Es muss früher Morgen sein, schwache Dämmerung, aber es könnte auch das Licht der Strassenbeleuchtung sein.

Wie schon so oft, an einem unbekannten neuen Ort, schleicht sich eine seltsame Verwirrung ein: ich weiss nicht, wo ich bin.

Die Welt ist stumm und dunkel. Der Blick auf die Uhr würde das Rätsel lösen, aber ich bin zu müde. rühre mich nicht, lausche auf Geräusche. Ist es ein Traum?

Der Kopf ist noch durcheinander, die Bilder der vergangenen Tage fliessen ineinander über, der Rio de la Plata, eine beleibte Dame im Bus, Menschenmengen, Gesichter und lange Alleen, Kühe auf endlosen Weiden, deren Grenzen am Horizont verschwimmen.

Und doch, langsam lichtet sich das Dunkel, das Zimmer erhält Konturen und Farben, die Schatten werden zu Gegenständen, zu Tisch und Stühlen und Bilder an den Wänden.

Porto Allegre. Das muss es sein. Und wie auf Kommando fängt sich draussen der Tag an zu regen. Hupen. Automotoren. Ein abfahrender Bus. Stimmen. Gelächter.

Ich bin im Tag angekommen.

Pläne beim Frühstück

Der Tag hat Fahrt aufgenommen, ich bin wieder mal der letzte beim Frühstück, man wirft mir diese vertraute Mischung aus halbwegs freundlichen und prüfenden Blicken zu. Ich setze mich, noch ganz bei mir, das wird sich schnell ändern. Der Raum ist klein, aber erfüllt von vielen Stimmen, Einheimische, ich bin der einzige Alien in dieser homogenen Gesellschaft.

Es gilt heute Porto Alegre zu erobern, d.h. die Türen zu seinem versteckten Inneren zu öffnen, sehen, ob es was Besonderes gibt. Aber wie immer zuerst – ein Running Gag wie viele andere – der Gang zum Busterminal, um ein Ticket zur nächsten Destination zu erwerben.

Das Ziel heisst Chapeco, keine Ahnung, wie das korrekt ausgesprochen wird (was spätestens am Busschalter eine kleine Verwirrung hervorruft, da ich den Namen völlig falsch ausspreche und es einige Zeit dauert, bis der arme Kerl begreift, wohin ich will). Ich weiss absolut nichts über diese Stadt, auch wenn eine diffuse Erinnerung an den Namen im Kopf herumschwirrt.

Das Ziel ist einmal mehr, nach Möglichkeit während des Tages zu fahren, was aber leichter gesagt als getan ist. Die Strecken in diesem riesigen Land sind lang und die Tage heiss, sodass man lieber während der Nacht reist und sich damit auch noch die Übernachtungskosten im Hotel sparen kann. Will man dies vermeiden, wird es kompliziert. Die Strecke nach Foz do Iguacu ist um die 900 km lang, also ideal für eine Nachtfahrt.

Ich habe lange nach einer Lösung gesucht und tatsächlich eine halbwegs vernünftige gefunden. Man kann die Strecke in zwei ungefähr gleich grosse Hälften teilen. Die Abfahrt ist allerdings um 6.30, also ist eine Frühschicht angesagt. Ein Hotel in Chapeco ist schnell gefunden, allerdings bleibt ein winziges Problem: ich habe nämlich trotz langem Suchen noch keinen Bus gefunden, der die zweite Hälfte des Weges nach Foz do Iguacu abfährt. Na ja, wir werden sehen …

Eine mit Würde getragene Beleibtheit

Dann also Porto Alegre, das seinem vielversprechenden Namen hoffentlich alle Ehre erweisen wird.

Das Gewusel  in der Altstadt ist ebenso dicht wie gestern, und so bleibt der Schritt langsam, die Sinne gespannt. Ist auch besser so, denn die Sonne ist heiss, und auf der Stirn sammelt sich der Schweiss.

 

Als erstes suche ich mir den kürzesten Weg zum Busterminal, um für morgen früh schon mal den Weg vorzuspuren. Kann nicht schaden, wenn man weiss, wo’s durchgeht. Vor allem in der Dämmerung.

Es ist klar ein anderer Menschenschlag als derjenige in den spanischsprachigen Ländern. Eine gewisse mit Würde getragene Beleibtheit hat sich eingeschichen, man glaubt gelegentlich, auf der Fifth Avenue in New York zu sein. Während der letztjährigen Olympiade gab ein Reporter den wenig charmanten Satz von sich, dass er in Rio vergeblich nach all den berühmten Schönheiten des weiblichen Geschlechts gesucht habe. Ohne jemandem nähertreten zu wollen – ich verstehe, was er meint. Es ist beileibe nicht so, dass die Leute hässlich wären, im Gegenteil, nur sind sie einfach nicht hübscher als anderswo.

