Es geht dem Ende entgegen.

Manchmal glaube ich, in der Ferne Genf zu sehen, was natürlich nicht sein kann. Es sind immerhin noch vier harte Etappen und viele Kilometer zu bewältigen, heute nach Etoy, einem kleinen Dorf im Landesinneren.

Aber was soll’s, auch die heutige Tour verspricht eine ganze Menge:

Ohne die geringste Steigung und dennoch mit wunderbarer Aussicht auf die Savoyer Alpen spaziert man vom Lausanner Hafen Ouchy auf einem breiten Uferweg ins alte Städtchen Morges mit seinem imposanten Schloss und dem ehemaligen Kriegshafen der Berner.

Tatsächliche Werte: Länge: 23.5 km, Aufstieg | Abstieg: 725 m | 650 m, Wanderzeit: 7 h 42 min

Es ist also tatsächlich eine recht lange Etappe geworden, aber meistens dem Ufer entlang, durch Wälder und Wiesen. So wie man sich’s vorstellt.

From Lausanne to Etoy

Das Leben am See

Während ich gemütlichen Schrittes dem See entlang laufe – bis Morges bleibt ja alles flach, keine Steigungen – beobachte ich das Leben am See. Es ist Sonntag, das Wetter fühlt sich zwar schlecht gelaunt an, aber die Seeufer sind bevölkert, Mamis und Papis mit Kinderwagen, alte Leute, die Hand in Hand am Uferweg flanieren, Jogger, Biker, Badende im See und im Pool, bloss kein einziger Wanderer. Aber zum ersten Mal überhaupt stellt sich eine merkwürdige Erkenntnis ein, unerwartet und überraschend.

Ich könnte mir vorstellen, hier zu leben.

Es ist nicht nur der See, das Lavaux, die milde Luft, die Atmosphäre, nein, es sind vor allem die Menschen, die mich mit Freundlichkeit und Herzlichkeit und Charme empfangen. Nicht dieses manchmal dumpfe, schwere, verschlossene Verhalten der Deutschschweizer, das auf ihre Abstammung hinweist. Bergler, Bauern, misstrauisch gegen alles Fremde, gegen alles von oben, gegen alles, was sie nicht kennen. Ein Menschenschlag, der Jahrhunderte lang das Überleben kannte und nichts anderes.

Ich will ihnen nichts vorwerfen, ich gehöre ja selbst dazu, aber wenn man sie besser kennt (was lange dauern kann), sind sie ganz angenehm (nicht immer).

Aber zurück zum Weg.

Boats at the shore of Lake Geneva

Deserted Pool, the clouds are guilty

Manchmal führt der Trail mitten durch eine öffentliche Badeanstalt, doch die Pools sind an diesem düsteren Tag leer, nur ein paar Unentwegte wagen den Sprung ins kalte Wasser.

Der Himmel ist mir (und all den anderen) heute nicht wohlwollend gesinnt, dunkle Wolken ziehen lautlos über das ebenso graue Wasser, doch nach den vergangenen Hitzetagen tut der Schatten und die angenehme Wärme gut.

Der Weg führt einmal mehr am Ufer entlang, der Lärm hinter mir verstummt, ich bin ganz allein, nur ein paar Ruderboote draussen im See versuchen offenbar die lokalen Rekorde zu brechen. Ein Mädchen, vorne sitzend, gibt den Ton an, die muskulösen Männer geben ihr Bestes.

Gray sky, gray water

Again alone along the shore

Allein auf weiter Flur

Ich bin allein unterwegs, wie meistens auf dieser Wanderung. Schätzungsweise 80-90 % der Zeit verbringe ich in meiner eigenen Blase, ungestört durch den Lärm der Welt, die Sinne offen und empfänglich für alles. Ich sehe, ich höre, ich rieche, ich fühle.

