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Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Das Ende des Trails

Also heute die letzte Etappe. Das Ende des Trails. Erwartet, erhofft, befürchtet.

Kann es wirklich sein, dass dieses Abenteuer heute vorbei ist?

Nun ja, diese Antwort werden wir in ein paar Stunden geben können. Vorerst müssen wir ausnahmsweise früh aus den Federn, denn das Schiff, das uns ans andere Ufer bringen soll, fährt um Punkt acht Uhr los.

Mit verschlafenen Augen (die gestrigen Mühen haben Spuren hinterlassen) setzen wir uns ins erstbeste Café (unser Hotel liegt noch in gesegnetem Schlaf) und essen sowas wie Frühstück.

Erst dann nehmen wir uns ein letztes Mal die Mühe, den Travelguide zu konsultieren, er hat einiges zu sagen (was uns wie immer auf den ersten Blick interessiert, aber auf den zweiten meistens links liegen gelassen wird).

Der Monte San Giorgio, auch als «Berg der Fossilien» bekannt, ist UNESCO-Weltkulturerbe. Er wird nach einer kurzen Schiffpassage in Angriff genommen. Auf 230-240 Mio. Jahre datierte Saurierfossilen sind in einem kleinen Museum in Meride zu bewundern.

Saurierfossilien? Erinnert mich an entsprechende Spuren am Vierwaldstättersee.

 

From Morcote to Mendrisio
Von Morcote nach Mendrisio – die letzte Etappe

 

Ein See und ein Berg

Das Schiff steht bereit, denn die letzte Etappe des Trans Swiss Trail beginnt mit einer Schifffahrt von Morcote zum gegenüberliegenden Terniciolo. Ausser uns sind keine anderen Passagiere zu entdecken, aber das Boot fährt pünktlich los. Morcote liegt in der sanften Morgensonne, der Kirchturm grüsst herab – Ciao Bello!

Trotz der kurzen Zeit hat es uns wirklich gut gefallen in diesem ehemaligen Fischerdorf. Man könnte sich vorstellen, hier längere Zeit zu verbringen, vielleicht als Pensionär (wie tausend andere). Am Vormittag einen Kaffee irgendwo an der Seeuferpromenade, dann einen Spaziergang, etwas Kleines zum Essen, eine lange friedvolle Siesta und zuletzt ein exzellentes Abendessen in einem der vielen Restaurants.

Yep, man wüsste, wie’s geht, aber vielleicht später oder dann halt im nächsten Leben, wo man alles etwas ruhiger angehen könnte.

 

The boat is waiting for us  Blue sky - blue water

Bye bye Morcote - we will remember you  Between dawn and daylight

 

Der letzte Hügel

An sich hätten wir durchaus noch Lust, den Monte San Giorgio zu Fuss zu bezwingen, aber nach über 35’000 Höhenmetern ist das Soll definitiv erfüllt. Ausserdem gilt es, die Zugfahrt nach Hause nicht zu vergessen, also ist das Zeitbudget ziemlich beschränkt.

Und so nehmen wir ohne schlechtes Gewissen die Luftseilbahn. Offenbar ist der Verkehr auf dem See und in der Luft nicht aufeinander abgestimmt, denn die Talstation ist so geschlossen wie sie nur sein kann. Wir setzen uns also nochmals hin, atmen ein letztes Mal die würzige Seeluft ein und bewundern den gefleckten Himmel.

Im Nachhinein kann ich nicht genug euphorische Lobeshymnen über das Wetter singen. Es hat mich mit Ausnahme der ersten Juratage nie im Stich gelassen, im Gegenteil. Ich frage mich, wie ich soviel Gunst verdient habe.

Erst nachdem eine junge Dame sehr verschlafen die Tore öffnet (nachdem sie den Hund noch spazieren geführt hat), schöpfen wir Hoffnung, dass doch noch etwas wird aus unserem Ausflug auf den Monte. Aber das Warten hat sich gelohnt, die Kabinen schaukeln sanft im Morgenwind, und schon sind wir oben.

Ab hier beginnt ein prachtvoller letzter Abschnitt mit nochmals gut 400 Höhenmetern, wo nach etwas mehr als einer Stunde Forello erreicht wird. Wer den Gipfel des Monte San Giorgio ersteigen möchte, kann dies mit einem 10-minütigen Umweg tun. Die 360-Grad-Aussicht toppt diejenige von Forello bei weitem.

Na ja, das glauben wir aufs erste Mal, lassen es aber trotzdem sein.

 

A very smooth ride up the hill with cable car  And a last glimpse on the lake

 

Und noch ein UNESCO Weltkulturerbe

Im Grunde genommen bin ich die letzten Wochen von einem Weltkulturerbe zum anderen vorbeigewandert (in der Schweiz sind heute dreizehn Objekte von der UNESCO zum Welterbe ernannt worden, davon allein vier im Tessin). Ich kann gar nicht mehr alle aufzählen, aber auf jeden Fall ist kein Mangel an derartigen Highlights zu beklagen.

