Südwärts

Delhi verschwindet im vormittäglichen Dunst hinter uns. Der Abschied fällt leicht, spätestens in ein paar Monaten werden wir uns auf dem Rückweg wiedersehen.

Die Strasse ist perfekt, beinahe eine Autobahn, ziemlich geradeaus in Richtung Süden, in Richtung Agra, unserem nächsten grossen Ziel. Die 220 Kilometer finden auf einer perfekten Strasse statt, Indien hält mal wieder ein paar Überraschungen bereit.

Und doch ist es der Beginn von etwas Neuem, eine Ankündigung der nächsten tausend und mehr Kilometer. Welche Erlebnisse warten, welche Einsichten, welche Geheimnisse dieses unvergleichlichen Landes? Wir sind aufs Neue voller Tatendrang, voller Neugier auf das, was kommen wird. Das Taj Mahal ist auserkoren, uns auf die nächste Stufe zu hieven.

Von Delhi nach Agra

Agra

Agra im Westen des Bundesstaats Uttar Pradesh zählt 1974 wahrscheinlich nicht mehr als eine halbe Million Einwohner (heute etwa 1,7 Millionen). Sie war mit Unterbrechungen von 1526 bis 1648 die Hauptstadt des Mogulreiches und weist mehrere zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Stätten auf.

Die Stadt kommt uns allerdings ziemlich gross und vor allem ziemlich chaotisch vor. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, was die Städte Indiens anbetrifft, vor allem wenn es darum geht, im Getümmel eine bestimmte Adresse zu finden.

Aber mindestens erhaschen wir auf der Suche nach dem Hotel eine Sekunde lang einen Blick auf das Taj Mahal. Aus der Ferne nur eine Ahnung seiner Schönheit, ein Schatten seiner Geheimnisse.

Agra mit dem Taj Mahal (Copyright Bookineo)

Wir erreichen die Stadtgrenzen, ein neuerliches Eintauchen in eine andere Welt. Und nicht überraschend will das gesuchte Hotel partout nicht gefunden werden. Dafür führt uns ein freundlicher Einheimischer zu einem anderen Etablissement, das uns vom ersten Augenblick an behagt. Es handelt sich um das Anwesen eines ehemaligen Majors der indischen Armee, der gelegentlich für 5 Rupien pro Nacht (!) ein paar Touristen in seinem Garten unterbringt.

Es ist alles da – riesige Bäume, Kühe, Hunde, Knechte und Mägde und vor allem viele Kinder. Sie sind neugierig, freundlich, und immer dankbar für ein paar Süssigkeiten. Jetzt, nach so vielen Jahren, frage ich mich, was wohl aus ihnen geworden ist.

Das Taj Mahal

Das Taj Mahal ist ein im Jahre 1648 fertiggestelltes Mausoleum (Grabgebäude) am Südufer des Flusses Yamuna am Stadtrand von Agra. Der Gebäudekern besteht, ebenso wie die Kuppel und die Minarette, aus vor Ort gebrannten Ziegelsteinen, die aussen wie innen mit weißen Marmorplatten verkleidet sind. Der Großmogul Shah Jahan liess den Bau zum Gedenken für seine im Jahre 1631 verstorbene Frau Mumtaz Mahal erbauen (Wikipedia).

Eine weit verbreitete Legende besagt, dass ein gleichartiges Bauwerk aus schwarzem Marmor als Mausoleum für Shah Jahan auf der anderen Seite des Flusses Yamuna geplant war, das aber nicht verwirklicht wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des „weissen“ Taj Mahals lag eine Parkanlage mit einem grossen Wasserbecken. Das weisse Taj Mahal hat sich in diesem Becken gespiegelt und erschien im Wasser schwarz (Wikipedia).

Anfang der 2000er-Jahre erfolgten umfangreiche Ausgrabungsarbeiten auf der dem Taj Mahal gegenüberliegenden nördlichen Seite des Yamuna. Dort wurden die Grundrisse eines oktogonalen Gebäudes freigelegt, dessen Form und Größe denen des weissen Taj Mahal entsprechen und die These des baugleichen Mausoleums mit schwarzem Marmor als Grabmal für Shah Jahan bestätigen (Wikipedia).

Die Farbe des Taj Mahal ändert sich im Laufe des Tages ständig

Neben den bereits erwähnten Infos gibt es ein paar sehr interessante Details zur Geschichte des Bauwerks:

  • Die Arbeiten dauerten 20 Jahre und benötigten 20’000 Arbeiter
  • 1000 Elefanten wurden für den Transport der Baumaterialien nach Agra eingesetzt
  • 28 Arten von Edelsteinen wurden verwendet
  • Das Taj Mahal würde heute umgerechnet 1 Milliarde USD kosten
  • Der Chefarchitekt des Taj, Ustad Ahmad Lahauri, war Perser und kein Inder
  • Das Taj Mahal ist halb so hoch wie die Grosse Pyramide
  • Die Minarette wurden mit einer leichten Neigung gebaut, um eine optische Täuschung zu erzeugen
  • Um Insektenbefall zu verhindern, wird das Taj nachts nicht beleuchtet
  • Das Taj Mahal könnte langsam im Yamuna-Fluss versinken

Der Atem stockt

Wir nähern uns dem Taj vorsichtig, langsam, beinahe demütig, atemlos, angesichts der überirdischen, zeitlosen Schönheit. Unsere eigenen Fotos sind verblasst, die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, aber sie geben trotzdem einen Eindruck der damaligen Zeit.

