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Ladakh/Rajasthan

Old Delhi – Mitten im Chaos

Manchmal wundere ich mich, ob es im Chaos eine Ordnung gibt.

Ob eine unsichtbare Hand die Fäden zusammenhält, um das fragile Kartenhaus vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Frage stellt sich, sobald man im Zentrum von Old Delhi aus der Hoteltür tritt und dem Durcheinander ins Auge sieht.

Und dem Lärm. Dem Gestank. Den Menschen. Den Tuktuks. Den Fahrrädern. Den Früchtewagen. Den Taxis. Den heiligen Kühen.

Und dann kommt man unweigerlich auf die Frage, was man hier sucht.

Ob es etwas gibt, was man verstehen will.

Der Wissende weiß und erkundigt sich, aber der Unwissende weiß nicht einmal, wonach er sich erkundigen soll.

So heisst es irgendwo.

Heute gehöre ich zu den Unwissenden, die nicht wissen, wonach sie suchen sollen.

Aber mal sehen. Der Tag ist lang …

 

Leben in Armut

Seit dem letzten Besuch in Delhi sind 26 Jahre vergangen.

In der Zwischenzeit ist die Stadt etwas gewachsen, von 8 auf geschätzte 14 Millionen, und jeden Tag kommen mehr dazu, denn die verarmten (oder schon immer armen) Bauern aus den Hungerstaaten Bihar und UP (Uttar Phradesh) und anderswo suchen sich ihr Glück in der Grossstadt und landen mitsamt ihrer Familie nicht selten irgendwo auf einem Trottoir oder am Rande einer Müllhalde.

Zwei Drittel der Menschen in Indien leben in Armut: 68,8 % der indischen Bevölkerung müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Über 30 % haben sogar weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung – sie gelten als extrem arm. Damit zählt der indische Subkontinent zu den ärmsten Ländern der Erde. Am stärksten unter der Armut in Indien leiden Frauen und Kinder, die schwächsten Glieder der indischen Gesellschaft.

Mehr als 800 Millionen Menschen gelten in Indien als arm. Die meisten von ihnen leben auf dem Land und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten treibt viele Inder in die rasant wachsenden Metropolregionen wie Bombay, Delhi, Bangalore oder Kalkutta. Dort erwartet die meisten von ihnen ein von Armut und Verzweiflung geprägtes Leben in den aus Millionen von Wellblechhütten bestehenden Mega-Slums, ohne ausreichende Trinkwasserversorgung, ohne Müllabfuhr und in vielen Fällen auch ohne Elektrizität. Die schlechten Hygienebedingungen sind Ursache für Krankheiten wie Cholera, Typhus und Ruhr, an denen vor allem Kinder leiden und sterben. (siehe Bericht)

 

Poverty has many faces
Die Armut hat viele Gesichter
Fighting for survival with all means
Man kämpft mit allen Mitteln ums Überleben

Die Metro

Was hat sich seit dem letzten Mal etwas verändert? Ein Beispiel, was es das letzte Mal bestimmt noch nicht gegeben hat, die Metro.

Delhi besitzt nämlich seit gut zehn Jahren ein ausgebautes Metrosystem, das von Millionen tagtäglich rege genutzt wird. Natürlich liegt die nächstgelegene Station nicht gerade ums Eck, also werde ich schon nach dem ersten Schritt aus der Hoteltür von den versammelten TukTuk- oder Velorischka-Fahrern angesprochen.

 

 

„Where you go, Mister? Very cheap price.“ Ich schüttle den Kopf, ernsthafte Diskussion führen erfahrungsgemäss nirgends hin. Aber so schnell geben sie nicht auf. Der letzte Pfeil aus ihrem Köcher (der beim einen oder anderen Touristen das kalte Grausen auslöst) heisst dann: „Station very far, Sir. Many Thieves. Robbers. Steal your luggage.“

Mir egal. Ich setze vorsichtshalber schon mal das grimmigste Gesicht auf und überquere mit breiten Schultern die vermeintlich so gefährliche Brücke.