Offenbar ist das Gebiet um den Monte San Giorgio seit 2003 als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt. Also eine Wissenslücke mehr: die südlichen Ausläufer des Luganersees sind berühmt für ihre spektakulären Fossilienfunde.

Monte San Giorgio ist eine lebende Legende eines historischen Meisterwerks mit Fossilien, die über 200 Mio. Jahre alt sind.  Vor 200 Mio. Jahren war der Berg umgeben von einer Meeresbucht und war teilweise von dem offenen Meer getrennt. Aus diesem Grund war es eine ideale Stelle für Meereslebewesen, die heute noch in Form von Fossilien bestaunt werden können. Das Fossilienmuseum in Meride bietet Besuchern die Gelegenheit  zurück in die Zeit der mittleren Trias zu reisen und verschiedene Fossilien zu bestaunen.

Es ist spannend, sich vorzustellen, wie es hier vor 240 Millionen Jahren ausgesehen hat, denn genau in dieser Gegend befand sich ein 100 Meter tiefes Meeresbecken. Als miserabler Schwimmer bin ich froh, dass wir heute in weniger feuchten Zeiten leben. Ich hätte mich in Gesellschaft von Fischen, Wirbellosen und Reptilien (Meeressauriern), deren sehr gut erhaltene Skelette man hier gefunden hat, äusserst unwohl gefühlt.

 

In search of dinosaur bones There might be a lot to see

 

Und noch ein beeindruckendes Dorf – Meride

In immer schnellerem Tempo schwindet der klägliche Rest der Wanderung dahin, immerhin entzückt uns noch ein letztes Dorf vor dem Endziel in Mendrisio. Und als Abschiedsgeschenk ein besonderes Juwel – Meride.

Manchmal fühlt man sich in einer anderen fremden Welt, dabei gehört auch der südlichste Ausläufer des Tessins zur Schweiz, aber eben, manchmal zieht man Laos vor oder Bolivien oder Indien oder weiss der Herrgott was. Und verpasst dabei vieles, das so nah ist, so schön, so voller geschichtlichem Reichtum.

 

Meride - another typical village in this region  Meride - just like a hundred years ago  Meride - but where are the inhabitants?

Die Locanda San Silvestro ist genau das, was unser Herz begehrt, ein Garten, efeu- oder rebenbewachsene gelbe Wände, ein paar Tische, ein paar Stühle, ein paar Gäste, die sich in englisch gefärbtem Business-Italienisch unterhalten und sich unglaublich wichtig vorkommen.

Tja, in genau diese Welt werden wir in ein paar Stunden zurückkehren, aber bis dahin geniessen wir das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, bevor es dann die letzten paar Kilometer bis Mendrisio geht.

 

The Locanda San Silvestro - just right for us  So the last coffee at a gorgeous place

 

Die letzten Meter

Dann also die finale Wanderstunde des Trans Swiss Trail.

In Porrentruy gestartet liegen 500 Kilometer und 35000 Höhenmeter (hinauf und hinab) zwischen dem Startpunkt und dem Ziel in Mendrisio.

Dessen Bahnhof erreicht man nach einem letzten Abstieg durch den Wald und einem kurzen Stück durch das Gewerbegebiet. Eigentlich würde der weniger bekannte Ort mit schöner Altstadt, engen Gassen, alten Palazzi, historischen Kirchen und dem mittelalterlichen Turm auf der Piazza del Ponte aufwarten, aber das lassen wir für heute sein.

Alles, was uns jetzt noch interessiert, ist der letzte Wegweiser des Trans Swiss Trails, dann ein paar Fotos für die Nachwelt, ein High-Five und eine Umarmung.

Es klingt irgendwie surreal, als hätte jemand anderers in einem anderen Leben diese Strecke durchwandert. Immer schön langsam, so wie man das machen sollte, im Schnitt 3 Kilometer pro Stunde, mit leichtem Gepäck und leichten Sinnen.

Und dabei immer das unvergleichliche Gefühl, die totale Freiheit zu spüren, genau an dem Ort zu sein, wo man sein will. Manchmal weit entfernt von dem, was die heutige Welt ausmacht, dann wieder mitten drin.

Wenn ich zurückdenke, scheinen die einzelnen Tage unendlich weit weg und doch ganz nah zu sein. Die ersten Etappen durch den Jura, dann lange durch das Bernbiet, das Emmental, die Innerschweiz, den Gotthard, das Tessin.

Aber eben, alles geht vorbei, so auch jetzt in diesem Augenblick auf dem Bahnhof in Mendrisio.

Ich bin glücklich und traurig zugleich.

