Manchmal wundere ich mich, ob es im Chaos eine Ordnung gibt.

Ob eine unsichtbare Hand die Fäden zusammenhält, um das fragile Kartenhaus vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Frage stellt sich, sobald man im Zentrum von Old Delhi aus der Hoteltür tritt und dem Durcheinander ins Auge sieht.

Und dem Lärm. Dem Gestank. Den Menschen. Den Tuktuks. Den Fahrrädern. Den Früchtewagen. Den Taxis. Den heiligen Kühen.

Und dann kommt man unweigerlich auf die Frage, was man hier sucht.

Ob es etwas gibt, was man verstehen will.

Der Wissende weiß und erkundigt sich, aber der Unwissende weiß nicht einmal, wonach er sich erkundigen soll.

So heisst es irgendwo.

Heute gehöre ich zu den Unwissenden, die nicht wissen, wonach sie suchen sollen.

Aber mal sehen. Der Tag ist lang …

Leben in Armut

Seit dem letzten Besuch in Delhi sind 26 Jahre vergangen.

In der Zwischenzeit ist die Stadt etwas gewachsen, von 8 auf geschätzte 14 Millionen, und jeden Tag kommen mehr dazu, denn die verarmten (oder schon immer armen) Bauern aus den Hungerstaaten Bihar und UP (Uttar Phradesh) und anderswo suchen sich ihr Glück in der Grossstadt und landen mitsamt ihrer Familie nicht selten irgendwo auf einem Trottoir oder am Rande einer Müllhalde.

Zwei Drittel der Menschen in Indien leben in Armut: 68,8 % der indischen Bevölkerung müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Über 30 % haben sogar weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung – sie gelten als extrem arm. Damit zählt der indische Subkontinent zu den ärmsten Ländern der Erde. Am stärksten unter der Armut in Indien leiden Frauen und Kinder, die schwächsten Glieder der indischen Gesellschaft.

Mehr als 800 Millionen Menschen gelten in Indien als arm. Die meisten von ihnen leben auf dem Land und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten treibt viele Inder in die rasant wachsenden Metropolregionen wie Bombay, Delhi, Bangalore oder Kalkutta. Dort erwartet die meisten von ihnen ein von Armut und Verzweiflung geprägtes Leben in den aus Millionen von Wellblechhütten bestehenden Mega-Slums, ohne ausreichende Trinkwasserversorgung, ohne Müllabfuhr und in vielen Fällen auch ohne Elektrizität. Die schlechten Hygienebedingungen sind Ursache für Krankheiten wie Cholera, Typhus und Ruhr, an denen vor allem Kinder leiden und sterben. (siehe Bericht)

Die Metro

Was hat sich seit dem letzten Mal etwas verändert? Ein Beispiel, was es das letzte Mal bestimmt noch nicht gegeben hat, die Metro.

Delhi besitzt nämlich seit gut zehn Jahren ein ausgebautes Metrosystem, das von Millionen tagtäglich rege genutzt wird. Natürlich liegt die nächstgelegene Station nicht gerade ums Eck, also werde ich schon nach dem ersten Schritt aus der Hoteltür von den versammelten TukTuk- oder Velorischka-Fahrern angesprochen.

„Where you go, Mister? Very cheap price.“ Ich schüttle den Kopf, ernsthafte Diskussion führen erfahrungsgemäss nirgends hin. Aber so schnell geben sie nicht auf. Der letzte Pfeil aus ihrem Köcher (der beim einen oder anderen Touristen das kalte Grausen auslöst) heisst dann: „Station very far, Sir. Many Thieves. Robbers. Steal your luggage.“

Mir egal. Ich setze vorsichtshalber schon mal das grimmigste Gesicht auf und überquere mit breiten Schultern die vermeintlich so gefährliche Brücke.

