Der alte Mann, verantwortlich für die Rezeption am frühen Morgen, sieht etwas verschrumpelt aus in seinen Pijamas und den müden Augen.

Wir tauschen verschlafene Blicke aus. Er begrüsst mich mit heiserer Stimme, ich mit ebensolcher zurück, denn es ist gerade mal halb sechs. Alles, was ich möchte, ist den Schlüssel abgeben und mich auf den kurzen Weg zum Busbahnhof machen. Der Weg dahin, den ich gestern gegangen bin, ist kaum sieben Minuten lang, also eigentlich ein Klacks, den man auch mit Rucksack mühelos bewältigen kann.

Allerdings, und das wird mir schnell klar, ist die Aussentüre verschlossen, und muss durch die Rezeption geöffnet werden.

Das wäre eine kleine Sache, doch eben, ich habe nicht mit den besonderen Gefahren eines brasilianischen Morgens gerechnet.

 

Die besonderen Gefahren der brasilianischen Dämmerung

Denn der Mann schaut mich mitleidig an, hebt einen warnenden Finger. Nicht um diese Zeit, mein Freund! Das ist viel zu gefährlich!

Zu gefährlich? Was denn? Dass ich mich verlaufen könnte?

Doch mein Witz stösst auf taube Ohren. Trotz Schnellschuss-Brasilianisch verstehe ich, was er meint. Die Gefahr, in der frühmorgendlichen Dämmerung überfallen zu werden, ist gross. Wirklich? Der naive Einfaltspinsel aus der friedlichen Schweiz kann sich so etwas beim besten Willen nicht vorstellen.

Der Mann, dessen Vorsicht und Überzeugungskraft mir jeden Widerstand genommen haben, ruft also ein Taxi und rät mir, erst aus dem Haus zu gehen, wenn es da ist.

Wow! Wo sind wir denn da gelandet? In der South-Bronx oder in Chicagos Downtown?

Aber er hat natürlich recht. Es ist tatsächlich immer noch ziemlich dunkel, die Strassen sind absolut menschenleer, also genau die richtigen Voraussetzungen, um einen etwas unbedarften Traveller um seine Habseligkeiten zu erleichtern.

Das Taxi stoppt vor dem Hotel, der Fahrer winkt mir zu, offenbar zieht er es vor, in Sicherheit zu bleiben.

 

Das freie Land

Der Busbahnhof allerdings wimmelt bereits von Leben, mein Bus ist überfällig, also esse ich erst mal einen Happen und trinke einen Kaffee. Das überlebenswichtige Ritual am Morgen, das den Tag mit vollem Magen begrüsst, darf auch heute nicht fehlen.

Der Bus ist mehr oder weniger leer, mit mir zusammen sind wir gerade mal etwa zehn ziemlich müde aussehende arme Seelen.

Aber der Bus ist Klasse: viel Platz für die Beine, alles modern und sauber, wenn ich da an Indien denke …

First-Class Bus
First-Class Bus

Die Stadt scheint sich endlos hinzuziehen. Na ja, ist ja auch eine der grösseren Städte Brasiliens, Hauptstadt des südlichen Bundesstaates Rio Grande do Sul, die gesamte Metropolregion umfasst mehr als 30 Städte und zählt etwa vier Millionen Einwohner. Es dauert also seine Zeit, bis die endlosen hässlichen Industriegebäude hinter uns zurückbleiben und man endlich das freie Land erreicht.

 

From Porto Alegre to Chapeco

Falls man nun Wiesen mit weidenden Kühen erwartet – weit gefehlt! Die Kühe lassen sich über die gesamte Fahrt an zwei Händen abzählen. Bäume und Sträucher, wild wachsend, erinnern an frühere Zustände der Landschaft. Dazwischen ein paar verhutzelte Hütten und Häuser.

 

A few huts and nothing else
Ein paar armselige Hütten
Is this the rest of the jungle?
Sind das die Überreste des Dschungels?

Die Fahrt ist meditativ, man versinkt in allerlei Gedanken, das Dröhnen des Motors steuert den Soundtrack dazu bei. Manchmal tauchen seltsame Bäume auf, ich muss im Internet nachsehen. Es handelt sich um Aurakarien, sie sehen aus wie überdimensionierte Schirme, sehr hoch (ich schätze bis 50 Meter). Die Äste strecken sich zuoberst waagrecht im Kreis und erwecken damit den besagten Eindruck eines Lampenschirms.