Glücklich, es geschafft zu haben, die Strapazen hinter mir, das Wohlgefühl des normalen behüteten Lebens im Alltag vor mir. Auf der anderen Seite die ganz tief im Inneren herrschende Trauer, dass es vorbei ist, dass diese wunderbaren, ausserordentlichen, phantastischen Wochen vorbei sind und vielleicht nie mehr wiederholt werden können.

Oder doch? Wir werden sehen. Wie schon oft erwähnt – die Welt ist gross.

 

Yes, Folks, I did it again!  We did it together, at least a tiny bit!

 

Und so verabschiede ich mich und gebe meinen besonderen Lieblingen das letzte Wort:  The Beatles – Hello Goodbye

Und hier geht es vielleicht irgendeinmal weiter … wer weiss

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die längste Etappe

Es dämmert uns langsam, dass wir heute ein extrem langes Stück Arbeit vor uns haben, aber wie immer nehmen wir es gelassen (der Vorteil des Alters) und laufen einfach mal los. Alles andere wird sich ergeben (frei nach Charlie in Two and a half Man).

Obwohl, die Beschreibung der beiden Teilstücke klingt nicht mal so schlimm. Zusammengezählt 17 km? Gut 6 Stunden?. Ein Klacks könnte man meinen.

Aber wie immer kommt es anders als man denkt.

Der Weg verläuft über einen dicht bewaldeten Höhenrücken. Einmalige Sicht von der Kapelle San Bernardo ins Seebecken von Lugano. Die Stadt breitet sich immer mehr über die umliegenden Hügel aus.

Die Wanderung vom Monte San Salvatore nach Vico Morcote ist ein Klassiker für die ganze Familie. Es geht immer ein wenig abwärts, Waldpartien wechseln mit herausgeputzten Dörflein, netten Grotti und schönen Ausblicken unterwegs.

 

From Tesserete to Lugano   From Lugano to Morcore

 

Abschied von Tesserete

Die Gespräche mit dem jovialen Wirt im Hotel Tesserete sind aufschlussreich, da scheint doch ein ganzer Familienclan seine Hände auf der Hotellerie der Region zu halten. Die Gebrüder sind offenbar im ganzen Tal bekannt. Der eine hat das Hotel Tesserete übernommen, der zweite ein anderes im Tal. Aber sie machen ihre Sache gut, das Etablissement ist klasse, das Abendessen ohne Makel, das Frühstück einsame Spitze.

So sollte es immer sein, aber die Wirklichkeit sieht manchmal etwas anders aus.

Der Wanderweg beginnt gleich unterhalb unseres Hotels durch ein kurzes Waldstück und das Wohnquartier von Vaglio, bevor man über einen schönen Waldpfad in den grünen Buchenwald taucht. Wo die Kastanien geblieben sind, ist schleierhaft, vielleicht wachsen sie nur im nördlichen Tessin.

 

Short path through a shady forest  Artists at work along the path

 

Chiesa San Bernardo di Comano

Die Etappe nach Lugano bietet einen einzigen, dafür eindrücklichen Höhepunkt, die Kirche San Bernardo oberhalb von Comano, einem Vorort von Lugano. Nach einem kurzen Anstieg erreicht man den Hügel  mit der Kirche, die eine Aussicht der besonderen Klasse zu bieten hat.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Erbauer der Kirche diesen Ort ausgesucht haben. Wäre die Aussicht noch ein bisschen imposanter, der Himmel noch blauer, die Luft würziger, dann würden die Sinne ermüden. Die Temperaturen sind perfekt für einen langen Wandertag, der Himmel präsentiert sich so, als wäre er nicht von dieser Welt. Die Luft duftet schon ein bisschen nach Herbst, nach Bäumen, deren Blätter sich verfärben. Es ist alles und mehr, als man sich für einen perfekten Tag ausdenken kann.

 

La Chiesa San Bernardo above Lugano  The inevitable cross - we are in dark catholic country

Die Stadt Lugano und der Luganersee liegen zu unseren Füssen, dahinter ragt unverkennbar der San Salvatore in den Himmel. Auch den müssen wir heute noch erklimmen, allerdings gibts da eine Standseilbahn – die Versuchung wird wohl zu gross sein.

Im Nordosten schweift der Blick bis tief hinein ins Val Colla mit den Felsen Denti della Vecchia. Und so sitzen wir an der Sonne, in Anbetracht der langen Strecke natürlich viel zu lange, aber in diesem Moment vergessen wir das Mühsame, das noch vor uns liegt, und erfreuen uns einfach am Blick und am Augenblick.

 

Lugano and Lake Lugano

 

Lugano – zurück im urbanen Leben

Die Nähe der Zivilisation macht sich spätestens in Comano bemerkbar. Die Uhr am nahen Kirchturm schlägt eben zwölf, als wir das Dorf erreichen. Zuerst noch auf einer Schotterstrasse werden die letzten Minuten schliesslich auf asphaltierter Strasse unter die Füsse genommen. Der Verkehr wird dichter, der Lärm lauter, die Menschen auf der Strasse gestresster, oder meinen wir das nur?

