Durchs Fenster scheint eine blasse Sonne, verdeckt durch schnell vorübereilende Wolken, doch alle paar Augenblicke durchlaufen sie eine neuerliche Transition von hell zu dunkel und wieder zurück zu hell.

Ein sehr willkommener Morgengruss.

 

Sun pushing through

 

Zu den Pferden

Auf den heutigen Tag freue ich mich ganz besonders, denn die Etappe führt hinauf auf die Freiberge, les Franches Montagnes, dem Paradies für Pferde.

Der Guide ist der gleichen Meinung (obwohl ich den Angaben über Distanz und Dauer nicht so recht zu glauben vermag; die gestrige Etappe war doch tatsächlich fast 3 Kilometer länger).

Nach dem Aufstieg aufs Hochplateau der Franches Montagnes betritt man ein stilles Land mit dunklen Wäldern und verstreuten Bauernhöfen, umgeben von Pferden, Kühen und Schafen. Dazwischen Dörfer mit senfgelben Häusern. Saigneléger ist das regionale Zentrum.

Da mir die Angaben im Guide immer weniger zuverlässig erscheinen, gebe ich ab jetzt wieder meine eigenen Werte bekannt; sie weichen einmal mehr ziemlich stark ab. Die Dauer ist klar, aber die Abweichung bei den Distanzen ist schon etwas fragwürdig.

Länge 15.34 km; Wanderzeit 6 h 29 min

 

From Soubey to Saignelegier

Wieder einmal bleibt ein kleines unscheinbares Dorf hinter mir zurück, wie immer möchte man verweilen, die Ruhe geniessen, durchatmen.

Aber eben, der Plan lässt keine Ausnahmen zu, schon gar keine ungeplanten Ruhetage, und so schaue ich noch ein einziges Mal zurück, auf Soubey. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wiederkehre, ist sehr klein. Bye bye, kleines herziges Dorf.

 

Bye bye Soubey

Es scheint ein Gesetz meiner mangelhaften Orientierungskünste zu sein, dass ich schon nach wenigen Kilometern von der Route abweiche (oder mich verirre). Das Wandern entlang des wunderbaren Flusses ist aber auch zu verlockend, um es zu unterbrechen, um einen unwichtigen Hügel zu überqueren, um dann etwas später den gleichen Ort zu erreichen.

Man fragt sich, ob dieser trockene Sommer ohne Einfluss auf diese Gegend geblieben ist. Die Wiesen sind saftig grün, die Maisfelder in bester Verfassung, man könnte meinen, der Klimawandel seien Trump’sche Fake News. Aber, ich bin überzeugt, ich werde im Verlauf der Wanderung quer durch die Schweiz andere Gegenden durchqueren, gelbe, verbrannte Gegenden, Sahara bei uns.

 

lush green meadows and fields

Der Doubs gurgelt noch eine Weile neben mir, dieser verträumte Fluss wie aus einer anderen Zeit, es könnte im Hobbit-Land sein, wo die Natur noch intakt ist. Ich folge ihm langsamen Schrittes, denn nicht mehr weit von hier, werde ich ihn endgültig verlassen, er wird noch ein paar Bögen auf Schweizerboden machen, um sich dann endgültig nach Frankreich abzusetzen.

 

Sweet littler River - the Doubs The Doubs - in the midst of a green green world

Nur selten trifft man auf Häuser oder Ställe oder andere Zeugnisse menschlicher Zivilisation. Und natürlich dürfen auch Zwerge und andere Gräuel vor den Gartenhäuschen nicht fehlen, nur Schneewittchen fehlt, sie schläft.

 

Dwarfs and other atrocities

 

Das Land der Mehlschwalben

Man müsste viel mehr Zeit haben, um sich um die ausserordentliche Flora und Fauna der Gegend zu kümmern. So bleibt nur ein gelegentlicher Blick auf am Wegrand angebrachte Informationstafeln.

Offenbar gibt es hier Mehlschwalben, ich zitiere aus Wikipedia:

Window SwallowDas Verbreitungsgebiet der Mehlschwalbe erstreckt sich über fast ganz Europa und das außertropische Asien. Trotz dieses großen Verbreitungsgebietes werden lediglich zwei Unterarten unterschieden. Mehlschwalben sind ausgeprägte Zugvögel. Die westeurasischen Brutvögel überwintern in der Regel in Afrika in einem Gebiet, das sich von der Südgrenze der Sahara bis zur Kapprovinz erstreckt.