Natürlich ist das Lösen eines Tickets eine ganz andere Sache. Ich weiss zwar, bei welcher Station ich aussteigen muss, aber wie man zu einem gültigen Fahrschein kommt, ist unklar. Ich wundere mich einmal mehr, wie schlecht die Leute englisch sprechen. Die meisten geben sich zwar furchtbar Mühe, aber das gutturale Stakkato-Englisch stösst bei mir auf taube Ohren. Am Schluss zahle ich 8 Rupies, also umgerechnet etwas mehr als 11 Rappen, und besitze nun einen Token, der beim Eingang gescannt, beim Ausgang in den Schlitz geworfen werden muss. Idiotensicher.

Manchmal sogar für mich.

Old Delhi – Im Zentrum des Chaos

Ich lande also ohne weitere Probleme im Zentrum des Chaos, sprich mitten in Old Delhi.

Auf den ersten Blick hat sich überhaupt nichts verändert. Vielleicht ist Old Delhi auch einfach der falsche Gradmesser dazu, denn Chaos bleibt Chaos. Und so macht alles einen unveränderten Eindruck. Millionen von Menschen auf der Strasse, den vollgestellten Trottoirs, dazwischen tausende von Fahrzeugen jeglicher Art, mitten drin heilige Kühe, Pferde, Hunde …

Ich stürze mich mit Wonne mitten ins Gewühl, d.h. in das typisch indische Gewusel, und nun wird die Beschreibung etwas schwierig, denn man muss es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, mit der eigenen Nase gerochen haben. Phantasie reicht da nicht aus, ebensowenig eine gute Vorstellungskraft.

Man stelle sich in einer ziemlich schmalen Gasse hundert gelbgrüne TukTuks vor, ergänzt durch ebensoviele Velorischkas, als Zutat ein paar Autos, je nachdem einige Schubkarren, dreirädrige Lieferwagen oder Traktoren und Handkarren, gemischt und geschüttelt mit einer Million Fussgänger, die neben und zwischen den verschiedenen Vehikeln ihres Weges gehen.

Und natürlich tausend Hunde, die am liebsten mitten auf der Strasse ihren Schönheitsschlaf abhalten, oder ein paar heilige Kühe, die gedankenverloren wiederkäuen.

Old Delhi
Idylle auf den Strassen von Old Delhi

 

 

Trip mit der Fahrrad-Rikscha

Um einen wirklichen Eindruck zu erhalten, ist es ratsam, eine Fahrrad Rikscha zu mieten und sich eine Weile durch das Gewühl chauffieren zu lassen. Und so sitze ich geruhsam auf meinem schmutzigen Kissen, das einer geschätzten Milliarde Hintern etwas Linderung verschafft hat, und lasse die verrückte indische Welt an mir vorbeiziehen. Der Fahrer weist mich auf Sehenswürdigkeiten hin, wobei ich allerdings grösste Mühe habe, ihn zu verstehen.

Während rings um uns herum hupende Taxis vorbeipreschen und wir immer wieder den seltsamsten Hindernissen ausweichen, nähern wir uns gemächlich den wirklich engen Gassen, wo ein Durchkommen auf den ersten Blick aussichtslos erscheint.

Ich bin nicht erst heute mit Velorikschas (siehe Madurai) gefahren, und trotz der meist chaotischen Zustände habe ich kein einziges Mal einen Zusammenstoss gesehen. Es geht zwar immer um Millimeter, aber sämtliche Verkehrsteilnehmer sind sich derart an diese alltägliche Hölle gewohnt, dass es irgendwie klappt.

So auch heute.

Natürlich hält man sich links (Indien hat ja Linksverkehr), aber auch das eine Regel, die permanent gebrochen wird. Am besten ist, man lehnt sich zurück, überlässt dem Fahrer (meistens hagere, gestählte Männer jeden Alters, die einen Job ausüben, der mit Sicherheit zu einem der schlimmsten der Welt gehört) das Schicksal und weiss, dass es irgendwie schon gehen wird.

In dieser Hinsicht also – erste Erkenntnis – hat sich nichts geändert (ausser dass der eine oder andere Rikschafahrer seine nächste Tour per Handy organisiert). Die Läden bieten immer noch das gleiche Angebot an Waren an, mit dem westliche Touristen herzlich wenig anfangen können.