 

Also einmal mehr zurück im urbanen Leben. Es kommt mir sehr bekannt vor.

Ich erinnere mich an Neuenburg, Bern, Stans – Städte, wo man nach einer gefühlten Abwesenheit von Zivilisation zurück in die moderne Welt gelangt. Nicht immer mit Freude, aber dann doch mit einer gewissen Erleichterung über all die wunderbaren Dinge, die das Leben in den Städten zu bieten hat.

 

Lugano Center - back to urban Life  Salumeria - big temptation

So auch hier und heute. Nur schon die Salumeria macht Lust auf  Shopping. Oder all die Restaurants, die zu allerhand kurzen Besuchen verführen wollen. Aber wir müssen standhaft bleiben, vielleicht ein anderes Mal mit mehr Zeit und weniger zeitlichem Stress.

Lugano ist die grösste Stadt im Tessin. Nebst Kongress- und Businesszentren sowie Banken ist sie auch die Stadt der Parks und Blumen, die hier dank mildem Klima deutlich früher blühen als im Norden. Der historische Stadtkern ist verkehrsfrei. Die zahlreichen Bauten im lombardischen Stil, die Bergsicht und der See laden zum Bummeln ein.

Von Comano ist es nicht mehr weit bis ins Zentrum Luganos und da ist schon der See, die Boote, die Menschen, die sich am Ufer vergnügen. Wir genehmigen uns am Seeufer ein Glacé, bevor wir uns zur Talstation der San Salvatore Bahn aufmachen. Wenn schon eine lange Etappe, dann entledigen wir uns wenigstens dieses steilen Anstiegs auf Luganos Hausberg.

 

Auf dem San Salvatore

Die Standseilbahn, seit jeher eine Touristenattraktion erster Ordnung, bringt uns in Windeseile (auf jeden Fall schneller als zu Fuss) auf den Luganer Hausberg.

Vom Gipfel bietet sich eine herrliche Sicht auf den Luganersee, die Ebene der Lombardei sowie die Schweizer Alpen. Schon um 1213 befand sich hier oben eine kleine Kapelle, die dem Heiligen Salvatore gewidmet war. Bald darauf erweiterten die Domherren von S. Lorenzo die Kapelle zu einer kleinen Kirche. 1703 beschloss die Erzbruderschaft deren Abriss und die Errichtung eines neuen Gebäudes, das 1718 fertiggestellt wurde.

Die nächsten Ziele in Ciano und Carona sind bereits zu sehen.

Das ist zwar schön, dass man die beiden Dörfer schon sieht, allerdings scheinen sie verflucht weit weg zu sein. Soll uns nicht gross stören, also genehmigen wir uns einen Kaffee (obwohl nicht verdient) und geniessen die Aussicht.

 

View from San Salvatore  View from San Salvatore down to Lugano

 

Tessiner Dörfer – besondere Schönheiten

Der Abstieg nach Ciano dauert nicht lange. Aber was für ein prächtiges Kaff.

So stellt man sich in seinen Träumen ein Tessinerdorf vor (obwohl die Träume selten der Wirklichkeit entsprechen). Gelb gemalte, von Wind und Regen ausgewaschene Häuserfluchten steigen hoch und dem Himmel entgegen. Reben ranken sich bis auf die Dächer hinauf, die Hortensien im schattigen Hof sind längst verblüht. Die Fenster sind geschlossen oder einladend offen, unter dem flachen Dach so etwas wie eine Terrasse. Man stellt sich vor, dort oben ein Glas Wein zu trinken, vielleicht nach der Arbeit oder vor dem Schlafengehen, wenn sich die Hitze des Tages verzogen hat.

Gepflasterte Gassen führen durch dunkle Durchgänge, irgendwohin. Man glaubt Küchendüfte zu riechen, vielleicht brutzelt ein Tessiner Risotto oder eine Polenta auf dem Herd.

 

Ciano - the way you imagine a typical village in the Ticino  Ciano - just like old times

Wir erreichen Carona nach einer weiteren Stunde. Inzwischen ist es halb fünf geworden, und der Weg bis Morcote ist immer noch verflucht weit.

Es bedeutet natürlich, dass wir für den botanischen Garten von San Grato keine Zeit haben, obwohl hier auf 62’000 Quadratmetern Azaleen, Rhododendren und Koniferen gedeihen. Man sollte im April und Mai  hier sein, dann bilden die blühenden Büsche einen farbenreichen, duftenden Teppich.

Aber eben (kommt mir vor wie ein ewig wiederkehrendes Dilemma, das mich den ganzen Trail begleitet hat) – keine Zeit.

