Der Dichter Jean Paul sagte: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“

Reisen ist nicht nur eine unerschöpfliche Quelle, es ist ein Vulkan, ein Geysir an Erinnerungen. Jeder Tag bietet neue Eindrücke, nie gesehene Bilder, Begegnungen, Gesichter. Und immer dann, wenn man glaubt, alles gesehen, alles erlebt zu haben, ergibt sich etwas Neues, etwas Überraschendes, etwas, was einen normalen Tag zu einem besonderen macht.

Deswegen reise ich.

Und es sind nicht bloss die Sensationen, die zählen, nicht nur die Wasserfälle von Iguaçu, die Bergmassive in Nepal, das Chaos in Old Delhi, nein, es sind die alltäglichen, auf den ersten Blick profanen Ereignisse, die sich einprägen. Und ein kleines Bisschen zum Weltverständnis beitragen.

Auch Sucre, mit seiner reichhaltigen Vergangenheit, seiner betörenden Schönheit, bietet mehr als das Auge auf den ersten Blick entdeckt. Natürlich ist es eine einzigartige Stadt, umgeben von Hügeln und Bergen und wüstenartigen Ebenen. Rote Dächer und Mauern verstärken den surrealen Eindruck, in einer Märchenstadt zu sein. Man erinnert sich an Game of Thrones, an die roten Dächer von King’s Landing, aber es ist soviel mehr. Zeit und Geduld und ein offenes Auge sind die notwendigen Zutaten.

Mal sehen, ob der heutige Tag seinen Beitrag zum Weltverständnis beiträgt. Falls nicht, morgen ist auch ein Tag …

 

Donald Trump und das Wetter in Sucre

Das Wetter oder besser das Klima (sonst gerate ich noch in Verdacht, wie Donald Trump das Wetter nicht vom Klima unterscheiden zu können) zeigt sein Janus Gesicht.

An der Sonne ist es heiss wie bei uns im Hochsommer, im Schatten fängt man sofort an zu frieren. Es erinnert mich natürlich an Leh in Ladakh. Perfekt für eine wunderbare Erkältung. Die Nacht hat es allerdings in sich: irgendwann nach Mitternacht kriecht eine widerliche Kälte unter meine Decke und nicht mal mein ultrawarmes Odlo Shirt kann dagegen was ausrichten. Also beginnt im Halbschlaf die Suche nach einer warmen Decke und tatsächlich, im Schrank finde ich eine etwa hundert Kilo schwere Wolldecke, die innert kurzer Zeit für die erforderliche Wärme sorgt.

Welche Fauna sich darin verstecken könnte, will ich besser nicht wissen.

 

„8 de Marzo, no es una fiesta, es una protesta!“

Eine Statue steht im Zentrum des Platzes, ein idealer Ort, um Versammlungen abzuhalten. Eine Anzahl blau gekleideter Frauen haben sich dort versammelt, um ihren garantiert verdienten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Vor allem die indigenen Ethnien haben trotz der Unterstützung ihres indigenen Präsidenten Evo Morales tägliche Nachteile zu erfahren. Die Frauen sind dabei doppelt diskriminiert, erstens durch ihre Ethnie und zweitens durch ihr Geschlecht. Jeder Protest hat zwangsläufig zwar wenig unmittelbare Wirkung, aber steter Tropfen höhlt den Stein, wie man so schön sagt.

 

Female Protesters
Frauenprotest in blau
Female protest
8 de Marzo, no es una fiesta, es una protesta!
Women's day in Sucre
Si nuestras vidas no valen, produzcan sin nosotros!

 

El Dia internacional de la Mujer

„Si nuestras vidas no valen, produzcan sin nosotros!“

Wenn unsere Leben keinen Wert haben, produziert halt ohne uns! Und ähnliche Botschaften an das Männervolk. Jetzt verstehe ich. El Dia internacional de la Mujer oder der internationale Frauentag.

Ein Einheimischer, vom Aussehen her ein Indio, steht neben mir und fragt mich nach einiger Zeit, was das alles zu bedeuten habe. Ich erkläre es ihm, doch seine Miene zeigt lediglich eine grosse Verständnislosigkeit.

El dia de la mujer? No comprendo.

Solange das so ist, bleibt alles beim alten. Oder doch nicht? Ich wünsche den Frauen alles Glück dieser Welt.

 

Rundblick über Sucre

Vom Kirchturm der San Felipe Neri aus hat man gemäss Führer einen perfekten Rundblick über die gesamte Stadt.