Auch ein Weitwanderer oder eher Weitflieger. Sie hat natürlich meine ganze Sympathie.

Man stelle sich vor – sie fliegt aus unseren Gegenden bis zur Sahara, was schon mal ein ziemliches Stück ist, aber nein, sie fliegt gelegentlich sogar bis nach Südafrika, wenn sie Lust hat.

Da sieht man mal wieder, welche Vorteile die Kunst des Fliegens bringt. Nicht 500 mühsame Kilometer zu Fuss, nein, 5000 oder noch viel mehr Kilometer in der Luft, getragen von den Strömungen, leicht wie eine Feder und trotzdem kräftig und mutig, überqueren sie Meere und ganze Kontinente.

Ich ziehe nicht nur den Hut, ich verneige mich.

Übrigens, um nicht zu vergessen, Europa allein hat während der letzten Jahre 600 Millionen Vögel verloren. Siehe Artikel.

 

Aufwärts mit Gewitter

Bei einer Mühle am Fluss (Le Moulin Jeannottat), längst ausser Betrieb, mache ich auf dem einzigen trockenen Platz eine kurze Pause, lausche zum letzten Mal dem verzaubernden Gurgeln des Flusses, der in kurzer Zeit meine ganze Liebe gefunden hat. Hier zweigt der Weg ab.

Den Doubs im Rücken folgt nun der teils steile Aufstieg durch urwaldähnliche Waldabschnitte und über verträumte Weiden. Bis nach Les Pommerats sind es etwa 400 Höhenmeter. Auf dem Hochplateau der Freiberge angekommen, betritt man stilles Land mit dunklen Wäldern, offenen Weiden, alten Baumbeständen und verstreuten Bauernhöfen, umgeben von Pferden, Kühen und Schafen.

Es geht nun tatsächlich steil aufwärts, schon nach kurzer Zeit hört man mein Schnaufen und Prusten weitherum. Ich taste mich langsam bergauf, durch eine grüne Welt, tatsächlich eine Art Urwald, in dem man sich fremd vorkommt, ein ungebetener Gast.

 

Up the hill, sweating

A jungle, might be in Hobbit country

Dead trees and the path

Mitten im Urwald, gerade noch so still wie ein Urwald eben ist, überfallen mich aus dem Nichts schwere Regentropfen, die Prognose ist für einmal leider zutreffend. Also zügig die Regenmontur überziehen, was sich bei meinem neuen Rucksack als gröberes Problem herausstellt. Auf jeden Fall bin ich immer noch am Fluchen, als der Regen genauso plötzlich aufhört, wie er begonnen hat.

Allerdings bin ich nun gewarnt, das nächste Mal lasse ich mich nicht mehr so leicht überraschen.

 

It gets easier - a bit Les Pommerats - the next village

 

Einsam und verlassen

Immerhin erreiche ich irgendwann eine ebene Wiese, atme kurz durch, denn das ist erst Les Pommerats. Der Weg wird angenehmer, nach einer Viertelstunde kreuze ich ein abgelegenes Haus, offenbar verlassen und einsam.

 

Abandoned farm house - sad

Haustür und Fenster sind überwachsen, es macht den Anschein, als wäre eine Ewigkeit niemand mehr hier gewesen. Eine Satellitenschüssel hängt noch beim Eingang, die letzten Signale sind längst verstummt.

Verlassene Häuser machen mich traurig, sie entbehren jetzt alles, was sie früher zum Leben gebraucht haben.

ripe grapes ready for picking

Vielleicht ist es eine gute Idee, ihm wenigstens für ein paar Minuten eine menschliche Anwesenheit zu schenken. Ich kämpfe mich durch das hohe Gras zum Hauseingang und setze mich auf die Treppe. Neben mir, sozusagen auf Mundhöhe, wachsen die herrlichsten reifen Trauben, die nur darauf warten, gepflückt und gegessen zu werden.

Man müsste sie den Kindern zum Naschen geben oder süssen Traubensaft daraus machen. Doch sie hängen einfach da, vielleicht wenigstens ein Festmahl für Vögel und Insekten.

Dirty all overWährend ich trüben Gedanken über Vergehen und Verlassenwerden nachhänge, betrachte ich meine Beine und Füsse, was meine Stimmung auch nicht wesentlich zu verbessern vermag.

Keine Ahnung, wie ich das Zeug wieder in einen sauberen Zustand zurückbringe. Und meine Schuhe tun mir leid; inzwischen nähern wir uns gemeinsam der 1000 Kilometer Marke. Und der Hersteller Mammut hat sie bereits aus dem Sortiment genommen. Idioten!

