Nicht immer beginnt eine Weitwanderung von über 500 Kilometern mit den besten Voraussetzungen.

Der Tag hat früh begonnen, beinahe Nacht beim Aufstehen, der Herbst naht. Die Fahrt via Basel nach Pruntrut findet zwar recht entspannt, aber gleichzeitig müde und gestresst statt. Der Blick durchs Fenster zeigt nicht das, was man gerne hätte – blauen Himmel, lachende Sonne, sondern ganz und gar nicht willkommene Wolken, tief hängend, irgendwie traurig.

Aber – und das ist alles, was zählt – kein Regen. Herzlichen Dank den Wetterprognostikern, sie haben wieder einmal in die falsche Kiste gegriffen.

Anders als im letzten Jahr fühle ich mich aber sicher, sicher, die ganze Wanderung bewältigen zu können. Es bleibt natürlich ein Quentchen Zweifel. Soviel kann geschehen. Ein falscher unvorsichtiger Schritt, eine Erkältung, Magenprobleme. Und vieles, was ich in meiner Phantasie schon gar nicht ausmalen will.

Wir werden sehen. Das bleibt auch auf diesem Trail mein tägliches Mantra.

Pruntrut und der neue Wegweiser

Vor einem guten Jahr bin ich auf einer Reise durch den Jura genau an dieser Stelle gestanden, am Bahnhof in Pruntrut (französisch Porrentruy), unter dem Wegweiser mit der Nummer 2 und der verheissungsvollen Anschrift „Trans Swiss Trail“.

Ich vermute, dass in jenem Augenblick die Idee zu einer weiteren Weitwanderung (nach dem Alpenpanoramaweg) entstand, ein kleiner Haken, der sich irgendwo im Unterbewusstsein eingenistet hat. Nun gut, wie auch immer, hier stehe ich nun, der Wegweiser zeigt in die Richtung, die es zu nehmen gilt, es ist alles da, alles bereit für ein weiteres Abenteuer auf den Höhen und Tiefen der Schweiz.

Der Tag ist nicht zu unterschätzen. Es geht ziemlich hoch und runter über 17 Kilometer und geschätzten knapp 5 Stunden, was nach meinen Erfahrungen über 6 Stunden bedeutet.

Aber alles gut, ich genehmige mir vor dem Start einen Kaffee im Gartenrestaurant und bereite mich seelisch auf die nächsten 500 Kilometer vor.

Es sieht gut aus

Dann aber die ersten Schritte von wiederum geschätzten 800’000 bis 900’000. Das sind eine ganze Menge für meine kleinen Füsse, meine angeschlagenen Waden, meine Zehen, die nach der letzten Wanderung aussahen, als wollten sie jeglichen weiteren Spass am Wandern für immer verbieten.

Natürlich ist der Travelguide mein permanenter Begleiter, entweder in Buchform oder digital auf der entsprechenden Plattform schweizmobil.

Er klärt mich über das zu erwartende Stück Wanderung auf:

Nach der sehenswerten Altstadt von Porrentruy über Felder zum bewaldeten Jurakamm. Dann Abstieg in die tiefe Falte, die der Doubs in den Karstfelsen gezogen hat. St-Ursanne ist ein Bijou. Im Kreuzgang des Klosters geht der Atem einer anderen Zeit.

From Porrentruy to St. Ursanne

Ein etwas fehlgeleiteter Start

Eigentlich müsste ich in der Zwischenzeit wissen, dass meine Orientierungstalente nicht wesentlich besser geworden sind. Es kommt also wie es kommen muss.

Frohgemut mache ich mich auf, folge den Wegweisern mit der grünen Nummer 2, absolut überzeugt, dass zumindest hier in Pruntrut, auf den ersten Kilometern, nicht allzu viel passieren kann. Die kleine Stadt erfreut mich durch ihre freundliche Ausstrahlung, ihre steinbesetzten Gassen entlang alter Häuser und Villen.

Pruntrut roads

Pruntrut - or Porrentruy in French

Irgendwo im Süden der Stadt stehe ich etwas verständnislos vor einem meiner Wegweiser und bin etwas verwirrt, dass er in die andere Richtung zeigt als diejenige, die ich mir im Kopf zurechtgelegt habe.

Nun gut, die Verantwortlichen werden wohl wissen, was sie tun. Obwohl, nach einiger Zeit erscheint mir die Sache doch etwas suspekt, also checke ich die digitale Karte und bin noch mehr verwirrt. Spätestens, als ich an der gleichen Stelle stehe wie vor einer Viertelstunde, dämmert es mir, dass ich im Kreis gegangen bin. Zwei nette ältere Herren, in lautstarker Diskussion vertieft, eignen sich doch perfekt, um erstens den richtigen Weg zu erkunden, und zweitens mein verbessertes Französisch anzubringen.

