Die Logik dieser Geschichte ist die Logik eines Traums, eines Albtraums. [Franz Kafka – Der Prozess]

Der berühmte Satz von Kafka könnte auf unsere seltsame Reise angewandt werden. Denn unsere Reise, unsere Geschichte, hat tatsächlich eine gewisse Logik. Wir wissen es nie zum Voraus, ob der Tag ein Traum oder, wie so oft, ein Albtraum wird. Vielleicht überraschen uns heute perfekte leere Strassen, vielleicht heisst uns ein Restaurant neben der Strasse mit Bratwurst und Rösti willkommen, vielleicht …

Natürlich sind es Visionen, Phantome, Fata Morganas unserer übermüdeten Gehirne, sie sind das, was sie sind – reine Phantasie. Doch nur schon der Gedanke daran lässt das Wasser im Mund zusammenfliessen, denn alles, was zum heutigen Essen bereitliegt, sind Kokosnüsse. Ich schwöre, ich werde nie mehr im Leben eine Kokosnuss auch nur berühren.

Die (temporäre) Gunst der Götter

Wie auch immer, der heutige Tag wird für eine gewisse Zeit der letzte auf indischem Boden sein. Die berühmte Brücke über den Ganges führt auf eine erstaunlich gute Strasse, die gegen Norden führt. Sollten sich unsere Träume erfüllen?

Hat sich einer der vielen indischen Götter erbarmt? Wir akzeptieren jeden, sei es Brahma, der Schöpfer, Vishnu, der Erhalter oder Shiva, der Zerstörer. Auf Shiva würden wir gerne verzichten, Zerstörung haben wir zur Genüge gesehen und liegt nicht zuoberst auf unserer Liste.

Viel lieber wäre uns allerdings der Liebling aller, der elephantenköpfige Ganesh, der „Entferner der Hindernisse“. Na, wenn das kein Versprechen ist. Auf jeden Fall halten wir bereits Ausschau nach Bratwurst und Rösti.

Und endlich die Grenze

Man sollte offenbar die Gunst der Götter nicht allzu sehr strapazieren, das kann gehörig in die Hosen gehen. Und tatsächlich, nach 80 Kilometern endet der schöne Traum abrupt. Wir sollten eigentlich nicht überrascht sein und sind es doch, denn das, was uns nun bis zur Grenze begleitet, übertrifft die schlimmsten Erwartungen.

Als müsste sie für Abwechslung sorgen, hat sich die Strasse etwas Neues einfallen lassen. Sie ist zwar immer noch unüblich breit (herzlichen Dank!), dafür längs und quer mit Wellen und Rinnen überzogen, die das Fahren zu einem Albtraum machen (Hallo Franz). Nachdem die gequälten Stossdämpfer zum ersten Mal durchschlagen und unsere Köpfe an der Decke landen, gilt es, das Tempo zu drosseln und langsam und irgendwie grimmig der Grenze entgegen zu schleichen.

Raxaul und Birganj

Raxaul ist nicht unbedingt ein Ort, an dem man verweilen möchte. Zu lärmig, zu hässlich, zu indisch (sorry, alle Inder!) also entschliessen wir uns, die Grenze noch an diesem Tag zu überqueren. Es ist noch früh am Nachmittag, und folgedessen möchten wir die zu erwartenden nervtötenden Prozeduren an der Grenze möglichst schnell hinter uns bringen.

Erstaunlicherweise geht es für einmal recht schnell, auch wenn uns die Beamten wieder einmal den letzten Nerv kosten. Kann es sein, dass sie sich ihren täglichen Schuss damit holen, ein paar harmlose Touristen zu drangsalieren? Wir sind ja in ihren Augen bloss dumme, dreckige Hippies, da kann man sich schon mal ein paar Schikanen einfallen lassen.

Gut zwei Kilometer weiter wird es beinahe gemütlich. Im Gegensatz zu den indischen Kontrollen (siehe oben) werden wir von den nepalesischen Beamten zuvorkommend, freundlich und äusserst speditiv empfangen und tatsächlich, eine halbe Stunde später stehen wir vor dem Shankaracharya Gate in Birganj, und he – wir sind in Nepal.

