Wird es die Erfüllung eines Traumes werden? Oder doch eher ein Albtraum?
Eigentlich war mir ursprünglich die Unendlichkeit der Berge in Nepal noch etwas näher, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ich bin auf dem Weg in Richtung Osten, einmal mehr Richtung Indien, doch diesmal in den Norden. Nach Ladakh im indischen Himalaya.
Das Wetter ist sonnig und ermöglich eine gute Sicht auf die unter uns dahineilenden Länder. Ich muss eingedöst sein, denn der Übergang von den grünen Wiesen und Wäldern zur nahezu menschenleeren Wüste über dem Iran hat irgendwie ohne mich stattgefunden.
Dann ein kurzes Warten in Doha, das mir leblos und künstlich vorkommt (ein verspäteter Blick auf das Flugticket zeigt, dass ich beim Buchen offenbar im Halbschlaf gewesen sein muss. Es überläuft mich jetzt schon ein kalter Schauer, denn ich werde auf dem Heimweg knapp 22 Stunden in diesem kalten und abweisenden Ort verbringen müssen.
Fliegen??
Jedes Mal, wenn ich fliege, erinnere ich mich daran, dass vor kurzer Zeit – in Massstäben des Universums vor einer halben Sekunde – kein Mensch auch nur den Gedanken hatte, sich wie ein Adler in die Lüfte zu erheben und andere Länder und Kontinente in wenigen Stunden zu erreichen. Es erinnert mich auch daran, dass wir weit gekommen sind, vielleicht zu weit, wenn wir an die bedrohlichen Auswirkungen unseres Tuns auf das Klima bedenken …
Zum Zeitpunkt dieser Reise gab es noch keine Flying Shame, und Greta Thunberg war ein etwas seltsames Mädchen in Schweden, von dem die Welt noch nichts gehört hatte.
Jetzt ist alles anders. Und man beginnt sich zu überlegen, ob wir uns das, was wir tagtäglich tun – letztlich unser ganzer Lebensstil – überhaupt noch leisten können.
Indira Gandhi International Airport
Es ist zwar nur ein Flughafen, ein riesiger neuer für ca. 14 Millionen Einwohner (können auch ein paar Millionen mehr oder weniger sein, wer weiss das schon), auf seine besondere Weise steril, aber trotzdem anders als jeder andere Flughafen. Hat sich was verändert seit dem letzten Mal, doch immerhin ein paar Jahre her? Auf den ersten Blick nicht allzu viel.
Und trotzdem anders. Ist es die Anwesenheit der zahlreichen Geschäftsleute, in teure Armani-Anzügen gekleidet, die typische Managermiene aufgesetzt, immer in bisschen in Eile, immer der eigenen Wichtigkeit bewusst? Oder ist es die Abwesenheit der indischen Gerüche, des Durcheinanders, der Farben, der Sprachen? Es könnte irgendwo auf der Welt sein. Die Künstlichkeit dieser besonderen Flughafen-Welt hat auch hier Einzug gehalten. Technologisch hochstehend, durchorganisiert, ablaufoptimiert.
Kalt und steril. Kein Ort zum Bleiben, nur eine Durchgangsstation.
Genauso sehen die Bilder der Hotels aus, die dem wohlbetuchten Passagier die Wartezeit erleichtern sollen. Lieber schlafe ich auf dem Boden.
Anderes ist gleich geblieben. Ich bin beinahe froh darüber.
Ein Kultur-Clash
Der Passbeamte starrt immer noch so lange auf meinen Pass, dass mir die Füsse einschlafen. Es braucht nach wie vor tausend Formulare mit den immer gleichen Fragen, die ausgefüllt werden müssen (immerhin scheint die Frage nach Namen/Vornamen/Beruf und Geburtsort der Eltern und Grosseltern keine Bedeutung mehr zu haben – ein Fortschritt!).
Die Bürokratie treibt immer noch ihre Blüten, allerdings nicht mehr so schlimm wie früher. Niemand weiss, wo alle diese Formulare verschwinden. Werden sie irgendwo aufbewahrt? Oder gleich geschreddert? Gibt es irgendwo geheime Büros, wo sie kontrolliert, sortiert und ablegt werden?
Ein kafkaeskes System. Aber Indien war schon immer ein Land, wo man sich verlieren konnte. So wie Josef K. auf der Suche nach Antworten.
Andere Entwicklungen sind eher überraschend. Das Paar neben mir im Flugzeug nach Delhi – eine Schweizerin und ein Inder mit einem Dutt – wird von den Eltern des Jungen empfangen. Wow! Also keine seit Jahren vorgeplante, organisierte Ehe mit einer schüchternen Dame aus der gleichen Kaste?
Das muss für die indischen Eltern eine schwere Erschütterung ihrer traditionellen Vorstellungen sein. Ihre Gesichter sprechen von der Anstrengung, ein freundliches Willkommen zu bereiten, aber auch von der Enttäuschung, einen Sohn (vielleicht der einzige) an ein weisses Mädchen zu verlieren, ein Mädchen voller Selbstsicherheit, voller Offenheit. Das wird schwierig werden.