 

Aukarien Trees

Wikipedia gibt Antwort: es handelt sich um Araukarien, immergrüne Nadelbäume, deren Stämme 30-40 Meter hoch, in seltenen Fällen bis 50 Meter hoch werden können. Sie können bis 600 Jahre alt werden. Ich fürchte allerdings, dass diese wenigen übrig geblieben Exemplare genauso der Axt der rodungswütigen Brasilianer zum Opfer fallen werden wie alles andere.

 

Eine grüne Wüste

„Alles was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.“ (Charles Darwin)

Es dauert keine halbe Stunde, da taucht etwas auf, was mich sprachlos und wütend macht.

Die Bäume und Büsche und Hütten sind verschwunden, verdrängt, ersetzt, aufgesogen von einem endlos scheinenden grünen Meer, das sich über hunderte von Kilometern bis zum Horizont ausdehnt. So weit das Auge reicht, ziehen sich Wellen, mal dunkelgrün, mal etwas heller, über Ebenen und sanfte Hügel.

Ich denke zuerst an Teeanbau, irgendwie erinnert es mich an die Hügel in Südindien, auf denen bunt gekleidete Frauen die Teeblätter zupfen, doch irgendwie zweifle ich daran.

Das hier, was immer es ist, erinnert an englische Rasen, wie sie idiotische Hausbesitzer auch bei uns lieben, genauso leblos, genauso eine traurige Wüste, homogen, alles andere Leben verdrängend, vernichtend.

Die Einsicht kommt mit Verspätung.

Soja! Natürlich.

Brasilien ist ja nach den USA der weltweit grösste Produzent von Sojabohnen. Das, was hier ursprünglich war, ist verschwunden, plattgewalzt worden durch eine Agrarindustrie, die keine Beziehung zur Natur hat, es zählt nur die Rendite.

Zurück bleibt eine eintönige Wüste, ein trauriger, langweiliger Anblick, der nur durch gelegentliche, leider sehr seltene Teilstrecken unterbrochen wird, wo man durch eine Art Dschungel fährt, eine Erinnerung, wie es vorher gewesen sein muss. Und für diese Sojabohnen ist ein grosser Teil des ursprünglichen Waldes gerodet worden und wird immer noch gerodet. Traurig …

Man möchte dem Anblick so schnell wie möglich entfliehen.

Der Anblick ist nicht nur für den Geist depriminierend, der kurzen Nacht muss man auch sonst Tribut zollen, und so nicke ich immer ein, genauso wie alle anderen Passagiere, man hört kein Wort, kein Lachen, nur ein gelegentliches leises Schnarchen.

Der Bus hält immer mal wieder in irgendwelchen Dörfern am Rande der Welt, ein, zwei Passagiere nehmen Platz, machen es sich bequem und schlafen ein. Nach ein paar Stunden tatsächlich ein Halt bei einem Restaurant, vinte e cinco minutos Aufenthalt.

Meine Barreserven in Reais (dem Plural von Real, der hiesigen Währung) sind am Schrumpfen, also bezahle ich wie jedermann hier in Brasilien mit der Kreditkarte, auch wenn es nur ein paar Rappen sind. Natürlich bin ich weit und breit der einzige Ausländer, und wenn ich an der Kasse wieder mal rein gar nichts verstehe, ernte ich neugierige Blicke von allen Seiten. Wo zum Teufel bin ich hier gelandet?

 

Chapeco – am Rand der Welt

Der Rest ist schnell erzählt. Durch weitere endlose Sojafelder nähern wir uns Chapeco, einer Stadt im scheinbaren Nirgendwo, vom dem wahrscheinlich nicht mal die Brasilianer selbst grosse Ahnung haben.

Und doch, da fällt es mir endlich ein, woher ich den Namen kenne. Chapecoense – der Fussballclub der Stadt, der 2016 zur tragischen Berühmtheit wurde, als das Flugzeug auf dem Weg nach Kolumbien abstürzte und der grösste Teil der Mannschaft ums Leben kam.

Mit meinen allerletzten Münzen (bei Taxis funktioniert die Kreditkarte nicht) lasse ich mich zu meinem Hotel kutschieren, und ich muss zugeben, das ‚Almasty‘ ist eine gute Wahl.

Allerdings ist die nächste Bank oder zumindest ein ATM Automat, um endlich zu Geld zu kommen, ausschliesslich im Shoppingcenter zu finden, und dieses liegt mindestens 6 km von hier. Autsch! Aber dieses Problem verschieben wir auf morgen, der Nachtbus nach Foz do Iguacu fährt ja erst nach 22.00 Uhr ab, also genügend Zeit, um den Tag totzuschlagen …

 

Kilometerstand: 1459

Song zum Thema: Pearl Jam – Quick Escape

Und hier geht die Reise weiter …

 

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