Ein paar tausend Kilometer und so viele Länder liegen hinter uns, und jetzt – ein dreifaches Hurra – stehen wir kurz vor dem Ziel. Wir könnten nicht stolzer sein, obwohl die Zweifel nie ganz verflogen, ob wir es tatsächlich schaffen könnten. Man denke bloss an unser Auto, unser geliebtes/gehasstes Vehikel, das uns trotz aller Probleme bis hierher gebracht hat.

Doch mit der geschwellten Brust vermischt sich langsam ein leises Unbehagen, denn von nun geht’s wieder zurück. Der lange Heimweg wartet.

Wir fahren also mit Stolz durch das berühmte Shankaracharya Gate und fühlen uns sich sehr willkommen. Das Chaos in den Strassen unterscheidet sich allerdings in Nichts von demjenigen im Nachbarstaat – dichter Verkehr, Hupen, tausend Leute auf ein paar Quadratmetern.

Eine Übernachtung ist schnell gefunden, ein Garten, ein Haus, eine Dusche, mehr braucht es nicht. Und tatsächlich, wir schlafen beinahe wie die (indischen) Götter.


Nebel und eine Blaskapelle

Der erste verschlafene Blick nach draussen zeigt Erstaunliches, ein Wetterphänomen, das wir lange nicht mehr gesehen haben, nämlich dichter, gelblicher, ekelhaft feuchter Morgennebel.

In der Nacht, gezwungen, den warmen Schlafsack zu verlassen, um den Befehlen meiner in letzter Zeit arg strapazierten Gedärme (Kokosnüsse?) nachzukommen, stand der Mond noch in aller Pracht am Himmel und kündigte einen sonnigen Tag an.

Das hat sich in den letzten Stunden geändert. Die Feuchtigkeit ist überall. Alles tropft vor Nässe, sogar im Wageninneren haben sich die Fenster beschlagen. Und oho, der Motor lässt sich kaum noch starten. Offenbar hat die Zündung ebenfalls eine Portion Nässe abgekriegt.

Zur Kompensation scheint sich der frühe Morgen einen besonderen Leckerbissen ausgedacht zu haben. Während ich noch ziemlich angepisst in den Nebel starre, erklingen fremdartige Klänge aus dem undurchdringlichen Weiss, und je näher die Musik kommt, umso klarer wird, dass es sich um eine Blaskapelle handeln muss.

Und tatsächlich – man muss sich das Bild vorstellen – aus dem Nebel tauchen geisterhafte Gestalten auf, als wären sie einer Kurosawa-Unterwelt entsprungen, und marschieren in geordneten Reihen für ein paar Sekunden an mir vorüber, ohne mir einen Blick zu gönnen.

So stolz ihre Gesichter wirken, so grauenhaft falsch die Töne, die sie ihren Instrumenten entlocken. Und dann verschwinden die Phantome wieder in der weissen Suppe, als wären sie nie dagewesen, die Klänge verebben. Ich schaue ziemlich entgeistert hinterher und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Ein Morgen kann nicht besser beginnen.

Zerstörte Brücken

Die ersten 50 Kilometer der gut 190 bis Kathmandu führen auf einer beinahe geraden Strasse durch dichten Dschungel, eine Wohltat nach den letzten Tagen und Wochen.

[Man beachte, dass die obenstehende Karte die heutige Situation abbildet; anstelle der alten Strasse sind für den dichter gewordenen Verkehr moderne Highways gebaut worden, die zwar kürzer sind, die Verkehrsteilnehmer dafür mit Staus und dergleichen beglücken.]

Allerdings hat der Monsun für ein paar böse Hinterlassenschaften gesorgt. Immer wieder stehen wir vor zerstörten Brücken, die den Verkehrsfluss zum Erliegen bringen. Allerlei Vehikel stauen sich vor den Hindernissen, denn die Flussbette, die man nun durchqueren muss, sind voller Schlamm. Für einmal sind unsere Winterreifen ein Vorteil – wir bewältigen auch die schlimmsten Behinderungen ohne Probleme.