Wenn ich mich nicht irre, steht in Folge 5 von „Damengambit“ der Satz, der dazu passt: „Die stärkste Person ist diejenige, die keine Angst hat, allein zu sein.“

By the way, eine der besten Netflix Serien ever. Unbedingt reinsehen. Hier meine absolute Lieblingsszene am Schluss, wenn sie nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft die alten Schachspieler in einem Moskauer Park trifft:

Hape Kerkeling hat auf dem Jakobsweg Erleuchtung gesucht oder zumindest ein paar Antworten zu drängenden Fragen. Ob er sie gefunden hat, weiss ich nicht, aber ich denke, dass dieser Aspekt einen wichtigen Anteil am Riesenerfolg seines Buchs gehabt hat.

Ich suche zwar keine Erleuchtung, sollte sich aber etwas in dieser Richtung einstellen, bin ich durchaus empfänglich dafür.

Die langen Stunden durch strömenden Regen, weit und breit kein lebendes Wesen ausser den gelegentlichen Kühen auf der Wiese, oder unter sengender Sonne, während sich ringsherum eine Welt voller Schönheit öffnet, verschaffen mir so etwas wie Erleuchtung. Schon heute, ein paar wenige Tage vor dem Ende, spüre ich Emotionen, die mir bewusst machen, dass mir etwas sehr Kostbares geschenkt worden ist.

Wenn ich von der Wanderung und meinen Erlebnissen berichte, ist die erste Frage meistens „Allein?“ Auf die Antwort folgt in den meisten Fällen ein verständnisloses „Aha“, begleitet von Fragezeichen, die sich hinter gerunzelten Stirnen verstecken.

Es sind nicht die gestellten Fragen, es sind die nicht gestellten.

Ein Weg für Träumer

Wie oft muss ich noch wiederholen, wie sehr mir diese Wege gefallen? Wie verbunden ich mich fühle mit allem, was mich umgibt?

Manchmal folgt der Weg wieder dem See, mit einem einzigen Satz könnte man ins Wasser springen, dann wieder zweigt er ab, Sträucher und dichtes Gebüsch neigt sich über den Weg. Einmal, zweimal, je nach Lust und Laune, setze ich mich irgendwo hin, meistens am Wasser, starre hinaus auf die hellblaue Fläche, folge den Bewegungen der Wolken, sie sind meine Freunde geworden.

Path along the Lake Geneva

... and a path across dense nature

Sometimes just looking out to the gray lake

And always water and trees and clouds

some steadfast rowers

Path along a tunnel of trees and bushes

And then again through a forest, dirty and wet

Morges

Nach knapp vier Stunden erreiche ich Morges, gemäss Führer das heutige Tagesziel.

Das Savoyer Städtchen mit seiner breiten Uferpromenade, dem von den Bernern angelegten Kriegshafen (1691-96 erbaut) und dem Schloss, das heute ein Militärmuseum beherbergt, hat einiges zu bieten.

Aber es ist immer das gleiche Problem auf dieser Wanderung: nicht genügend Zeit, um gelegentlich zu verweilen, dem permanenten Vorwärtsdrang für eine Weile Einhalt zu gebieten. Das trifft heute ganz besonders zu. Ich bin sicher, dass Morges einen Aufenthalt lohnen würde, aber eben ….

The cathedral of Morges

The ancient castle, today a military museum

Der Weg führt eine Weile durch grosszügig angelegte Parkanlagen, uralte Bäume stehen reglos in Reih und Glied, eine Armee stummer Soldaten, Baumspitzen, die wie Speere in den Himmel stechen.

Park near Morges

an army of old trees

Aber dann, für heute die letzten Kilometer dem See entlang. Nachher geht’s ins Landesinnere, wo ein Zimmer in Etoy auf mich wartet. Nochmal die Wege durch dichtes Gehölz, ganz nahe am Wasser, Bäume strecken sich den Wellen entgegen, man glaubt, dass sie sich nahe sein möchten.