Natürlich ist das Lösen eines Tickets eine ganz andere Sache. Ich weiss zwar, bei welcher Station ich aussteigen muss, aber wie man zu einem gültigen Fahrschein kommt, ist unklar. Ich wundere mich einmal mehr, wie schlecht die Leute englisch sprechen. Die meisten geben sich zwar furchtbar Mühe, aber das gutturale Stakkato-Englisch stösst bei mir auf taube Ohren. Am Schluss zahle ich 8 Rupies, also umgerechnet etwas mehr als 11 Rappen, und besitze nun einen Token, der beim Eingang gescannt, beim Ausgang in den Schlitz geworfen werden muss. Idiotensicher.

Manchmal sogar für mich.

 

Old Delhi – Im Zentrum des Chaos

Ich lande also ohne weitere Probleme im Zentrum des Chaos, sprich mitten in Old Delhi.

Auf den ersten Blick hat sich überhaupt nichts verändert. Vielleicht ist Old Delhi auch einfach der falsche Gradmesser dazu, denn Chaos bleibt Chaos. Und so macht alles einen unveränderten Eindruck. Millionen von Menschen auf der Strasse, den vollgestellten Trottoirs, dazwischen tausende von Fahrzeugen jeglicher Art, mitten drin heilige Kühe, Pferde, Hunde …

Ich stürze mich mit Wonne mitten ins Gewühl, d.h. in das typisch indische Gewusel, und nun wird die Beschreibung etwas schwierig, denn man muss es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, mit der eigenen Nase gerochen haben. Phantasie reicht da nicht aus, ebensowenig eine gute Vorstellungskraft.

Man stelle sich in einer ziemlich schmalen Gasse hundert gelbgrüne TukTuks vor, ergänzt durch ebensoviele Velorischkas, als Zutat ein paar Autos, je nachdem einige Schubkarren, dreirädrige Lieferwagen oder Traktoren und Handkarren, gemischt und geschüttelt mit einer Million Fussgänger, die neben und zwischen den verschiedenen Vehikeln ihres Weges gehen.

Und natürlich tausend Hunde, die am liebsten mitten auf der Strasse ihren Schönheitsschlaf abhalten, oder ein paar heilige Kühe, die gedankenverloren wiederkäuen.

 

Old Delhi
Idylle auf den Strassen von Old Delhi

 

Trip mit der Fahrrad-Rikscha

Um einen wirklichen Eindruck zu erhalten, ist es ratsam, eine Fahrrad Rikscha zu mieten und sich eine Weile durch das Gewühl chauffieren zu lassen. Und so sitze ich geruhsam auf meinem schmutzigen Kissen, das einer geschätzten Milliarde Hintern etwas Linderung verschafft hat, und lasse die verrückte indische Welt an mir vorbeiziehen. Der Fahrer weist mich auf Sehenswürdigkeiten hin, wobei ich allerdings grösste Mühe habe, ihn zu verstehen.

Während rings um uns herum hupende Taxis vorbeipreschen und wir immer wieder den seltsamsten Hindernissen ausweichen, nähern wir uns gemächlich den wirklich engen Gassen, wo ein Durchkommen auf den ersten Blick aussichtslos erscheint.

Ich bin nicht erst heute mit Velorikschas (siehe Madurai) gefahren, und trotz der meist chaotischen Zustände habe ich kein einziges Mal einen Zusammenstoss gesehen. Es geht zwar immer um Millimeter, aber sämtliche Verkehrsteilnehmer sind sich derart an diese alltägliche Hölle gewohnt, dass es irgendwie klappt.

So auch heute.

 

 

Natürlich hält man sich links (Indien hat ja Linksverkehr), aber auch das eine Regel, die permanent gebrochen wird. Am besten ist, man lehnt sich zurück, überlässt dem Fahrer (meistens hagere, gestählte Männer jeden Alters, die einen Job ausüben, der mit Sicherheit zu einem der schlimmsten der Welt gehört) das Schicksal und weiss, dass es irgendwie schon gehen wird.