Davor stehen lächelnde entspannte Menschen, die mir sogar gelegentlich freundlich zuwinken. Hat in der Schweiz jemand von Dichtestress gesprochen? Lachhaft. Wenn es irgendwo Dichtestress gibt, dann hier. Aber man muss sich vorstellen: bei meinem ersten Besuch hatte Indien grade mal 660 Millionen Einwohner. Heute sind es doppelt so viele, und es werden immer mehr.

Man vermutet, dass Indien schon bald zum bevölkerungsreichsten Land vor China werden wird. 1.3 Milliarden! Man stelle sich diese Zahl vor. Die paar Milliönchen Schweizer würde man, falls man sie in Indien aussetzen würde, gar nicht mehr finden.

Aber – und das ist das Erstaunlichste daran – die Leute haben sich damit arrangiert. Sie kennen nichts anderes als diesen infernalischen Lärm, diese unglaubliche Enge.

Das Red Fort

Das Red Fort ist auch beim dritten Besuch eindrucksvoll, mein Lieblings-Mogul Jajahan (der Erbauer des Tadj Mahal) hat auch hier ganze Arbeit geleistet.

Als Ergänzung für die weniger geschichtlich Interessierten: der Tadj Mahal wurde zu Ehren der verstorbenen Lieblingsfrau Jajahans, Mumtaz Mahal, erbaut. Erstens ruinierte er damit den Staatshaushalt, und zweitens führte dies später zu seinem Sturz (ein Hinweis: der Gute wollte auf der anderen Seite des Yamuna-Rivers einen zweiten exakt gleichen Bau errichten, diesmal aber in schwarzem Granit).

Und noch eine Veränderung: natürlich ist jeder Inder permanent daran, Fotos, vor allem Selfies zu schiessen. Das führt zu meiner eigenen Überraschung dazu, dass man mich bittet, für ein Foto zur Verfügung zu stehen. Ich? Wenn ich ein junges hübsches Blondinchen wäre, ok, aber alte Männer mit Schlapphut und wirrem Bart? Einmal mehr – wer Indien versteht, versteht die Welt!

Doch noch während sich die Besucher den gepflegten Gärten entlang fotographieren, beginnt es zu regnen, und alles flüchtet sich unter die ausladenden Äste der paar wenigen Bäume.

It rains, you take refuge under the trees

Die Jama Masjid – die grösste Moschee Indiens

Nach dem Besuch des roten Forts lasse ich mich von einem Velorischkafahrer zur grössten Moschee des Landes kutschieren, die Jama Masjid. Während der Fahrt dahin, durch weitere Strassen und Gassen und Plätze, widerstehe ich sämtlichen Verführungskünsten des Fahrers, mir irgendwelchen Schrott anzuleiern.

Die Moschee erinnert mich an andere dieser Art, die zweitgrösste Pakistans und damit eine der grössten und schönsten der Welt, in Lahore in Pakistan, die berühmte Badshahi Moschee. Sie gilt als eines der bedeutendsten Werke der indo-islamischen Sakralarchitektur der Mogulzeit.

Badshahi-Mosque in Lahore (Pakistan)

Aber heute steht ja nicht die Badshahi im Zentrum des Interesses sondern die vergleichsweise kleine Jama Masjid in Delhi. Der Himmel hat sich nach dem kurzen Regenguss erhellt, doch immer noch scheint die Sonne weich und rund und kaum sichtbar durch das Wolkengeflirre. Die Minarette stehen stramm wie seit ihrer Erbauung im 17. Jahrhundert, heute eigenartig beleuchtet durch das unwirkliche Licht der Nachmittagssonne.

Jama Masjid in Delhi

The Mughal architecture in its most beautiful expression

Endless carpet-covered arcades

Ein Laufsteg für Familien und kleine Mädchen

Der riesige Platz vor der Moschee scheint bei Familien sehr beliebt zu sein. Man könnte meinen, dass es Sonntag ist oder Freitag, der heilige Tag der Moslems. Nichts dergleichen, es ist ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, und doch haben sich zahlreiche Besucher oder Gläubige versammelt. Es könnten Pilger aus anderen Landesteilen sein, um hier ihre Referenz an eines ihrer grössten Heiligtümer zu erweisen.