Die beiden schauen mich etwas ungehalten an, verstehen zwar meine Frage, aber haben keine Ahnung, wo es hier einen Trans Swiss Trail geben soll. Ausserdem haben beide ihre Lunettes zuhause vergessen und sind so ausserstande, die Karte auf meinem Handy zu begutachten.

Endlich freies Land

Ich bin zwar immer noch nicht sicher, warum an der besagten Stelle der Wegweiser in die falsche Richtung zeigt, aber was soll’s, irgendwann finde ich die richtige Abzweigung und verlasse das Städtchen ohne grosse Emotionen.

Leaving Pruntrut

Es begrüssen mich ein grauer Himmel, der alles andere als erfreut scheint über meine Anwesenheit, sattgrüne Wiesen mit ein paar Kühen, im Hintergrund ein Hügelzug und noch weiter hinten der Jura in seiner ganzen Pracht. Er wird mich nun die nächsten Tage begleiten, er wird mich erfreuen oder ärgern, mir den Schnauf nehmen oder grossartige Gefühle vermitteln.

Und nun, sehnlichst erwartet, stellt sich jenes Gefühl ein, das ich vom letzten Jahr her kenne. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit, von jener Unbekümmertheit, die man nur beim Wandern hat. Das Blut scheint schneller durch die Adern zu pulsieren, das Herz schlägt im Takt meiner Wanderstöcke und sogar meine Beine und Füsse und Zehen scheinen sich auf das kommende Abenteuer, das eben begonnen hat, zu freuen.

Ich muss hier noch anfügen, dass ich die Lehren aus letztjähriger Wanderung gezogen habe. Der Rucksack ist nur noch halb so schwer (eine neue Entwicklung, die aus Amerika kommt und offenbar vor allem für Trailrunner gedacht ist, also sozusagen auch für mich). Für meine Füsse und Waden stehen Crèmes und eine kleine Faszienrolle bereit, und das Allerwichtigste, ich werde die Regel Nummer zwei beim Weitwandern beherzigen, nämlich laaaangsam zu gehen.

Der erste Stop dient auch dazu festzustellen, ob ich nun tatsächlich nicht mehr den Rucksack ablegen muss, um Wasser zu trinken, sondern direkt auf zur Flasche, die nun auf den Trägern befestigt ist, greifen kann.

Klappt ausgezeichnet, es geht munter weiter über eine weite Ebene, dann hinein in den Wald, die erste Steigung und …?? Verdammt, wo sind meine Stöcke?

Es ist also tatsächlich so, dass ich zwei Komponenten, die beinahe zu einem zusätzlichen Körperteil geworden sind, schon auf den ersten paar Kilometern vergessen habe. Ich vermeide nun, näher auf die Fluchwörter hinzuweisen, die nun lautstark durch den leeren Wald dröhnen. Also gut zwei Kilometer zurück in der Hoffnung, dass die vergessenen Stöcke immer noch an der gleichen Stelle sind.

Sie sind es, aufatmen, schwören, in Zukunft den Kopf zu benutzen.

Grauer Himmel, grüner Dschungel

Der Himmel, immer noch verdächtig nach Regen ausschauend, bleibt zwar grau und missgelaunt, aber immerhin scheint er mir gnädig gestimmt zu sein. Nach der Überquerung der weiten Ebene südlich von Pruntrut, empfängt mich ein dichter Wald, den ich für die nächsten Stunden kaum mehr verlassen werde.

Die Luft ist schwer vom Geruch der nassen Bäume, die Feuchtigkeit (eine willkommene Abwechslung nach dem trockenen Sommer) hängt wie ein schweres Tuch über dem Wald.

Die Etappe ist so wie vorgestellt – nicht besonders spektakulär, genau richtig, um die Wanderung zu beginnen. Wie sagt es der Guide:

Etwas mehr als eine Stunde unterwegs taucht der Weg in den Wald hinein. Bei Les Chainions überquert er die Grenze zum Naturpark Doubs. Der gleichnamige Fluss bildet auf weiten Strecken die natürliche Grenze zu Frankreich. Er fliesst dabei durch eine grossartige, teils canyonartige Schlucht mit steilen Felswänden und Wäldern. Manchmal wild und dann wieder sanft schlängelt sich der Doubs durch die faszinierenden Natur- und Kulturlandschaften des Tals. In Seleute sind schon über drei Stunden vergangen. Weidende Pferde und Kühe – dieses Bild ist im Kanton Jura oft anzutreffen.