In dieser Hinsicht also – erste Erkenntnis – hat sich nichts geändert (ausser dass der eine oder andere Rikschafahrer seine nächste Tour per Handy organisiert). Die Läden bieten immer noch das gleiche Angebot an Waren an, mit dem westliche Touristen herzlich wenig anfangen können.

Davor stehen lächelnde entspannte Menschen, die mir sogar gelegentlich freundlich zuwinken. Hat in der Schweiz jemand von Dichtestress gesprochen? Lachhaft. Wenn es irgendwo Dichtestress gibt, dann hier. Aber man muss sich vorstellen: bei meinem ersten Besuch hatte Indien grade mal 660 Millionen Einwohner. Heute sind es doppelt so viele, und es werden immer mehr.

Man vermutet, dass Indien schon bald zum bevölkerungsreichsten Land vor China werden wird. 1.3 Milliarden! Man stelle sich diese Zahl vor. Die paar Milliönchen Schweizer würde man, falls man sie in Indien aussetzen würde, gar nicht mehr finden.

Aber – und das ist das Erstaunlichste daran – die Leute haben sich damit arrangiert. Sie kennen nichts anderes als diesen infernalischen Lärm, diese unglaubliche Enge.


Das Red Fort

Das Red Fort ist auch beim dritten Besuch eindrucksvoll, mein Lieblings-Mogul Jajahan (der Erbauer des Tadj Mahal) hat auch hier ganze Arbeit geleistet.

Als Ergänzung für die weniger geschichtlich Interessierten: der Tadj Mahal wurde zu Ehren der verstorbenen Lieblingsfrau Jajahans, Mumtaz Mahal, erbaut. Erstens ruinierte er damit den Staatshaushalt, und zweitens führte dies später zu seinem Sturz (ein Hinweis: der Gute wollte auf der anderen Seite des Yamuna-Rivers einen zweiten exakt gleichen Bau errichten, diesmal aber in schwarzem Granit).

 

Moghul Architecture
Moghul Architektur – ebenso schön wie erhaben
Entrance to a bygone world
Eingang in eine vergangene Welt

Und noch eine Veränderung: natürlich ist jeder Inder permanent daran, Fotos, vor allem Selfies zu schiessen. Das führt zu meiner eigenen Überraschung dazu, dass man mich bittet, für ein Foto zur Verfügung zu stehen. Ich? Wenn ich ein junges hübsches Blondinchen wäre, ok, aber alte Männer mit Schlapphut und wirrem Bart? Einmal mehr – wer Indien versteht, versteht die Welt!

 
 
Also a point of attraction for the locals - their glorious past
Auch für die Einheimischen ein Anziehungspunkt – ihre glorreiche Vergangenheit
The red stone has survived centuries without damage
Der rote Stein hat die Jahrhunderte schadlos überstanden
Only here and there the sandstone has suffered a little bit
Nur da und dort hat der Sandstein etwas gelitten
But even the ravages of time cannot do harm to the great architecture
Aber auch der Zahn der Zeit kann der grossartigen Architektur nicht viel anhaben

Doch noch während sich die Besucher den gepflegten Gärten entlang fotographieren, beginnt es zu regnen, und alles flüchtet sich unter die ausladenden Äste der paar wenigen Bäume.

 
 
It rains, you take refuge under the trees
Es regnet, man flüchtet unter die Bäume

Die Jama Masjid – die grösste Moschee Indiens

Nach dem Besuch des roten Forts lasse ich mich von einem Velorischkafahrer zur grössten Moschee des Landes kutschieren, die Jama Masjid. Während der Fahrt dahin, durch weitere Strassen und Gassen und Plätze, widerstehe ich sämtlichen Verführungskünsten des Fahrers, mir irgendwelchen Schrott anzuleiern.