 

Abwärts

Wir wagen den Blick auf die Uhr längst nicht mehr, aber die untergehende Sonne am gegenüberliegenden Berg zeigt gnadenlos auf, dass es spät geworden ist (und ja, die Uhr zeigt tatsächlich halb sieben an). Immerhin erhaschen wir den ersten Blick auf den See. Das Ziel Morcote dürfte also nicht mehr weit sein.

Nicht mehr weit könnte stimmen. Allerdings sind wir noch ein paar hundert Meter zu weit oben. Der Travelguide meint dazu in seiner gewohnt lakonischen Art:

Ab der Alpe Vicania geht es praktisch nur noch talwärts. Über zig Treppenstufen steigt man rund 400 Höhenmeter hinab. Dies ist definitiv der anstrengendste Teil der Etappe. Ziel ist das ehemalige Fischerdorf Morcote, auch «Perle des Ceresio» genannt. Es liegt reizvoll auf der Landzunge des Ceresio am Lago di Lugano. Das Ufer säumen pittoreske Laubenhäuser, die sich im Wasser spiegeln.

 

Sunset over the Lake Lugano
Die untergehende Sonne zeigt an, dass wir spät dran sind

Wer meine Wanderblogs kennt, weiss meine Abneigung gegen Treppenstufen, sei es aufwärts oder abwärts. Das hat mit meinen lädierten Knien zu tun, aber nicht nur. Es handelt sich schlicht und einfach um eine Zumutung für jeden Wanderer. Jeder Schritt belastet die weiss Gott unglaublich widerstandsfähigen Kniegelenke auf eine Art und Weise, dass man nur staunen kann, dass sie soviele Jahre ohne zu klagen durchhalten.

Aber eben, irgendwann ist genug. Ihre Rückmeldungen sind dann krass – und äusserst schmerzhaft. Deswegen brauche ich unendlich lange für die 400 Meter Höhenunterschied (auf jeden Fall über tausend Stufen, damn it!).

 

400 Meters just downwards on steep stairs  At least a first glimpse on today's destination

Iregndjemand hat einmal gesagt, dass eine eigenartige Befriedigung erreicht werden kann, wenn man sich körperlichen Strapazen aussetzt.

Das kann ich nur bestätigen. Die beiden Fernwanderwegen durch die Schweiz haben gezeigt, dass die Befriedigung nicht nur eigenartig sondern ausserordentlich beglückend sein kann. Der heutige Tag wird es beweisen, nur eben nicht in diesem Augenblick, wo man nach bald zehn Stunden krasse 400 Meter Treppenlaufen übt.

 

Stairs stairs stairs - it doesn't stop  Getting neat - at last

 

Stairway to Heaven

Immerhin, etwas ausser Atem trotz Abwärtsgehen, glaubt man das Ziel Morcote erreicht zu haben. Aber Surprise surprise – das ist erst der Kirchturm einer ziemlich oberhalb des Dorfes liegenden Kirche. Also weitere Treppen, (nur schon die monumentale Kirchentreppe zählt 404 Stufen!), aber der See kommt näher, noch eine Kirche (es gibt unzählige davon), und dann sind wir da.

Es ist tatsächlich ein Dorf der besonderen Art. Man kann gar nicht alles aufzählen, was es zu bewundern gibt.

Neben unzähligen Kirchen, Kapellen, Palästen, Burgruinen, besonderen Häusern und weiss der Herrgott noch alles, bestaunt der durchschnittliche Tourist (von denen es viele gibt) den berühmten Friedhof, die Arkaden an der Uferstrasse, den Park oder ganz einfach den in allen Nuancen von Blau schimmernden See.

 

Churchtower above Morcote  And there it is - Morcote

Das interessiert uns im Moment nur bedingt. Die Uhr macht uns auf knapp zehn Stunden Wanderzeit aufmerksam, was nicht nur auf der Uhr sondern an sämtlichen schmerzenden oder sonstwie aus dem Tritt geratenen Körperteilen abgelesen werden kann.Doch wie immer – nach einer intensiven Dusche und einem (oder mehreren) Bieren sieht die Welt schon viel besser aus.

Und der Abend ist mild, so wie er in diesen südlichen Sphären erwartet werden darf, wir sitzen unter den Arkaden bei einem opulenten Abendessen und lassen den längsten Tag dieser Wanderung gedanklich an uns vorüberziehen.

Morgen der letzte Tag. Kann es sein, dass erst vier Wochen vergangen sind seit dem Start in Pruntrut? Es kommt mir vor wie ein halbes Jahr. All das kommt nun ins Inventar grossartiger, einmaliger Erlebnisse.

In diesem Zusammenhang zitiere ich gern wieder mal meinen Lieblings-Philosophen Fernando Pessoa, der meinte:

Das Leben ist die Suche nach dem Unmöglichen durch das Nutzlose hindurch.

In diesem Sinne – goodbye für heute.

 

Passender Song:  Led Zeppelin – Stairway To Heaven (the best Song ever?)

