So sitze ich an diesem Morgen beim Frühstück im Café, schaue hinaus in den kühlen Morgen, irgendwie froh, diesem seltsamen Ort entfliehen zu können.

Auf der Strasse bewegen sich viele Leute, alle auf dem Weg irgendwohin, keine Ahnung wohin. Sie sehen so zielgerichtet aus, wie das heute sein muss. Das Dogma der Zeit: man sollte immer ein Ziel vor Augen haben, alles andere ist verschwendetes Leben.

Irgendwie traurig. Man verpasst soviel beim ununterbrochenen Vorwärtsstreben.

Aber der Mandelgipfel ist genauso wie gestern, eine Köstlichkeit. Das Aroma entfaltet sich im Mund, der Teig zerbröselt, man braucht kaum zu kauen. Und der Kaffee ist stark und erinnert entfernt an den Ort, wo die Bohnen gewachsen sind. Auch dort möchte ich sein, nur nicht hier.

Ich habe – überheblich wie ich nun mal bin – wieder einmal zwei Etappen zusammengelegt, also von Andermatt bis nach Airolo. Es hat schliesslich auch vor über zehn Jahren geklappt, warum sollte es heute anders sein? Das um gleich viele Jahre zugenommene Alter verschweige ich mir selbst. Aber ich weiss, was auf mich zukommt.

Zwei grossartige Etappen.

Die erste führt auf den Gotthardpass:

In den Fussstapfen der Säumer auf der jahrhundertealten Nord-Süd-Achse von Andermatt auf den Gotthardpass. Bis Hospental ebenen Weges der Reuss entlang durch das romantische Urserental. Von dort auf historischem Saumweg neben der plätschernden Gotthardreuss hinauf auf den wichtigsten Alpenpass der Schweiz.

From Andermatt to the Gotthardpass
Von Andermatt bis zur Gotthardpasshöhe

Die zweite Etappe als Bonus:

Vom König der Schweizer Pässe auf steilem Bergwanderweg hinunter in die Leventina. Spektakuläre alpine Bergwelt kombiniert mit verkehrsbaulichen Meisterleistungen verschiedener Epochen. Auf Tuchfühlung mit der denkmalgeschützten Tremolapasstrasse.

Meine Werte (für die gesamte Strecke): Länge 20.1 km; Aufstieg/Abstieg: 990 m / 1240 m; Wanderzeit 8 h 22 min

From the Gotthardpass to Airolo
Von der Gotthardpasshöhe nach Airolo

Der Himmel, mein alter Freund

Dann also auf zur letzten Etappe, über den Berg, über den Gotthardpass.  Der Himmel, mei alter Freund, begrüsst mich mit düsteren Wolken, egal. Im Tal hinten, wo der Anstieg beginnt, ein Gebräu aus Nebel und sonstwas.

Nach dem gestrigen Ruhetag freuen sich meine Muskeln auf die Auseinandersetzung mit der Höhe, der Distanz, den Steigungen.

Nichts kann mich mehr erschüttern.

 

Upwards to the Gotthard
Ganz langsam und gemütlich dem Gotthard entgegen

Along the Reuss throught the Urseren Valley An ancient Tower at Hospental

In den Bäumen entlang der Reuss ist ab und zu das Röhren einer Säge zu hören. Und wieder muss ein Baum dran glauben. Keine Gnade.

Die Pflege des Waldes ist mir ein Rätsel. Nichts kann mich derart ärgern wie das jeweils im Herbst stattfindende Gemetzel im Wald. Schwerste Maschinen preschen gnadenlos und brutal über den empfindlichen Waldboden, sorglos, gedankenlos. Wahrscheinlich (wie immer) der Rendite verpflichtet.

Zurück bleiben uralte Bäume, die viel zu erzählen hätten, rücksichtslos zu Boden geworfen, als wären sie nichts, traurige Reste eines langen Lebens. Es kommt mir jeweils vor, als hätte mir jemand enge Freunde genommen.

Zurück bleiben metertiefe Spuren im Waldboden. Enthauptete Baumstümpfe. Achtlos weggeworfene Äste.

Ein Schlachtfeld.

Der Weg führt einem Golfplatz entlang, niemand zu sehen. Wer soll sich an diesen gottverlassenen Ort verirren, wenn es doch wunderschöne Plätze auf der ganzen Welt gibt. Ich kann mir ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.