Die Moschee erinnert mich an andere dieser Art, die zweitgrösste Pakistans und damit eine der grössten und schönsten der Welt, in Lahore in Pakistan, die berühmte Badshahi Moschee. Sie gilt als eines der bedeutendsten Werke der indo-islamischen Sakralarchitektur der Mogulzeit.

Ich kann mich gut an die ungeheuren Ausmasse erinnern. Nur schon der Platz vor der Moschee war grösser als ein paar Fussballfelder zusammengenommen. Auf dem quadratischen Hof mit einer Seitenlänge von jeweils etwa 150 m finden über 50.000 (andere sprechen gar von 90.000 oder 100.000) Gläubige Platz. Er ist von einer zinnenbekrönten Mauer umgeben, deren Ecken durch hohe Minarette betont werden.

 

Badshahi-Mosque in Lahore (Pakistan)
Badshahi-Moschee in Lahore (Pakistan)

Aber heute steht ja nicht die Badshahi im Zentrum des Interesses sondern die vergleichsweise kleine Jama Masjid in Delhi. Der Himmel hat sich nach dem kurzen Regenguss erhellt, doch immer noch scheint die Sonne weich und rund und kaum sichtbar durch das Wolkengeflirre. Die Minarette stehen stramm wie seit ihrer Erbauung im 17. Jahrhundert, heute eigenartig beleuchtet durch das unwirkliche Licht der Nachmittagssonne.

 

Jama Masjid in Delhi
Die Jama Masjid in Delhi
Restoration works in progress
Restaurationsarbeiten im Gang
The Mughal architecture in its most beautiful expression
Die Moghul Architektur in ihrer schönsten Ausprägung
Endless carpet-covered arcades
Unendlich lang scheinende teppichbedeckte Arkaden

Ein Laufsteg für Familien und kleine Mädchen

Der riesige Platz vor der Moschee scheint bei Familien sehr beliebt zu sein. Man könnte meinen, dass es Sonntag ist oder Freitag, der heilige Tag der Moslems. Nichts dergleichen, es ist ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, und doch haben sich zahlreiche Besucher oder Gläubige versammelt. Es könnten Pilger aus anderen Landesteilen sein, um hier ihre Referenz an eines ihrer grössten Heiligtümer zu erweisen.

Ich weiss es nicht und finde es auch nicht heraus, denn meine schüchternen Fragen in englisch werden mit einem verständnislosen Schulterzucken beantwortet. Allerdings wird die Schönheit der Moschee noch zusätzlich aufgewertet durch unzählige in kostbare, farbige Kleider gehüllte Kinder. Sie befinden sich auf dem grössten Laufsteg der Welt, so hat man den Eindruck. Auf jeden Fall scheinen sie die Aufmerksamkeit nicht nur ihrer stolzen Eltern sondern auch all der anderen Besucher zu geniessen …

 

The visit is popular with families and children
Der Besuch ist beliebt bei Familien und Kindern
Already quite aware of her own beauty
Schon ziemlich der eigenen Schönheit bewusst
Proud and barefoot
Stolz und barfuss

Wo ist die verdammte Brücke?

Dann also mit der Metro zurück in die Stadt, zwei Stationen wie am Morgen,doch nun mache ich einen Fehler und nehme den falschen Ausgang aus der Metro. Ich bin irgendwo, aber nicht dort, wo ich sein sollte. Es gibt keinen Anhaltspunkt, kein Gebäude, das mir bekannt vorkommt.

Shit!

Das klingt nicht wirklich aufregend, ist es aber. Niemand weiss nämlich, ich am allerwenigsten, wo die verdammte Brücke ist, die mich zu meinem Hotel zurückführt. Es dauert nicht lange, und ich habe eine ganze Truppe von neugierigen und hilfsbereiten Indern um mich versammelt, die mir alle helfen wollen, aber im Grunde keine Ahnung haben, wonach ich suche. Und Google Maps, dieses unverzichtbare Werkzeug, um in der Welt nicht verloren zu gehen, zeigt zwar viele Strassen und Plätze, aber keiner kommt mir bekannt vor.