Was nicht allzu viel heisst.

Fremder in einem fremden Land

Das Blöde ist, dass ich mich mit niemandem unterhalten kann. Dieses Kalaschnikoff-Brasilianisch, das mir ungeachtet meines völlig verständnislosen Blickes um die Ohren gehauen wird, könnte ebenso gut Kantonesisch oder Swahili sein. Auch der Versuch, dem Gegenüber beizubringen, dass man nichts, aber auch wirklich gar nichts verstanden hat, führt zu weiteren Wortkaskaden, die genauso wenig zum Ziel führen wie alles vorherige. Dabei soll die Stadt einer der fortschrittlichsten Orte Brasiliens überhaupt sein; viel Industrie, Handel, Weltwirtschaft.

Ja Himmel nochmal, wie unterhalten sich die Leute mit dem Ausland?

Zitat aus Wikipedia: Das Bildungssystem ist gut entwickelt.

Aber die Menschen sind fröhlich, so wie das Cliché es will, fröhlich und auf eigene Weise mit der Welt, in der sie leben, im Reinen. So kommt es mir als Stadtflanierer vor, was allerdings nicht heissen will, dass meine sehr subjektiven Beobachtungen auch zutreffen. Wie auch immer, gemäss Wikipedia soll die Avenida Cristovao Colombo eine der Strassen sein, wo sich Pizzeria an Pizzeria reiht, wo es deutsche und Schweizerküche geben soll.

Warum nicht.

Ich mache mich also auf den Weg, wie meistens völlig uninteressiert an irgendwelchen Monumenten (von denen es einige geben soll) oder weiteren Kirchen und Kathedralen (wo den Armen auch heute noch das Geld abgeknüpft wird) und grossartigen Palästen und Wolkenkratzern und anderen Sinnbildern monströser Verschwendung und Überheblichkeit.

Der Weg zur Avenida Colombo ist allerdings elend lang, aber ich sehe in Gedanken bereits ein wunderbares Mittagessen vor mir, begleitet von einem kühlen Bier.

Die Avenida fängt aber so bescheiden an, dass ich nicht mal merke, dass ich sie bereits überquert habe, und dies sollte mir eigentlich bereits Warnung genug sein. Es wird nicht besser, die Strasse bleibt ärmlich, irgendwie heruntergekommen, und auch dort, wo sie breiter wird, fehlen die vielen Pizzerias und die anderen berühmten Restaurants, und während mein Magen immer lauter knurrt, wird mein Ärger immer grösser.

Bei Wikipedia ist es immer das gleiche: entweder trifft die Behauptung zu, oder sie trifft nicht zu, oder sie trifft nicht mehr zu.

Ein saftiges Stück Fleisch

In unserem Fall scheint die dritte Variante zuzutreffen. Dieses Gebiet könnte durchaus einmal eine Blütezeit erlebt haben, heute jedoch ist es ein müder Spiegel früherer Grösse und Schönheit. Viele Geschäfte sind geschlossen, verriegelt, heruntergekommen, keine einzige Pizzeria ist übriggeblieben, von deutscher und Schweizer Küche ganz zu schweigen.

Nun denn, ich bin aber trotzdem noch hungrig und finde mich schliesslich wieder in einem der typischen Restaurants wieder, wo es ein Buffet gibt, und ein freundlicher Kellner mir im berüchtigten Schnellschuss-Brasilianisch die Küche erklärt, was mich zwar einigermassen verwirrt, mir aber trotzdem zu einem wirklich guten Essen verhilft.

Als bescheidener Schweizer nehme ich mir aber so wenig, dass sich der Kellner erbarmt und mir ein saftiges, frisch gebratenes Stück Fleisch auf den Teller legt. Das nenne ich mal Gastfreundschaft und versöhnt mit schlussendlich doch noch mit der leider nicht mehr sehr mondänen Avenida Cristobao Colombo …

Es versöhnt mich irgendwie auch mit der Stadt, leider die einzige in Brasilien, die ich besuche. Kann sie als Beispiel dienen, für andere Städte, für das Land an sich, für die Lebensweise und Lebenskunst der Einheimischen? Ich weiss es nicht, aber gewisse Charakteristiken dürften zutreffen. Es gibt viel Armut, neben viel Geld und Wohlstand, die alten und bekannten Diskrepanzen in allen Ländern Südamerikas. Aber da ist auch die Freundlichkeit der Einheimischen, die fröhliche Art, das Leben trotz aller Widerwärtigkeiten als ein Geschenk zu sehen und es zu geniessen.

Das soll mir eine Lehre sein.

Kilometerstand:  994

Song zum Thema:  The Dead South – The good Lord

Und hier die Reise weiter – westwärts

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