Dense forest with wet path Then again steep way beneath trees

Manchmal erinnert mich der Himmel daran, wer der Herr im Hause ist, und lässt ein paar drohende Tropfen auf mein schweissnasses Gesicht fallen, um aber gleich wieder die bessere Laune hervorzunehmen und zu schweigen. Ich habe mich mental auf Regen eingestellt, also kann mich eigentlich nichts überraschen, aber natürlich, falls es trocken bleibt, bin ich auch zufrieden.

Ein unscheinbares Dorf namens Seleute

Eigentlich komme ich gut vorwärts, auch wenn meine Füsse zu brennen beginnen (aller Anfang ist schwer) und auf heftigen Steigungen mein Puls höher steigt als mir lieb ist. Aber das wird sich geben, ich bin überzeugt, dass er sich schon in den nächsten Tagen auf einem Niveau einpendelt, das zu einem Dreissigjährigen gehören könnte.

Ich bin also ganz froh, als sich nach ein paar Stunden das erste kleine Dorf zeigt, Seleute, nie gehört, was bei seiner Lage im Nirgendwo auch verständlich ist.

Mein Körper seht sich nach Aufputsch, ein Kaffee wäre das höchste der Gefühle.

Und tatsächlich, vor einem unscheinbaren Haus stehen ein paar Holztische, es brennt Licht, die Hoffnung steigt, und ich setze mich erwartungsvoll hin. Nach einer halben Minute zeigt sich ein junger freundlicher Herr, ich bestelle Kaffee und bin schon nach dem ersten Schluck in einem Zustand, der in der Drogenszene als High bezeichnet wird. Ganz ohne Heroin.

Der junge Mann erkundigt sich nach Woher und Wohin, und zum ersten Mal erzähle ich stolz von meiner geplanten Weitwanderung nach Mendrisio im Tessin.

„Mendrisio? Dans … dans le Ticino?“

„Oui.“

„Ah, ça c’est fou. C’est tres loin.“

Der weitere Weg zum Tagesziel ist ehrlich gesagt mehr als mühsam, auch wenn die Bewunderung des jungen Mannes noch eine Weile den Schritt leicht macht. Der Weg geht nun hinunter ins Tals des Doubs, viele Steine und Felsen auf dem Pfad, alles andere als angenehm für den ersten Tag.

Das erste Tagesziel – St. Ursanne

Aber irgendwann bin ich da, in St. Ursanne, es ist bald fünf Uhr, meine Uhr zeigt knapp 20 Kilometer und über 6 Stunden Wanderzeit. Nicht schlecht für den ersten Tag.

Das Hotel de la Couronne ist an diesem Tag geschlossen, ein Anruf bringt Klarheit, wo der Schlüssel gefunden werden kann. Nach Dusche und Umziehen der Gang durch das alte Städtchen, das viel zu bieten hat.

Das historische Städtchen, mit kaum 700 Einwohnern, erstreckt sich im engen Tal des Doubs, am rechten Flussufer, zwischen den Juraketten des Lomont oder Mont Terri im Norden und des Clos du Doubs im Süden. Sie ist nach Delémont und Porrentruy die dritte historische Stadt im Kanton Jura, sie hat ein mittelalterliches Stadtbild, welches durch Bürgerhäuser aus dem 14. bis 16. Jahrhundert geprägt wird.

Die Stiftskirche, eine romanische Pfeilerbasilika mit einer Krypta unter dem Chor, stammt aus dem 12. bis 14. Jahrhundert. Von der Abtei des 11. Jahrhunderts wurden Kapitelle und Teile des Nordportals in den Bau einbezogen. Das Südportal (um 1200) im Stil der burgundischen Romanik gehört zu den bedeutendsten Portalen dieser Stilrichtung in der Schweiz. Das etwas später entstandene Kirchenschiff zeigt bereits Merkmale der Gotik, und die Innenausstattung stammt im Wesentlichen aus dem 18. Jahrhundert. Das Erdbeben von 1356 beschädigte den Kirchturm des Klosters so stark, dass er später einstürzte. Erst 1462 bis 1464 wurden die Schäden wieder beseitigt. (Wikipedia)

St. Ursanne - the first destination

Church in St. Ursanne

Famous entrance

Meine Beine fühlen sich etwas schwer an, also beschränke ich meine kulturelle Neugier auf einen kurzen Gang durch die Strassen, bewundere die Stiftskirche und setze mich in ein Strassencafé in der Hoffnung, etwas zu essen zu kriegen. Das Mahl ist bescheiden, aber es stillt den Hunger, während die Kälte langsam meine blossen Beine hochkriecht und mich daran erinnert, dass der Abend kühl, die Luft feucht ist und es Zeit ist, sich ins warme Hotelzimmer zu verkriechen.

 

Song zum Thema:  The Cure – A Forest

Und hier geht es weiter … nach Soubey, dem Doubs entlang

 

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