Im Gegensatz zum heutigen Rummel (Stichwort „Over-Tourism“) sind wir beinahe allein. Natürlich sind ein paar andere Besucher unterwegs, allein oder in Gruppen, sie sind still, schauen nur oder reden in gedämpftem Ton, Bewunderung in ihren Blicken.

Wenn ich an die heutige Zeit denke, an die Selfies, die Smartphones, die überbordenden Touristenhorden, dann befinden wir uns 1974 tatsächlich in einer Art Steinzeit.

Wir sind auf unserer Reise unzähligen grossen und kleinen Zeugen menschlicher Kunst und Kreativität begegnet wie den unvergleichlichen Moscheen in Maschhad oder Lahore, den Buddhas im Bamiyantal, oder dem Goldenen Tempel der Sikhs in Amritsar.

Doch nichts kommt an das Taj Mahals heran, an seine erhabene Schönheit, die nicht aus dieser Welt zu stammen scheint. Es ist ein Wunder, auf der unermesslichen Trauer eines Herrschers erbaut.

Wir setzen uns irgendwo hin, essen stumm, während unser Blick auf dem Grabmal von Mumtaz Mahal ruht. Wie gross muss diese Liebe gewesen sein, wie gross die Trauer nach ihrem Tod, wie ungeheuerlich der Versuch, zu ihrem Gedenken ein Denkmal zu setzen, das bis heute das Herz von Millionen rührt.

Und dann verlassen wir das Taj Mahal, wir schauen nicht zurück.

Fatehpur Sikri

In den Nachrichten erfahren wir, dass auf dem Flughafen in Teheran eine grosse Halle unter der Schneelast zusammengebrochen ist. Unter der Schneelast? Wow! Das ist eine seltsame Vorstellung, vor allem angesichts des wunderbar warmen Wetters in unseren Breitengraden.

Insgeheim hoffen wir, das wir mit dem heutigen Besuch von Fatehpur Sikri, der toten Stadt Akbars des Grossen, zum unwiderruflich letzten Mal Moghul-Ruinen besichtigen. Auch Schönes und Eindrückliches verliert mit der Zeit seine Attraktivität. Nach all den Forts und Moscheen und Türmen und weiss Gott noch alles, wäre es schön, wieder mal etwas anderes als roten Sandstein oder weissen Marmor zu sehen.

Und so ist also Fatehpur Sikri, diese tote und verlassene Stadt 40 Kilometer südwestlich von Agra, unser letztes Moghul-Ziel.

Die Stadt ist von weitem zu erkennen, öde, verlassene Ruinen auf dem Hügel thronend. Viele Jahre später werde ich eine noch viel eindrucksvollere Stadt besuchen – Hampi. Und auch sie verlassen und tot.

Fatehpur Sikri, im 16. Jahrhundert erbaut, war als Hauptstadt des Mogulreiches geplant. Doch bereits nach ein paar Jahren (1585) wurde sie auf Befehl Akbars verlassen. Einerseits war taktische Überlegungen (Feldzüge im Norden) der Grund, andererseits stellte sich Wassermangel als unlösbares Problem dar.

Auch in Hampi war die Wasserversorgung ein existentielles Problem, das nicht gelöst werden konnte. Und so stehen nun Beispiele überragender Architektur irgendwo im Niemandsland und träumen alten glorreichen Zeiten nach.

Tempel und Souvenirläden

Wenn man die wunderbaren Tempel vor sich sieht, kommt man ins Philosophieren. Da stehen sie nun, in alter Pracht und Schönheit, doch das Leben ist entschwunden, als ob es nie dagewesen wäre. Der Aufwand muss unvorstellbar gewesen sein, die Kosten nach heutigen Kriterien astronomisch. Und das alles für nichts und wieder nichts.

Und doch gibt es etwas Leben zwischen den Palästen, eine Art alternative Existenz in Form von Souvenirläden, die alles Erdenkliche anbieten, was des Touristen Herz erfreut. Zu massiv überhöhten Preisen natürlich, aber wenn die Hitze wie ein Dampfhammer über der Welt liegt und die Füsse schwer sind, dann scheinen die exorbitanten Preise für eine Dose indischen Colas plötzlich nicht mehr so hoch.

Buland Darwaza (Copyright by Marcin Białek – Eigenes Werk)

Sümpfe und Vögel und tote Tiere

Auf dem Heimweg durchqueren wir ein Vogelreservat, das mitten in einem Sumpfgebiet liegt. Skelette von Bäumen ragen aus der unheimlichen Brühe empor, Wasserbüffel pflügen, bis zum Kopf unter Wasser, durch das undurchdringliche Gewässer. Tausende Wasservögel – Pelikane, Reiher, Störche, Flamingos – flattern durch die Lüfte, einen schrecklichen Krach veranstaltend. Das Vogelliebhaberherz muss heftig schlagen.

Und etwas abseits der Strasse haben sich Geier und anderes Getier, für die Beseitigung jeglicher Art von Aas verantwortlich, versammelt und machen sich mit Heisshunger über den Kadaver einer toten Kuh her. Manchmal ist es gut, wenn man weit weg ist.

Passender Song von 1974: Ann Peebles – I can’t stand the Rain

Und hier geht der Trail weiter … in Richtung Khajuraho

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