Die Kirche ist leer, Risse durchqueren den Boden, die Bänke sind voller Staub, und obwohl der goldverzierte Altar immer noch in alter Pracht durch das Halbdunkel schimmert, ist sie nicht mehr in Betrieb (ausser für Hochzeiten, wie mir die Dame, die den Eintrittspreis einzieht, erklärt). Dabei ist es die älteste Kirche der Stadt, ein wunderschönes Denkmal längst vergangener Architekturkunst.

 

San Felipe Neri
Innenraum San Felipe Neri
San Felipe Neri 2
Von aussen immer noch grossartig

San Felipe Neri 3

Der versprochene Rundblick vom Dach aus ist keineswegs übertrieben. Man muss zum Zweck der Aussicht erst mal den düsteren engen Aufstieg bewältigen. Die Dame hat zwar das Licht angedreht, allerdings dürfte es nicht mehr als eine 5-Watt Birne sein. Ich stolpere also vorsichtig die viel zu hohen Stufen hoch und stehe dann staunend vor dem Anblick, der sich dem Auge bietet.

Etwas Leichtes liegt in der Luft, etwas Schwebendes, Schwereloses. Es scheint, als hätte die Stadt an diesem Tag ihr schönstes Antlitz aufgesetzt. Im Licht, das in verschwenderischer Fülle aus dem Himmel strömt, schimmert sie wie ein Juwel inmitten der Einöde.

 

San Felipe Neri Sucre von oben Sucre from above

Kirchtürme ragen aus dem Häusermeer, weisse Monumente inmitten der roten Dächer. Strassen und Gassen ziehen sich spinnwebenartig zwischen den Häusern durch, voll von hupenden Vehikeln, verschwinden an den Hügeln, in den dunklen Kavernen entlang der Häuserreihen.

In diesen Momenten ist man einfach nur glücklich, auch wenn es der letzte Anblick im Leben wäre.

Die Stadt breitet sich nach allen Seiten aus, wird wohl in den nächsten Jahren viel Acker- und Kulturland mit den Segnungen der Zivilisation zudecken. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine weitere Kirche, deren Turm man besteigen kann. Ein paar Asiaten winken mir heftig zu, schiessen ununterbrochen Fotos, halten triumphierend die Arme in die Höhe, als hätten sie die Eigernordwand durchstiegen.

 

Apfelkuchen und Reissverschlüsse

In einem Kaffee, geführt von zwei jungen Damen, entdecke ich tatsächlich ein Stück Apfelwähe. Apfelwähe? Keine Einbildung des Geistes, eine Fata Morgana in dieser kulinarischen Wüste? Nein, es ist wahr, und sie schmeckt besser als jede zuhause.

Ach, diese kleinen wunderbaren Momente, so wenig kann sie auslösen …

Gegen Abend viel zu tun. Wäsche abholen und vor allem, einen Besuch bei meinem Schneider (!) abstatten. Er hat das Problem meiner Hose gelöst. Der Reissverschluss meiner zweiten Trekkinghose (ausgerechnet die mit den langen Beinen) ist nämlich kaputt gegangen. Und tatsächlich, er hat sie perfekt geflickt, beziehungsweise einen neuen Reissverschluss angebracht. 15 Bolivianos. Wirklich? Das sind umgerechnet 2 Franken. Immer wieder erstaunlich, diese Unterschiede.

 

Barca vs. Paris Saint-Germain

Auf der Suche nach einer Bar für den Apéro höre ich durch ein Fenster lauten Radau. Der Fernseher läuft auf voller Lautstärke, das Lokal ist brechend voll, die meisten Besucher sind Touristen. Natürlich, Champions League, Barca gegen Paris St. Germain. 0:4 im Hinspiel, jetzt die letzte Chance für Barca, das Spiel zu drehen.

Das kann ich mir nicht entgehen lassen, obwohl bereits die 70. Minute läuft und es 3:1 für Barca steht. Das wird schwierig. Ein junger Mann, Alan aus England, lädt mich an seinen Tisch ein, und nun verfolgen wir gemeinsam die letzten Minuten eines Spiels, das in die Geschichte eingehen wird.

Meine Jahre als Fussballfan sind lange vorbei. Korruption, zuviel Geld, Idioten auf dem Spielfeld und daneben, haben mir die Lust gründlich verdorben, doch das, was heute abgeht (trotz offensichtlichen Schiedsrichterfehlern), lässt mich die alte Euphorie wieder spüren.

Das 6:1 kurz vor Schluss löst in der Bar eine Explosion aus, die ich lange nicht mehr erlebt habe. Wow! Mit Ausnahme der traurigen Mienen einiger französischer Gäste sieht man nur glückliche Gesichter im Wissen, ein ausserordentlichen Moment im internationalen Fussball miterlebt zu haben.

 

Kilometerstand: 2960

Song zum Thema:  Gillian Welch – I’m not afraid to die

Und hier geht der Trip weiter …

 

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