Nun, auch dieses Problem löst sich irgendwann in Musse auf, und ich kann endlich etwas essen gehen …


Nachtzug nach Jodhpur

Der Abend dann, obwohl hundemüde und reif fürs Bett, ist noch lange nicht vorbei, denn es gilt, den Nachtzug nach Jodhpur zu nehmen.

Noch einmal Dichtestress: die Metro ist um diese Zeit derart gerappelt voll, dass ich mit meinem Rucksack nur unter gütiger Mithilfe einiger Passagiere es gerade eben noch schaffe, mich in den Wagen zu drücken.

Nach zwei Stationen bin ich bereits nahe dem Erstickungstod, zumindest aber etwas bläulich im Gesicht.

Ich bin erwartungsgemäss nicht der einzige Passagier, der auf die Abfahrt des Zuges wartet. Wie immer hat sich eine erstaunliche Anzahl Menschen am Boden breitgemacht, man isst, man lacht, man schwatzt und hat eine gute Zeit.


Und dann steht die Welt einen Augenblick lang still

Der Zug fährt pünktlich ein, ich hole mir noch etwas zu essen, habe Mühe, einen etwas beschädigten 500-Rupie-Schein loszuwerden, und drücke ihn einem Bettler in die Hand. Er sitzt am nackten Boden, ein junger Kerl, wahrscheinlich kaum zwanzig, und als er mich ansieht, steht für einen Moment die Welt still.

In Indien steht man permanent unbegreiflicher Armut, unbeschreiblichem Leid gegenüber. Die Seele antwortet darauf mit innerlichem Rückzug, wappnet sich mit Distanz, mit einem unsichtbaren Panzer. Denn ohne ist man verloren.

Doch es gibt diese Augenblicke, wo keine Flucht mehr möglich ist. Wo der härteste Panzer durchdrungen wird. Der Blick des jungen Mannes ist seltsam leblos, kein Lächeln, kein dankbares Nicken, wie es sonst bei Bettlern üblich ist, wenn man ihnen etwas gibt. Er scheint in einer anderen Welt zu sein.

In diesem Moment spüre ich, dass es nicht mehr unsere Welt ist.

Er steht langsam auf, seine Beine haben den Umfang meines Handgelenks, und geht mit langsamen mühsamen Schritten weg. Ich habe viel Leid und Armut gesehen, aber dieser Anblick treibt mir die Tränen in die Augen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat an diesem Tag alles gestimmt, jetzt stimmt nichts mehr …

Ich weiss nicht, wie lange ich diese Bilder noch aushalte. Die Haut wird dünner, der Panzer durchlässiger …

 

PS Film zum Thema:  The Lord of the Rings – Naked in the Dark  (die schönste Szene der Trilogie, wo sich Verlorenheit und Freundschaft und Mut vereinen)

Und hier geht die Reise weiter .. nach Rajasthan

 

Ladakh/Rajasthan

Die Schönheit der Leere

 

Was ist das Berückende an den Bergen, an den leeren stillen einsamen Orten, wo der eigene Atem das einzige Geräusch ist?

Ist es der Blick ins Nichts? Oder die Schönheit des Nichts?

Die Berge sind nur noch eine Erinnerung, bereits fern, bereits unwirklich.

Der Blick am frühen Morgen, nach einer ohnmachtsähnlichen Nacht, geht instinktiv nach Norden, dorthin, wo sind uns verloren gegangen sind. Sie sind noch da, ebenso die Geister, die uns begleitet haben. Aber jetzt sind wir hier, im lärmigen Manali, etwas verloren und ratlos und auch etwas traurig. Ich bezweifle, dass ich sie noch einmal sehen werde. Und wenn ja, dann anders, nicht mehr mit der gleichen Hingabe. Wie alles, was beim zweiten oder dritten Mal anders erscheint.