Für alle Beteiligten.
Schwere Rucksäcke
In der Zwischenzeit ist es spät geworden, Müdigkeit schleicht sich ein. Allerdings gilt es, nochmals gut 3 Stunden zu überstehen. In der überdimensionierten Halle des Domestic Flughafens trifft man nun langsam auf Leute mit dem offensichtlich gleichen Ziel.
Schwere Rucksäcke, Wanderschuhe an den Füssen, dicke Fleecejacken übergeschnürt. Man unterhält sich, gibt gegenseitige Ziele und Pläne bekannt, wundert sich über Vorstellungen, die sich massiv von den eigenen unterscheiden. Im Unterschied zu den geplanten Treks auf Gott weiss wie hohe Berge und Pässe sind meine Pläne bescheiden. Allerdings habe ich noch gar keine, zumindest keine konkreten. Treks sind gut und recht, aber zuerst heisst es, Leh zu erreichen, die ungewohnte Höhe auf 3500 Metern zu bewältigen. Dann sehen wir weiter. Mein bedenkliches Gesicht will nicht so recht zu den vor Vorfreude glänzenden Mienen der Bergsteiger passen.
Wenn das der erste Vorgeschmack ist, bin ich zumindest gewarnt. Ich muss mich wohl darauf einstellen, dass meine Vorstellungen dieser Reise ganz und gar nicht zu denen der übrigen Mitpassagiere passen. Wie dem auch sei, ich freue mich trotzdem auf das, was da kommen möge.
Dicke Wolken
Das Flugzeug, das mich nach Leh bringen soll – eigentlich habe ich ein Vorkriegsmodell mit rostigen Flügeln und ausgeleierten Propellern erwartet –, entpuppt sich als ein modernes Modell einer Boing 737. Es ist bis auf den letzten Platz besetzt. Einheimische Touristen, die beim Anblick der Berge in kleine Freudenschreie ausbrechen. Ladakhis auf dem Weg nach Hause. Westliche Touristen wie ich, leicht erkennbar in Daunen- und Fleecejacken und einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht.
Leider ist die Sicht schlecht, dicke Wolken verbergen den Blick auf die Berge, die Ausläufer des Himalayas. Erst gegen Norden stechen ein paar bedrohlich aussehende Felsspitzen aus den Wolken, die ersten Zeichen, dass es nun langsam ernst wird.
Marsoberfläche
Beim Landeanflug sticht man durch eine dicke graue Masse, das Flugzeug schüttelt sich kurz, und dann schweben wir über der Marsoberfläche. Anders kann man es nicht nennen. Es scheint keine Farben mehr zu geben, nur gelbe, braune, graue Felsen und Hügel und Berge, langgezogene Täler mit in der Morgensonne glitzernden Flüssen, und doch, manchmal ein grüner Fleck, ein paar Häuser, eine Burg, ein Kloster auf steilem Hügel. Wahnsinn!
Und dann sind wir da. Wir steigen aus, holen tief Atem nach der langen Reise und spüren sofort, dass es sich anders anfühlt als gewohnt.
Es fehlt bereits auf dieser Höhe (die ungefähr dem Jungfraujoch entspricht) rund ein Drittel Sauerstoff. Das wird lustig. Erwartungsgemäss werden sich Kopfschmerzen einstellen, ev. Übelkeit, Schlaflosigkeit. Wir werden sehen.
Die Taxis stehen in Schlange bereit, werden gefüllt, fahren weg, eine dicke braune Staubwolke hinter sich herziehend.
Das Hotel
Eine angenehme Überraschung: alles da, sogar heisses Wasser in der Dusche. Und jetzt heisst es erstmal ausruhen, die Beine ausstrecken, die bereits beginnenden Kopfschmerzen zu ignorieren und … ein paar Stunden zu schlafen.
Der Rest des Tages vergeht in diesem undefinierbaren Graubereich zwischen schlafen, lesen, dösen, den schmerzenden Kopf unters kalte Wasser halten, einem kurzen Spaziergang in der Nachmittagssonne …
Alles in allem – ich bin angekommen, auch wenn sich der Kopf noch nicht ganz mit der dünnen Luft abzufinden scheint. Beim Nachtessen – ganz traditionell indisch scharf – erste Kontakte. Eine US-Familie, fröhlich, aufgestellt, interessiert an allem. Und einmal mehr frage ich mich, warum man die Amerikaner, wenn man sie einzeln trifft, sofort ins Herz schliesst, während man das Volk an sich schon ziemlich grenzwertig findet.
Und dann ergiesst sich schwarze Nacht über die Welt, ich liege im Bett, lausche, höre absolut nichts, nur den eigenen Atem, spüre den pochenden Puls, und doch irgendwo in der Ferne das einsame Jaulen eines Hundes, das einzige Geräusch in der schwarzen Nacht.
PS Song zum Thema: The Mission – Black Mountain Mist
Und hier geht die Reise weiter …