Und morgen geht der Trail zu Ende … in Mendrisio

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Schweiss und Keuchen und Fluchen

Manchmal möchte man gerne ins Gehirn eines Fremden eindringen, um zu sehen, wie er tickt und was ihn oder sie antreibt.

Ich spreche jetzt nicht über Putins Gehirn, desses psychopathische Dunkelheit würde vermutlich erschrecken, nein, ich verweise auf die Planer des Trans Swiss Trails. Warum haben sie gegen den Schluss die mit Abstand längste und anstrengenste Etappe festgelegt? Eine Art practical Joke, den niemand versteht?

Anyway, es sind über acht Stunden nach dem Plan, was für uns wohl eher zehn oder elf Stunden bedeuten würde. Aber wir sind ja in der Zwischenzeit in Top-Verfassung, es könnte also klappen. Und wenn nicht, nehmen wir Plan B aus der Schublade.

Sogar der Travelguide schwafelt was von steilem Aufstieg, die Länge der Etappe verschweigt er allerdings tunlichst.

Steiler Aufstieg ins Val d’Isone mit Blick auf den Piano di Magadino. Vom See bei Gola di Lago blieb nur ein Sumpf übrig. Weiter durch ein Meer von Farn im lichten Birkenwald Richtung Bigorio. Das Franziskanerkloster Santa Maria: ein Adlerhorst über Tesserete.

 

 

Ein letzter Blick zurück

Ausgerechnet an diesem anstrengenden Tag scheint uns das Wetter seine Gunst zu versagen. Der Himmel schaut grau aus, irgendwie beleidigt (so kommt er uns vor), mit wenig einladenden Schlieren am Firmament, passt aber perfekt zu den düsteren Türmen der Burg.

Mit Ausnahme einiger Umsteigeaktionen am Bahnhof habe ich die Stadt bisher erfolgreich gemieden, was die Prioritätensetzung bezüglich Reiseziele erheblich in Frage stellt. Auch mit grauem Gewölbe macht die Stadt einen sehr einladenen Anblick, es gäbe offenbar viel zu sehen und zu entdecken, meint der Travelguide.

En Abstecher zu den historischen Burgen würde sich lohnen, heisst es dort. Schliesslich handle es sich hier um ein veritables UNESCO Weltkulturerbe, und seine Wehranlagen gehörten zu den bedeutendsten Zeugen der mittelalterlichen Befestigungsbaukunst im Alpenraum.

Upps, alles nicht gewusst, dabei war Bellinzona bereits zu Zeiten der Römer, die hier erstmals im 1. Jh. ein Kastell errichteten, wegen seiner Lage strategisch wichtig, allerdings immer wieder Zankapfel zwischen den Mailänder Herzögen und den Eidgenossen, wobei sich letztere die Stadt 1516 einverleiben konnten.

Also, mit etwas schlechtem Gewissen doch noch etwas dazugelernt.

 

Bellinzona - old buildings and towers beneath a grey sky  Bellinzona - castles and towers

 

Ein endloser Aufstieg

Es dauert eine ganze Weile, bis man Bellinzona durchquert hat, immer den steilen Hügel vor Augen, der uns die nächsten Stunden versauen will. Nach dem Start beim Hotel geht’s erstmal Richtung Ticino, wo uns dann Schotterwege und teils asphaltierte Strassen dem Flusslauf entlang nach Giubiasco bringen.

Schliesslich aber stehen wir vor der Tafel „Cima di Dentro“ 2 Std. 35 Minuten. Sieht auf den ersten Blick gar nicht so schlimm aus.

Bei einem grossen Spielplatz verlässt man also die Zivilisation und steigt steil Richtung Cima di Dentro auf. Steil? Sowas liest man nicht gerne, also skeptisch, aber  frohgemut wie immer, machen wir uns an den Aufstieg.

Und der hat es tatsächlich in sich. Denn es geht nun bis zu dieser Cima ausschliesslich aufwärts, am Anfang teuflisch steil, bis man an ein paar Rustici vorbei den höchsten Punkt etwas über 1000 m.ü.M. erreicht.

Bis dahin sind unsere Gespräche längst verstummt, Keuchen und Schwitzen und fluchen, zumindest, was mich betrifft, denn meine beiden Kumpels sind längst entflohen. Weiter oben, viel weiter oben, sehe ich die beiden Gestalten, auch nicht mehr so schnell wie üblich.

 

Steep ascent to the Cima di dentro  It doesn't stop - upwards upwards

Der Travelguide macht darauf aufmerksam, dass man auf dem Cima di Dentro Zeuge von Militärübungen werden könnte. Granaten- und Sturmgewehrlärm seien hier üblich. Das Dorf Isone, hinter Cima die Dentro gelegen, ist bekannt für die Ausbildung der Grenadiere.

Grenadiere – ausgerechnet!