The visit is popular with families and children

Already quite aware of her own beauty

Proud and barefoot

Wo ist die verdammte Brücke?

Dann also mit der Metro zurück in die Stadt, zwei Stationen wie am Morgen,doch nun mache ich einen Fehler und nehme den falschen Ausgang aus der Metro. Ich bin irgendwo, aber nicht dort, wo ich sein sollte. Es gibt keinen Anhaltspunkt, kein Gebäude, das mir bekannt vorkommt.

Shit!

Das klingt nicht wirklich aufregend, ist es aber. Niemand weiss nämlich, ich am allerwenigsten, wo die verdammte Brücke ist, die mich zu meinem Hotel zurückführt. Es dauert nicht lange, und ich habe eine ganze Truppe von neugierigen und hilfsbereiten Indern um mich versammelt, die mir alle helfen wollen, aber im Grunde keine Ahnung haben, wonach ich suche. Und Google Maps, dieses unverzichtbare Werkzeug, um in der Welt nicht verloren zu gehen, zeigt zwar viele Strassen und Plätze, aber keiner kommt mir bekannt vor.

Nun, auch dieses Problem löst sich irgendwann in Musse auf, und ich kann endlich etwas essen gehen …

Nachtzug nach Jodhpur

Der Abend dann, obwohl hundemüde und reif fürs Bett, ist noch lange nicht vorbei, denn es gilt, den Nachtzug nach Jodhpur zu nehmen.

Noch einmal Dichtestress: die Metro ist um diese Zeit derart gerappelt voll, dass ich mit meinem Rucksack nur unter gütiger Mithilfe einiger Passagiere es gerade eben noch schaffe, mich in den Wagen zu drücken.

Nach zwei Stationen bin ich bereits nahe dem Erstickungstod, zumindest aber etwas bläulich im Gesicht.

Ich bin erwartungsgemäss nicht der einzige Passagier, der auf die Abfahrt des Zuges wartet. Wie immer hat sich eine erstaunliche Anzahl Menschen am Boden breitgemacht, man isst, man lacht, man schwatzt und hat eine gute Zeit.


Und dann steht die Welt einen Augenblick lang still

Der Zug fährt pünktlich ein, ich hole mir noch etwas zu essen, habe Mühe, einen etwas beschädigten 500-Rupie-Schein loszuwerden, und drücke ihn einem Bettler in die Hand. Er sitzt am nackten Boden, ein junger Kerl, wahrscheinlich kaum zwanzig, und als er mich ansieht, steht für einen Moment die Welt still.

In Indien steht man permanent unbegreiflicher Armut, unbeschreiblichem Leid gegenüber. Die Seele antwortet darauf mit innerlichem Rückzug, wappnet sich mit Distanz, mit einem unsichtbaren Panzer. Denn ohne ist man verloren.

Doch es gibt diese Augenblicke, wo keine Flucht mehr möglich ist. Wo der härteste Panzer durchdrungen wird. Der Blick des jungen Mannes ist seltsam leblos, kein Lächeln, kein dankbares Nicken, wie es sonst bei Bettlern üblich ist, wenn man ihnen etwas gibt. Er scheint in einer anderen Welt zu sein.

In diesem Moment spüre ich, dass es nicht mehr unsere Welt ist.

Er steht langsam auf, seine Beine haben den Umfang meines Handgelenks, und geht mit langsamen mühsamen Schritten weg. Ich habe viel Leid und Armut gesehen, aber dieser Anblick treibt mir die Tränen in die Augen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat an diesem Tag alles gestimmt, jetzt stimmt nichts mehr …

Ich weiss nicht, wie lange ich diese Bilder noch aushalte. Die Haut wird dünner, der Panzer durchlässiger …

PS Film zum Thema:  The Lord of the Rings – Naked in the Dark  (die schönste Szene der Trilogie, wo sich Verlorenheit und Freundschaft und Mut vereinen)


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