Das ist der Grund, warum ich ungern an die gleichen Orte zurückkehre. Immer geht dabei etwas verloren.

 

Zurück in der Vorhölle

Frühstück im noch verschlafenen Städtchen, Banana-Pancake und heisser starker Black Coffee. Ich lehne mich zurück, schalte die Gedanken ab, bin einfach nur noch hier, während die TukTuks sich die steilen Gassen hinaufquälen, blaue Abgase und mörderischen Lärm hinter sich herziehend.

Ich spüre eine lange nicht mehr empfundene Melancholie. Es ist ja auch ein Abschied (nicht nur von Anja, die noch ein paar Tage hierbleiben wird), auch von Ladakh, von den Bergen, der Abgeschiedenheit, dem Indien in den Bergen, das so ganz anders ist. Denn jetzt bin ich zurück im wahren Indien, dem lärmigen, heissen, verrückten Indien. Dort, wo die Luft anders riecht als irgendwo auf der Welt. Dort, wo die Farben intensiver leuchten. Dort, wo der Motor lauter dröhnt.

Und immer, wenn ich in Indien bin, tauchen Bilder auf, zwar längst in einer unteren Schublade des Gedächtnisses versorgt, doch immer noch da, wartend, wieder hervorgeholt zu werden. Es ist die alte Liebe oder der alte Hass, alles meldet sich zurück, die Bilder, die Phantasien, die Illusionen.

 

Wherever you look, everything is smaller or bigger, but certainly different
Wo immer man hinschaut, ist alles kleiner oder grösser, aber sicher anders
Two worlds meeting
Zwei Welten begegnen sich
 

Ein Bus, der nicht kommt

Ich bin also zurück, hier in Manali noch in einer Art Ruhe vor dem Sturm, bevor dann spätestens in Delhi die wahre Vorhölle beginnt. Vorerst geht es aber darum, noch einmal tüchtig Luft zu holen, denn ab morgen ist diese ein seltenes Gut. Um drei mache ich mich auf den Weg zur Busstation, genaue Angaben über die Busnummer und Sitz auf meinem Ticket.

Eine Wiese irgendwo am Rand der Stadt dient als Busbahnhof.

Dieser Ausdruck ist etwas übertrieben, denn es handelt sich lediglich um eine wirre Anhäufung von Bussen, von TukTuks, Autos, Verkaufsständen und Restaurants und tausend Menschen, die irgendwas damit zu tun haben. Fragt sich nur was, denn nirgends ist jemand zu sehen, der das Ganze unter Kontrolle hat. Der mir sagen kann, warum ausgerechnet mein Bus nirgends zu sehen ist.

 

Bus station in Manali
Irgendwo hier müsste mein Bus sein (was er aber nicht ist)

Irgendjemand telefoniert dann auf meine Bitte hin doch mit irgendjemandem, um die Auskunft zu erhalten, dass der Bus verspätet ist. Ach so. Wäre ich nicht draufgekommen.

Die Busse fahren einer nach dem anderen ab, verschwinden in einer Wolke aus Dieselabgasen und Staub … und ich warte immer noch auf meinen Bus mit der Nummer 14387. Man erbarmt sich schliesslich meiner und steckt mich kurzentschlossen in einen anderen Bus. Ok, der ist zwar noch leer, aber ich weiss, dass er sich irgendwann irgendwo füllen wird. Das wird eine interessante, lange und mühselige Fahrt werden. Ich bin gespannt, auch wenn mich meine Erfahrungen gelehrt haben, dass schlechte Omen selten zu positiven Ergebnissen führen.

 

Drei ehrwürdige alte Sikhs

Wie befürchtet, füllt sich der Bus schnell.