Even seen so many times - always an awesome view

Trees and water - they belong to each other

Le Boiron

Ein Bach, Le Boiron, führt nach dem Dorf Tolochenaz in den Wald hinein. Es geht nun gegen Norden, weg vom See, in Richtung von Etoy, dem heutigen Tagesziel. Dass der Weg dem Bach entlang „Sentier de la Truite“, Forellenbach, heisst, scheint selbsterklärend zu sein. Ich kann mir angesichts des schmutzig braunen Wassers allerdings nicht vorstellen, dass es hier noch viele Forellen gibt.

Aber der Weg ist traumhaft. Nur ganz wenige Wanderer, wohl eher Sonntagsspaziergänger, verirren sich in den Wald, man grüsst sich „Bonjour Monsieur“, „Bonjour Madame“ und geht seines Wegs.

Es ist feucht geworden, die nassen Bäume und Strächer zeugen von den Regengüssen der vergangenen Tage, der Weg ist zeitweise morastig und schwer zu begehen, aber das ist nichts Neues für mich.

Obwohl die bewohnten Gebiete wie auch die Autobahn nahe sind, fühlt man sich in einer anderen Welt. Die einzigen Geräusche sind das Murmeln des Baches, das leise Wiegen der Bäume im Wind, manchmal der sehnsüchtige Ruf eines einsamen Vogels im Geäst.

Manchmal wünschte ich mir, der Weg würde nie zu Ende gehen.

Le Boiron, a small brook in the forest

The bridge has lasted many years, one can see it

It is quiet, sometimes the lonely cry of a bird

The only sound far and wide - the gurgling of the water

Etoy – und ein geschlossenes Hotel

Nach ein paar Kilometern zweigt der eigentliche Panoramaweg wieder zurück zum See, doch für mich gilt eine alternative Route, die mich nach Etoy führen soll. Ich überquere die Autobahn – die lärmige Welt hat mich wieder – und folge dann einem endlos scheinenden Weg entlang Weizenfeldern und Treibhäusern.

Und tatsächlich, kurz vor Etoy fängt es an zu regnen, ich flüchte mich in den vermeintlichen Schutz eines Treibhauses, doch schon nach kurzer Zeit lässt der Regen nach, die paar Tropfen stören mich nicht.

I cross the Autobahn - back in civilisation

Etoy - greeted by house with ivy

Und dann bin ich da, in Etoy, einem kleinen unscheinbaren Dorf, das ich garantiert nicht besucht hätte, wenn ich andernorts ein Zimmer gefunden hätte.

Die Auberge Communale „Chez Yann“ sieht von weitem recht ansehnlich aus, allerdings auch sehr verlassen und geschlossen. Dass mir ausgerechnet das teuerste Hotel auf dem Weg einen sonntäglichen Streich spielt, finde ich nicht wirklich lustig.

Auf der anderen Strassenseite hat zumindest ein kleiner Laden geöffnet, die jungen Leute sind äusserst freundlich und zuvorkommend und helfen mir bei der Lösung dieses stupiden Problems. Nach einigen vergeblichen Anrufen beim Hotelmanager (der irgendwo ausserhalb wohnt), kriege ich den Kerl tatsächlich ans Telefon, bin wahrscheinlich etwas ruppig im Ton, aber immerhin verrät er mir das Geheimnis, wie sich das Tor zum Sesam öffnen lässt.

Also, ich habe ein Zimmer, es gibt eine heruntergekommene Dusche, die ich erst mal flicken muss, einen winzigen TV, wo ich später Fussball sehen möchte, und im ganzen Kaff kein Restaurant, wo ich mein weiss Gott hart verdientes Dinner essen könnte. Ich kaufe also im Laden ein und verziehe mich dann ziemlich schmollend auf mein Zimmer und schwöre, dass ich für einmal eine sehr negative Bewertung dieses unmöglichen Etablissements abgeben werde.

 

Song zum Thema:  Bishop Briggs – The Way I do

Und hier geht die Reise weiter … nach Gland am Genfersee

 

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