Gemäss Wetterprognose müsste sich das Wetter ab morgen bessern, also Sonne, Wärme, blauer Himmel.

Wir werden sehen.

 

 

Eine letzte Treppe zum Himmel

Es muss so sein – mindestens einmal pro Tag bestraft mich der Herr des Wanderns (der heilige Christoporus?) mit einer steilen mühsamen Treppe, um mir damit für eine Weile jede gute Laune zu vertreiben.

Steep stair upwards, to heaven

Dann aber, aus heiterem  Himmel, der nächste feuchte Gruss.

Doch diesmal habe ich nicht die geringste Lust, mich ein weiteres Mal mit meinem blöden Regenschutz  rumzuplagen und suche Schutz unter den ausladenden Ästen einer Tanne.

So sieht es aus, wenn ein Gewitter dich ärgern will.

Ich muss mich allerdings sehr eng an den Baumstamm drücken, manchmal dreht der Wind und bläst mir seine nassen Grüsse mitten ins Gesicht.

Aber wie schon beim ersten Mal – nach ein paar Minuten geht der Spuk vorbei.

Ich traue der Geschichte nicht, und wie sich später zeigen wird, hat sich mein Bauchgefühl nicht geirrt.

 

 

Der Himmel öffnet sich

Kurz danach ist das Schlimmste überstanden, der Himmel öffnet sich, ich bin auf der Hochebene von Saignelegier und atme tief durch.

Der Regen hat sich irgendwohin verzogen, möge er dort bleiben. Ein tiefes Blau liegt versonnen über der Hochebene, ein Wolkenkragen umrahmt das Gemälde.

 

Und dann sind da endlich die Pferde. Eine alte Rasse, die Freiberger, aber eine Wohltat fürs Auge. Wenn man bedenkt, dass sie die letzte Schweizer Pferderasse sind, wird einem schon etwas traurig zumute. Aber eben, der Gang der Welt, der Lauf der Zeit …

 

The Freiberger Horses - famous race

Ich versuche zwar jede Art von Annäherung, ohne Erfolg. Verständlich, wenn man jedem dahergelaufenen Wanderer einen Blick gönnen würde, wo käme man da hin?

Wie auch immer, das Tagesziel Saignelegier nähert sich nun rasch, die ersten Häuser blicken durch die Bäume.

 

Finally arrived in Saignelegier

Der Empfang ist allerdings nicht so, wie erhofft, denn zweihundert Meter vor dem Hotel werde ich von einem neuerlichen Gewitter überrascht, und diesmal ist es ein veritabler Wolkenbruch.

Ich drücke mich zwar eng an einen Garageneingang, mit wenig Erfolg allerdings, und so erreiche ich eine Viertelstunde später mein Hotel, ziemlich nass und verärgert, aber eben, die Natur findet nun einmal im Freien statt.

 

Ein seltsames Zimmer

Mein Hotel, das Café du Soleil, im Moment eher das Café de la Pluie, scheint so eine Art Hippieunterkunft zu sein. Nichts dagegen, die Zimmer sind sehr eigen, man könnte meinen, der hohe Preis wäre durch die künstlerischen Verzierungen in den Zimmern festgelegt worden.

 

Hotel room in Saignelegier - very special

Everyone can put his own drawings on the wall

All of them French artists

Aber dann eine weitere unangenehme Überraschung. Beim Duschen entdecke ich eine Zecke, die sich in meinem Oberschenkel gegraben hat, aber bereits ihre obere Hälfte verloren hat. Ich versuche, den Rest mittels Pinzette herauszuziehen, aber auch die Hilfe des Messers bringt höchstens eine maximale Menge Blut zum Fliessen.

Den restlichen Ablauf der Operation inklusive Suche nach geeigneten Werkzeugen und Desinfektionsmitteln überlasse ich der Phantasie der Leser. Letztendlich hat mich mein Glück und mein tapferes Immunsystem einmal mehr nicht im Stich gelassen (aber auch jetzt, anderthalb Monate später, ist immer noch eine seltsame Narbe zurückgeblieben, mein einziges Souvenir an Saignelegier, dem Paradies für Pferde).

 

Passender Song:  AC/DC – Thunderstruck

Und hier geht der Trip weiter … nach St. Imier, einstige Hochburg der Schweizer Uhrenindustrie

 

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