Über den Berg

Wir sind uns an allerhand gewöhnt, doch das, was uns nun erwartet, stellt alles Bisherige in den Schatten. Viele Jahre später werde ich dran denken, auf einer der gefährlichsten Strassen der Welt, auf dem Leh-Manali Highway in Ladakh im indischen Himalaya. Dann wird sich ein Kreis schliessen, der hier, auf dem Weg nach Kathmandu begonnen hat.

Wir befinden uns nun auf dem Tribhuvan Highway, der Birganj mit der zentral gelegenen Hauptstadt Kathmandu verbindet. Er enstand 1956 mit indischer Hilfe und war somit die erste Strasse, die Kathmandu mit der Aussenwelt verband.

Was allerdings nicht dazu führte, dass die Strasse einfach zu befahren ist, denn geradezu unheimliche Steigungen wechseln sich ab mit spitzen 180-Grad Kurven, die mit unserem armen, schwachen 1200cc Motor nur im ersten Gang zu bewältigen sind.

Der Tribhuan Highway [Von Sundar1 – Eigenes Werk]

Alle paar hundert Meter haben Runsen die Strasse komplett zerstört. Im Schneckentempo sind sie eben noch zu befahren, wenn auch mit erhöhtem Puls. Und so winden wir uns Meter um Meter den Pass hinauf, die Luft wird dünner, und man glaubt zu spüren, wie der Motor Liter um Liter des teuren Benzins verbrennt.

Und dann die ganze Pracht vor uns

Noch vor der Passhöhe, blinken die ersten Riesen der Himalaya-Kette herüber, schillernd am blauen Himmel, gleissend in ihrer ganzen glorreichen Pracht.

Daman mit Blick auf den Himalaya

Doch dann, auf der Passhöhe in Daman, liegt die ganze Bergkette in ihrer überwältigenden Herrlichkeit vor unseren Augen. Natürlich können wir nicht alle der berühmten Achttausender identifizieren, wir glauben aber, den Mount Everest zu erkennen, den Annapurna, vielleicht den Manaslu, aber im Grunde genommen ist es egal.

Panorama des Himalaya, aufgenommen von einem Astronauten an Bord der ISS

Was soll man sagen? Es gibt jene Momente im Leben, die sich einprägen, nicht nur im Langzeitgedächtnis, sondern ganz tief im Inneren, dort, wo die wichtigen Dinge lagern. Wir stehen da, überwältigt, sprachlos, und wissen, dass uns dieser eine Augenblick, wo uns das Himalaya-Massiv in seiner ganzen Anmut begrüsst, die Schönheit der Welt zeigt.

Abwärts

So überwältigend das Schauspiel vor unseren Augen ist, wir können es nicht lange geniessen. Der Weg bis Kathmandu ist noch lang, über 80 schwierige Kilometer sind zu bewältigen, und es ist bereits spät geworden.

Die Fahrt ins Tal von Kathmandu hinunter ist allerdings nichts, wovon man berichten möchte. Die Route ist monoton, unangenehm zu fahren, mit Kurven und Steigungen, mit Löchern, Rinnen, Wellen, Gegenverkehr, also alles, was es für eine Abfahrt braucht, die schnell vergessen werden sollte.

Aber dann – am Ziel

Das Gefühl, das Ziel erreicht zu haben, ist eine widersprüchliche Erfahrung, oftmals eine Mischung aus Stolz und Triumph und Dankbarkeit, aber auch Wehmut und Trauer. Ich werde ähnliche Gefühle noch viele Male in meinem Leben erfahren. Am Ende vieler Reisen und Wanderungen, so wie in Genf, am Ende des Alpenpanoramawegs oder in Mendrisio beim Trans Swiss Trail, vor allem aber in Santiago de Compostela am Ende der Via de la Plata.

Andererseits haben wir in Nepal erst ein Zwischenziel erreicht. Gegen Abend, als wir in Kathmandu ankommen, sind wir einfach nur müde und brauchen dringend ein paar Tage Urlaub. Aber was soll’s, wir sind jung, wir sind Hippies, wir sind Kinder unserer Zeit.

Passender Song:  Deep Purple – Child in Time

Und hier geht der Trail weiter … eine ganze Weile in Kahmandu

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