Wenn ich auf etwas verzichten kann, dann auf alles, was auch nur im Entferntesten mit der Armee zu tun hat (zugegeben: der Krieg in der Ukraine hat verschiedene felsenfeste Überzeugungen zum Einsturz gebracht; aber lassen wir das für heute).

Immerhin geht es nun abwärts, Schweiss und Keuchen haben für heute ein Ende (ich befürchte allerdings, dass die morgige Etappe noch mehr davon bringen wird, denn ich habe zwei Etappen zusammengelegt; tja, die Hybris, auf gut deutsch die Selbstüberschätzung, unsere alte Freundin, schon wieder schlägt sie zu, aber das ist ja nichts Neues unter der Sonne).

 

Steep and dirty and exhausting ascent  Sometimes trees, sometimes jsut burt meadows

It gets better - at least it seems so  Panting and sweating buddy

 

Plan B – für die Alten und die Müden

Eigentlich war Plan B von Anfang an Plan A.

Nichts und niemand wird uns dazu bringen, über zehn Stunden zu wandern, wenn es eine geniale Alternative gibt. Sie nennt sich Bus und Zug, verhilft müden Wanderern zu bequemen Sitzplätzen und einer exzellenten Aussicht auf das, was wir zu Fuss hätten machen müssen.

Und so warten wir in Isone – ohne den Lärm von Granaten und Sturmgewehren – auf den Bus, steigen zweimal um und erreichen unser Tagesziel Tesserete beinahe ausgeruht. Und schon fragen wir uns, was uns dazu gebracht hat, auf das letzte Teilstück zu verzichten. Natürlich ist das komplett geflunkert, aber hätte doch sein können.

 

Our Hotel in Tesserete  Our Hotel in Tesserete

Der Vollständigkeit halber hier doch noch was der Travelguide über das von uns schmählich links liegengelassene Teilstück zu sagen hat:

Über herrliche Pfade, durch verzauberte Birkenwälder und mit Sicht auf die umliegenden Gipfel wird Condra erreicht. Es folgen der Abstieg und die letzte Wanderstunde.

Rund 200 Höhenmeter führen über gepflasterte Wege und entlang der im Tessin typischen Mauern. Den verwinkelten Dorfkern von Bigorio durchquert, folgt das letzte Stück nach Tesserete, wiederum zusammen mit der Via Gottardo. Etwas weiter unter der Pfarrkirche San Stefano, Hauptsehenswürdigkeit von Tesserete, endet nach etwa acht Stunden die abwechslungsreiche, konditionell anspruchsvolle Wanderung.

Na ja, vielleicht  ein anderes Mal – oder dann spätestens im nächsten Leben …

 

Passender Song:  James Brown – Cold Sweat

Und hier geht der Trail weiter … nach Morcote, langsam dem Ende zu

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Geradeaus dem Ticino entlang

Nun, nach der gestrigen anstrengenden Etappe dürfen wir uns auf eine lange, aber zumindest ebene Strecke entlang dem Ticino freuen.

Und unser kleines Grüppchen hat temporären Zuwachs erhalten. Silvia, meine Ex-Gemahlin, möchte herausfinden, wie es um ihre Fitness steht und begleitet uns bis Bellinzona.

In Biasca, wo die Etappe startet, vereinen sich das Bleniotal vom Lukmanier und die Leventina vom Gotthard her. Etwas oberhalb des Bahnhofs befinden sich die Wasserfälle der Heiligen Petronilla. Schäumend stürzen sie über die Felswände. Nach einigen Minuten durch Biasca erreicht man den Ticino.

Bei Biasca öffnet sich das Tal zu einer breiten, langgestreckten Ebene: der Riviera. Hier lässt sich prächtig an den Ufern des Ticino wandern, meistens durch Auenwald, oft auch auf einem Flussdamm. Am Ende wartet Bellinzona mit seinen drei Burgen.

Unsere Daten: Länge 25 km; Aufstieg | Abstieg 680 m | 710 m; Wanderzeit 7 h 30 min

 

From Biasca to Bellinzona
Von Biasca nach Bellinzona

 

Entlang der Riviera

Seltsamerweise trägt die langgestreckte Ebene, die sich bis kurz vor Bellinzona hinzieht, den vielversprechenden Namen Riviera. Auf jeden Fall bietet die heutige Etappe 25 Kilometer reinstes Wandervergnügen dem Ticino entlang.

Der Weg führt mehrheitlich durch schattigen, duftenden Auenwald. Wie nehmen es gemütlich, die letzten Tage haben trotz phantastischer Etappen ihre Spuren hinterlassen. Aber das Wandern an diesem sonnigen Tag bringt soviel Abwechslung, dass die müden Beine schon bald vergessen sind. So könnte man sich das vorstellen, flach, abwechslungsreich, schattig. Aber das würde vermutlich schon bald wieder in eine gewisse Langweile kippen.