Viel interessanter finde ich die Tatsache, dass genau hier, unter meinen Füssen, der Zug durch seinen Tunnel in Richtung Süden rast. Ich lausche, doch nichts zu hören. Kein dumpfes Brausen, kein metallenes Pochen. Er wird in ein paar Minuten in Airolo ankommen, während ich noch Stunden auf den Füssen sein werde.

Doch dann Hospental, das hinterste Dorf. Hier verzweigen der Furkapass, der ins Wallis führt, und der Gotthardpass. Der Ort profitierte während der Säumerzeit vom regen Handelsverkehr. Davon zeugen zahlreiche Gasthäuser und die alte Zollstation.

Und da ein alter Turm, obwohl im Verfall begriffen, noch immer trutzig und zu allem bereit, so scheint es. Man fragt sich, wer sich hier gegen wen verteidigen musste,

Der Morgen ist aus Blau und Weiss

Der Aufstieg beginnt. Ganz harmlos, einladend. Der Talgrund bleibt zurück, schnell vergessen. Ich bin allein, so wie es sein muss, auf den Spuren der Vorfahren, denen dieser Berg, dieser Pass eine Verheissung bedeutete, Sonne, Wärme, südliche Lebenskunst,

Aber auch das Tor zu Italien, der damals einzige Verkehrsweg in den Süden. Was muss sich hier alles abgespielt haben. Manchmal glaube ich, ein Wispern zu vernehmen, von den Geistern der vergangenen Wanderer, wahrscheinlich schwer beladen, daneben Pferde und Maultiere und Esel, schnaubend vor Anstrengung.

War der Himmel so wie heute, blau und weiss, über grünen, baumlosen Anstiegen, dem Himmel entgegen?

 

Upwards to the Gotthard

Es fällt ganz leicht. Der Pfad führt gemächlich aufwärts, Kurve um Kurve, man kommt kaum ins Schwitzen, doch immer wieder bleibe ich stehen, ziehe die kühle, würzige Luft in meine Lungen, spüre das alte Glücksgefühl, das sich zuverlässig einstellt, wenn alles stimmt.

So wie an diesem Vormittag.

The old mule track - sometimes abridge

Eine Brücke führt ans andere Ufer des Baches, wohin weiss niemand. Vielleicht in ein Tal hinein, ganz zuhinterst eine Alp. Man wirft einen kurzen Blick darauf, ein, zwei Gedanken, und geht weiter.

Eien Schafherde, zusammengepfercht, umgeben von metallenen Zäunen. Der Mann neben dem Pferch gibt Antwort: die Schafe sind zum Abtransport bereit. Der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, wenn das Wetter umschlägt, kann es mitunter schnell gehen, bis der erste Schnee fällt.

A flock of sheep, ready for transport A strange building - an air vent of the railroad tunnel

Der enge Himmel

Der Himmel, mit zuckrigen Wolken geschmückt, ist eng, wie eingeschnürt durch die baumlosen Abhänge. Hier gedeiht nicht mehr viel. Die Baumgrenze ist längst erreicht, obwohl sie jedes Jahr ein bisschen weiter nach oben wächst. Der Klimawandel lässt grüssen.

Irgendwann in nicht so ferner Zukunft wird das Leben für die Tiere der oberen Bergregionen gefährdet sein. Schneehasen, Auerhühner, Murmeltiere und anderen, sie alle werden sich anpassen müssen oder verschwinden.

Wie so vieles andere, wenn wir nicht aufpassen.

The narrow sky, decorated with funny clouds

Hoch am Himmel kreist ein Raubvogel, vielleicht ein Steinadler. Die Sonne blendet, die Sicht verschwimmt. In der Stille ist das kaum wahrnehmbare Sausen der Flügel zu hören, vielleicht sucht er eine unvorsichtige Maus. Wer weiss, was er von da oben alles sieht.

Die Welt in den Augen des Adlers.

Ganz selten, was mich überrascht, dringt das Röhren eines Motors durch die andächtige Stille. Die Passstrasse ist nicht weit, das enge Tal lässt keine Abstände zu.

Beim letzten Besuch wurden wir durch ein Kutschengespann überrascht. Offenbar gibt es immer noch entsprechende Angebote, sich wie vor hundert Jahren durch Pferdegespanne über den Gotthard ziehen zu lassen.

Windräder ganz oben

Lange her seit den letzten Windrädern. Es kommt mir vor wie Monate, dabei sind es knapp drei Wochen.

