dass ich den falschen Weg erwischt habe. Also zurück mit einem ziemlich verärgerten Knurren.

Da fragt man sich doch, warum der junge Mann mich nicht darauf aufmerksam gemacht hat, denn er  hat zielstrebig die richtige Abzweigung erwischt? Handelt es sich um ein kulturelles Problem? Manchmal habe ich Mühe, die Welt zu verstehen. Aber wenn ich den Kerl erwische, werde ich ihm die Leviten lesen. Aber so sehr ich mir wünschte, ihn zu treffen, er bleibt verschwunden.

Das Ende des Trails

Die Bäume werden seltener, ich befinde mich nun mitten auf der Ebene, der Weg führt auf dem alten Römerpfad stramm gegen Norden. Der Arco muss erlitten werden, so scheint’s.

Eine Gruppe älterer Herrschaften, Franzosen wie sich herausstellt, ist mit einem Problem konfrontiert. Eine der drei Damen hinkt, ist kaum noch in der Lage zu gehen. Das sieht nicht gut aus. Ich treffe sie kurze Zeit später beim Arco, sie werden den Trail wohl abbrechen müssen.

Wenn die Sonne von hinten brennt, setze ich normalerweise den Hut in den Nacken, heute nützt auch das nichts mehr, und so kommt doch tatsächlich zum ersten Mal mein Schirm zum Einsatz. Es ist ein Spiel, ein Spiel mit den Elementen, man darf sich nicht beeindrucken lassen, einfach weitergehen durch das staubige Sonnenlicht, die Hitze, das Brennen auf der Haut vergessen.

Aber dann, schon von weitem, wird der unvergleichliche Càparra Bogen sichtbar. Der Schritt wird unwillkürlich schneller, der Blick auf das näherkommende Juwel römischer Baukunst gerichtet.

Der Arco de Cáparra ist ein römisches Denkmal, der einzige erhaltene viereckige Bogen in Spanien. Er war Teil der antiken Stadt Cáparra, die im 1. Jahrhundert v. Chr. gegründet und im 9. Jahrhundert aufgegeben wurde. Der Bogen wurde im späten 1. oder frühen 2. Jahrhundert n. Chr. errichtet und hatte vermutlich eine Gedenk- oder Zeremonialfunktion.

Und so stehe ich vor dem Arco, inmitten den Ruinen der einstigen römischen Stadt, und spüre ein Gefühl, dem man sich in unserer narzisstischen Welt normalerweise entzieht, dem Gefühl von Demut. Eigentlich wäre jetzt Champagner angesagt und ein Prost auf die längst verblichenen Baumeister römischer Provenienz. In Gedanken nicke ich ihnen voller Hochachtung zu.

Angesichts dieser Hinterlassenschaften, die Jahrtausende überstanden haben, merkt man, wie schlicht man selbst gestrickt ist und wie wenig man der Nachwelt hinterlässt. Nichts oder beinahe nichts, und das ist wohl auch gut so.

Wie ich erfahren habe, stellt der Arco keinen Triumphbogen dar, wie man meinen könnte. Auf der Via zugewandten Seite ist einer in Stein gemeisselten Inschrift in Latein zu entnehmen, dass der Arco ein Gedenkbogen darstellt, der von einem gewissen Narcus Fidius Macer zu Ehren seiner Eltern gestiftet wurde. Wow! Jegliche Vergleiche zu den eigenen diesbezüglichen Taten sollten vermieden werden.

Die Gruppe Franzosen trifft langsamen Schrittes ein, die gehandicapte Dame scheint grosse Schmerzen zu haben. Sie werden wohl wie ich den Shuttlebus zum Hotel nehmen, doch es ist noch Zeit, bis dieser eintrifft.

Während die Sonne ihre schwer lastende Hitze gnadenlos über die Landschaft legt, gehe ich langsam den Ruinen der ehemaligen Ortschaft entlang, einmal mehr darüber sinnierend, wie wohl das Leben hier ausgesehen haben muss.

Der Geist denkt sich vornehme Damen aus, die in ihren brokatschweren Kleidern durch die engen Gassen schweben, dem Gewühl und dem Lärm mit sanftem Lächeln widerstehend, während Händler und Handwerker lautstark ihre Produkte und Dienstleistungen anpreisen, Kinder lachend ihre Spiele spielen …

Alles vergangen, alles zu Staub und Asche zerrieben.

Dann kommt der Bus, eine kurze Fahrt zum Hotel Asturias, es strahlt den matten Glanz von Fernfahrerromantik aus, aber nach diesem Tag ist alles willkommen, was Ruhe und Schatten und ein bequemes Bett verspricht.

Passender Song zum Tag: Guitarra Azul – Tres Lagrimas

Und hier geht der Camino weiter … nach Aldanueva

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