In Manali, kurz nach der überfälligen Abfahrt, dachte ich noch voller Hoffnung auf einen nicht gar zu vollen Bus, aber eben, solche Erwartungen sind selten realistisch. Ich hänge am Fenster, beobachte das Licht, das warme farbige indische Licht, das sich ins Dunkel verkriecht.

Reise von Manali nach Delhi
Eine lange Reise von Manali nach Delhi

Nach vielen Stopps und dem Zusteigen weiterer Passagiere, wird es still im Bus. Die jungen Leute haben die Wolldecken über den Kopf gezogen, manchmal hört man ein leises Schnarchen. Friedvoll.

Wären da nicht drei ehrwürdige alte Sikhs, Turbane auf dem Kopf, in weisse Gewänder und knallenge weisse Leggins gekleidet, die als allerletzte Passagiere eingestiegen sind. Sie sind ausserdem ziemlich korpulent, ihr BMI muss mindestens 30 oder einiges mehr betragen. Einer der drei, mit einem gigantischen Bart, zwängt sich mit Schnaufen und Ächzen auf den letzten noch verbliebenen leeren Sitz, nämlich den neben mir, während sich die beiden anderen auf die Nebensitze drängen.

Mein Nachbar würdigt mich keines Blickes, und so ergibt sich eine unausgesprochene gegenseitige verächtliche Abneigung. Was allerdings eine Ausnahme ist, denn eigentlich mag ich alte Inder, sie strahlen meistens eine besondere Würde aus. Diese drei seltsamen Männchen sind eine Ausnahme. Immer, wenn sich mein Sikh auf seinem Sitz bewegt, komme ich mir vor wie auf einer Wassermatratze, es schaukelt und federt und schwingt. Dafür brummelt er ungehalten irgendwas in seinen Bart, wenn ich aufstehen will und er seinen massigen Körper bewegen muss.

Tja, die drei sind wahrlich nicht das Salz der Erde …

Mir ist natürlich einigermassen bekannt, worum es bei der Sikh-Religion geht. Eine der heiligen Regeln besagt zum Beispiel, dass sich die Männer ihre Haare nicht schneiden dürfen. Das führt natürlich organisatorisch und ästhetisch zu gewissen Problemen, also versteckt man sie unter einem Turban. Aber jetzt kommt das Schöne: ich kann mir einen Grinser nicht verkneifen, als ich feststelle, dass unter dem überdimensionierten Turban meines Sikhs ein letztes mickriges Schwänzchen geblieben ist. Alles andere hat den Weg alles Vergänglichen genommen. Was mich beinahe versöhnt mit ihm …

 

Der Hauch einer kühlen Brise

Ich erwache aus meiner Bewusstlosigkeit, und tatsächlich, ein neuer Tag ist angebrochen.

Die Nacht vor dem Fenster ist jetzt, um halb zwei, nicht etwa dunkel und still, sondern von Hunderten von Lichtern durchbrochen. Wenn jemand einen Eindruck von der Dynamik des indischen Subkontinents gewinnen will, dann sollte er sich einfach mitten in der Nacht an eine beliebige Strasse stellen und schauen, welche Post da abgeht. Lastwagen kreuzen sich auf schmaler Strasse, man hupt wie üblich, was das Zeug hält, Kanten von Lastwagenseiten schrammen gelegentlich haarscharf an meinem Fenster vorbei.

Mein Sikh bleibt im Bus, ich steige wieder mal über ihn hinweg, sein böses Knurren verstärkt mein spöttisches Grinsen. Es ist warm, die mitternächtliche Wärme Indiens, die ich immer geliebt habe. Sie schlägt nicht mehr auf deiner Haut auf, sie ist versöhnlich geworden, der Hauch einer Brise löst Ekstase aus.

 

My bus in the Indian darkness, somewhere
Mein Bus in der indischen Dunkelheit, irgendwo

Eine falsche Frage

Erstaunlicherweise gehen die 14 Stunden Fahrt bis Delhi relativ zügig vorbei, auch wenn ich gestehen muss, dass mir für solche Abenteuer langsam die Lust fehlt.