Ich sitze da, die Wasserflasche in der Hand, und betrachte die riesigen Ungetüme. Auf den ersten Blick sind sie Fremdkörper, und doch schmiegen sie sich graziös ein in die Umgebung, als wären sie schon immer hier gewesen.

Eigentlich finde ich sie schön, so elegant in ihren sanften Formen, man hört nur ein leises Schwirren, wenn sich die riesigen Flügel im Wind drehen. Ganz langsam, fast lautlos.

Man fragt sich, wie sie mit so wenig Bewegung soviel Energie produzieren können.

Wind turbines at the top of the Gotthard

Die Passhöhe

Ganz überraschend – die erwartete Anstrengung ist ausgeblieben – erreiche ich unvermittelt ie Passhöhe.

Auf dem letzten Wegabschnitt treffen Verkehrswege dreier Epochen aufeinander: der uralte Säumerweg, die alte Passstrasse von 1830 sowie die neue Strasse, ausgebaut mit einer Galerie, die vor Felsstürzen schützt. Der Weg führt durch eine Moorlandschaft mit vielfältiger Alpenflora.

Anfänglich eine mit grossen Felsen übersäte Ebene, die zu einem kleinen See führt, und kurz darauf, schon von weitem ist die Meute von Motorrädern und Autos zu sehen und zu hören, steht man vor der Tafel, wo die Passhöhe auf 2100 Metern angekündigt wird, und klopft sich auf die Schultern. Kurz vor Erreichen der Passhöhe sticht auf der rechten Seite die gewaltige Staumauer des Lago di Lucendro ins Auge – die Quelle der Gotthardreuss.

Wenn ich allerdings an den World’s Highest Motorable Pass in Ladakh denke, na ja, alles ist relativ ….

The top of the Gotthard

Das Gedränge auf der Passhöhe, wo es erwartungsgemäss ein Restaurant und Läden und Tische und Bänke und Parkplätze und Souvenir-Shops gibt, ist erstaunlich. Offenbar besitzt dieser Ort eine eigene Anziehungskraft, was angesichts des besonderen Ortes kaum überraschend ist.

Für mich wird das alles schnell zuviel. Soviel Krach, soviel Bewegung, soviele Stimmen. Nach einem geruhsamen Kaffee im Restaurant, nehme ich den Abstieg unter die Füsse. Airolo, das Tagesziel, liegt über 1000 Meter unter mir.

Abwärts der Tremola entlang

Der Lärm bleibt hinter mir zurück, sehr schnell, als wäre nichts gewesen. Niemand ist mehr da, der mir erstaunte Blicke zuwirft. Ich bin froh, wieder allein zu sein. Ich Glücklicher.

Was ich hingegen nicht vergesse, ist die Tatsache, dass sich genau hier eine bedeutende Wasserscheide befindet. Rhein, Rhone, Reuss und Ticino entspringen in diesem Gebiet (bei der Rhone bin ich allerdings skeptisch).

Wenn ich also einen Schritt nach Süden mache, dann wird das Quellwasser unter meinen Füssen irgendwann mit samt dem verdreckten Po-Wasser im Mittelmeer landen. Und ein paar Meter daneben entscheidet sich das Wasser für Norden, folgt zuerst der Reuss, dann dem Rhein bis zur Nordsee. Es erinnert mich an ein Bad am südlichsten Punkt des indischen Subkontinents, wo sich zwei Meere begegnen …

Man müsste den Flüssen folgen können. Vielleicht eine Idee für die nächste Wanderung. Von der Quelle des Rheins bis zur Nordsee. Mal sehen …

A plain and a cut in the countryside - the road Just a few meters before the abyss beginns

Anyway, der Weg führt anfänglich über eine sumpfige Ebene, durchzogen von Trampelpfaden, wahrscheinlich vom Vieh in den Boden gedrückt. Auf der anderen Talseite erkennt man die tiefen Einschnitte im Felsen, wo die Strasse durchführt. Sie wurde anstelle der alten Gotthardstrasse, der berühmt-berüchtigten Tremola gebaut.

Ab 1953 begann Uri mit dem Vollausbau der Schöllenenstrasse. Das Urnerloch wurde ausgebaut und eine neue Teufelsbrücke errichtet. Im Sommer 1967 konnte der erste Teil der neuen Tremolastrasse eröffnet werden; die restliche Tremolastrasse konnte aber erst 1977 befahren werden.

Die neue Strasse umgeht mit ihrer neuen Linie, den dreizehn Brücken, einem Tunnel und ihren langen Lawinengalerien die alte Tremolastrasse grossräumig. Im Sommer 1983 konnte als letztes Teilstück der neuen Gotthardstrasse die Umfahrung von Andermatt als Teil der Hauptstrasse 2 dem Verkehr übergeben werden. Die alte Tremolastrasse zwischen der Passhöhe und Motto Bartola bildet die Hauptstrasse 561.

Der Wanderweg hinunter ins Tessin führt zum grossen Teil der Tremola entlang. Zuweilen ist er steil und voller Geröll, nicht das, was man sich nach sovielen Stunden wünscht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Verantwortlichen für die Instandhaltung des Wegs schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen sind.

The famous Tremola - the old road down to the Ticino It's still open fpr traffic, but mostly on cobble stone; on the other side the new road cut into the rock

The hiking path crosses several times the Tremola The Tremola - a paradise for motorbikes

Aber dann – Airolo … und meine Wanderkumpels

Beim sinkenden Nachmittag soll am Ziel enden, doch immer noch liegen viele Kilometer vor mir, vor allem aber viele Höhenmeter. Ich steige herunter vom höchsten Punkt dieser Wanderung, ab jetzt beginnt ein neues Kapitel, das letzte.

Das Tessin, die Sonnenstube der Schweiz, ist nicht nur geographisch, sondern auch sprachlich und kulturell eine eigenständige Region, manchmal eher ein Stück Italien (was die Einheimischen natürlich vehement bestreiten würden).

Vorerst unterscheidet sich aber wenig.

Die Hänge links und rechts der Strasse sind ausgelaugt durch die lange Sommerdürre, das Gras ist verdorrt, ein kränkliches Braun zieht sich von den Gipfeln bis zum Talboden. Dazwischen ein paar Bäume, erst weiter unten werden sie zahlreicher, spenden ein wenig Schatten, denn die Sonne brennt immer noch leidenschaftlich vom Himmel.

Wenn man die eleganten Schleifen sieht, die von der neuen Strasse durch die Landschaft pflügen, ist man hin- und hergerissen zwischen Staunen und Bewunderung für die grandiose Arbeit der Architekten und den tiefen Wunden, die in die Natur geschlagen werden. Aber eben, die Mobilität, die heilige Kuh der Schweizer Verkehrspolitik, steht immer zuoberst im Kanon der wirklich wichtigen Dinge. Auf jeden Fall wichtiger als der Erhalt der Natur.

Aber das kennen wir ja in der Zwischenzeit.

Elegant curves, cut into the landscape

Aber dann, zwischen den Bäumen blickt ein Dorf herauf, das Tagesziel kommt näher. Mehr als 8 Stunden sind vergangen seit dem trüben Morgen in Andermatt, die Beine sind etwas müde geworden, doch der Spirit ist noch da, klar.

Airolo, today's destination gets close

Alles ist gut, würde man sagen, wenn im Hotel auch die Reservation für das Zimmer vorhanden wäre. Ist sie aber nicht, die Kommunikationskanäle zwischen Maileingang und Reservation scheinen etwas suboptimal zu sein.

Aber hey, wir sind im Tessin, da ist man fern der verkrampften Zuverlässigkeit von nördlich der Alpen. Aber kein Problem, no worries würde man in Downunder sagen, ein alternatives Zimmer wird schnell gefunden, der Wirt und ich lachen herzlich, was soll’s, alles wunderbar.

Doch bevor ich auch nur Atem holen kann, fährt der Zug am Bahnhof ein, und da sind sie, meine alten Wanderkumpels. Und so kommen die Solotage nach über drei Wochen an ihr Ende, das ist gut so.

Die nächsten Tage, immerhin noch eine ganze Woche bis zum Endziel in Mendrisio, werden wir auf der berühmten Strada Alta durchs Tal der Leventina bis Biasca folgen. Was nachher kommt, ist vorgeplant, muss aber noch in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Welche Wirklichkeit es sein wird, werden wir sehen.

Dann werden neue Geschichten geschrieben, neue unvergessliche Anektoten, Stoff für die Annalen unserer gemeinsamen Abenteuer.

Eigentlich kann man sich gar nicht mehr wünschen.

 

Passender Song:  Marvin Gaye & Tammi Terrell – Ain’t no Mountain high enough

Und hier geht der Trail weiter … der Strada Alta entlang

 

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