Ich könnte es soviel einfacher haben, aber nein, es muss der verflixte Bus sein. Ausserdem bin ich wieder mal der einzige Ausländer, kein Mensch scheint ein verständliches Englisch zu sprechen, und der Zugbegleiter redet so schnell und so schlecht, dass ich kaum die Hälfte verstehe. Es schleicht sich auch das dumpfe Gefühl ein, dass man mich nicht mag, dass man alle Ausländer nicht mag. Vielleicht täusche ich mich, aber das folgende Kapitel zeigt einmal mehr, dass man seiner Intuition trauen sollte.

Ich kann mich erinnern, dass der Zugbegleiter das Kashmiri Gate erwähnt hat, also der Ort, wo ich aussteigen muss.

Beim ersten Halt – es ist heller Morgen geworden – glaube ich tatsächlich diesen Ausdruck zu hören, frage vorsichtshalber nach und versichere mich bei mehreren Passagieren, dass es sich im das besagte Gate handelt. Jeder nickt (und lacht wahrscheinlich hinter meinem Rücken), denn nachdem ich ausgestiegen bin und ein TukTuk oder Taxi suche, erkenne ich den Fehler. Ich befinde mich irgendwo ausserhalb Delhis, etwa 30 Kilometer, wie sich herausstellt, und das entsprechende Taxi kostet ziemlich genau das Doppelte als die ganze Busfahrt gekostet hat.

 

Wiedersehen mit Old Delhi

Nun, immerhin bringt er mich ins Hotel, wo mitten in Old Delhi ein reserviertes Zimmer auf mich wartet. Die Fahrt dahin, durch enge Gassen, vorbei an einer geschätzten halben Million Menschen und Hunden und Kühen, bringt mich in Windeseile mit dem in Kontakt, was ich unter Indien verstehe.

Und oh Wunder – plötzlich fühle ich mich ausgesprochen wohl. Seltsam, irgendwie fühlt es sich an, als wäre ich nach Hause gekommen.

 

This is India
Das vergisst man nie, das ist Indien

Am frühen Nachmittag wage ich die ersten Schritte hinaus ins Spektakel, gehe langsam und mit offenen Augen und Ohren (und Nase, denn in Indien riecht es immer nach Irgendwas, was man lieber nicht wissen möchte) durch die Strassen, dem Connaught Place zu.

 

 

Der Platz mit erhabenen Fassaden und klassischen Säulen ist Dreh- und Angelpunkt von Neu-Delhi, also in einem großen Kontrast zum überfüllten Zentrum von Old-Delhi. Er ist für ein klassisches Einkaufszentrum sehr großzügig angelegt worden. Ähnlich dem parlamentarischen Hauptquartier südlich sind die Geschäfte und Büros in prächtigen Gebäuden mit Arkadengängen untergebracht. Der Connaught Place beherbergt ein immenses touristisches Angebot, eine große Anzahl von Hotels und Restaurants. (Wikipedia)

Was immer wieder verblüfft, sind die an sich völlig unwichtigen Details, die im Gedächtnis haften bleiben. Vom ersten Trip die Erinnerung an das schlechteste Cola meines Lebens, beim zweiten das scharfe Essen in einem der angesagten Restaurants mit später auftretenden Magenbeschwerden Johns (der keine scharfen Speisen verträgt).

Diesmal bin ich einfach nur überwältigt durch den ungeheuren Verkehr, die dichten Trauben von Menschen, die krassen Unterschiede zwischen den Ärmsten auf der Strasse und den teuer gekleideten Business People beim Connaught Place. Und das alles innerhalb weniger Meter. Das ist auch Indien …

Aber alles in allem – schön wieder hier zu sein!

 

PS Song zum Thema:  Hope Sandoval and the warm Inventions – Salt of the Sea

Und hier geht die Reise weiter … mit einem Abstecher ins Chaos von Old Delhi