Wie auch immer, der Weg ist weit und alles andere als langweilig.

 

The path along the Ticino

Manchmal, vielleicht auch nur eingebildet, hat man den Eindruck, dass die Lichtfülle der Sommerstunden abgenommen hat.

Es ist zwar immer noch warm, gelegentlich ziemlich heiss, aber der Herbst kündigt sich auf leisen Sohlen an. Auch dieser gefühlt ewig dauernde Sommer wird enden, vielleicht sind wir froh um das, was hinter der Tür wartet. Im günstigsten Fall werden wir uns wieder an Dunkelheit, an Kälte  und frostige Winde gewöhnen, vielleicht sogar erfreuen.

Allerdings sind diese Vorstellungen an diesem warmen Spätsommertag weit weg.

Und so wandern wir schwatzend, lachend, kaum einmal ausser Atem kommend, dem Ufer entlang, gelegentlich auch auf Dämmen entlang des Flusses. Sie erinnern daran, dass hier immer latente Überschwemmungsgefahr herrscht.

 

The Ticino, sometimes smooth, then again a wild monster  through riverside forests along the Ticino

That's the way it ought to be - shady trees, pleasant paths  The Ticino - water and rocks and trees

 

Versteckte Schönheiten

Nach knapp zwei Stunden überqueren wir den Fluss bei Lodrino, von nun an führt die Wanderung auf der anderen Uferseite weiter.

Das gibt uns Gelegenheit, bei Castione-Arbedo einen ausgedehnten Break mit Fototermin einzulegen, während hinter uns die Moësa gurgelt und rauscht, bevor sie kurz danach vom Ticino verschluckt wird.

Der Travelguide ist wieder einmal unzufrieden mit unserem achtlosen Vor-sich-her-wandern, denn eigentlich würde man in den Dörfern entlang des Weges zahlreiche versteckte Schönheiten finden. Aber eben, sie sind versteckt und somit unbekannt, und so erfahren wir wieder einmal erst im Nachhinein, was wir alles verpassen.

Beispiele gefällig: etwa in Osogno die Kapelle Santa Maria del Castello oder in Claro das Bergkloster Santa Maria Assunta.

Allerdings muss ich zu unserer Verteidigung hinweisen, dass wir seit Airolo soviele Kapellen und Kirchen gesehen haben, dass wir uns mindestens ein Freiticket in den Himmel erworben haben.

 

Santa Maria del Castello in Osogno  Santa Maria Assunta in Claro

Die Klöster Santa Maria del Castello in Osogno und Santa Maria Assunta in Claro

Eine zukünftige Energieversorgung

Im Unterschied zu den versteckten Schönheiten, die wenig Interesse finden (leider), sticht uns ein seltsames Gebäude in der Nähe des Wegs, ein Art Kran mit sechs Armen, ins Auge. Dass es sich dabei um ein futuristisches Projekt, initiiert von einem Amerikaner, handelt, ist ziemlich einmalig in seiner utopischen Richtung.

Es handelt sich hierbei um ein Hubkraftwerk. Die Idee scheint trivial und genial zugleich: Bei geringem Strombedarf werden Betonblöcke mittels erneuerbarer Energie hochgezogen und bei hohem Strombedarf zur zusätzlichen Energiegewinnung wieder abgesenkt, ähnlich dem System von Wasserkraft mit Staudamm und Pumpwerk.

Mal sehen, ob sich daraus etwas ergibt und ob die Idee schlussendlich nicht eine Idee bleiben wird.

 

a lifting power plant

 

Die letzte Stunde

Bellinzona kommt näher, wir haben, ohne es gross zu merken, tatsächlich 25 Kilometer abgespult. Und einmal mehr gäbe es viel zu sehen und zu entdecken, Beispiele trutziger Wehrbereitschaft, Zeugen vergangener Auseinandersetzungen, wahrscheinlich genauso unnötig wie die heutigen.

Der Travelguide ist auf jeden Fall begeistert:

Ein kleiner Abstecher zu den Schlössern Castelgrande, Montebello und Sasso Corbaro lohnt sich. Sie gehören zu den eindrucksvollsten Exemplaren mittelalterlicher Wehrbauten des gesamten Alpenbogens. Mit ihren zinnenbewehrten Mauern, Türmen und Toren wurden die prächtigen Monumente im Jahr 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Zweck der Festungen war es, den nördlichen Völkern den Zugang zum Tessiner Tal zu versperren und die Wegezölle sowie die Strasse in Richtung Gotthard zu kontrollieren.

 

Santa Maria Assunta in Claro  The castle MOntebello above Bellinzona

                                                                                           Die Burgen Castelgrande und Montebello oberhalb Bellinzona

Bellinzona am südlichen Zugang zu den Alpenpässen Gotthard, San Bernardino und Lukmanier ist die wohl italienischste Stadt der Schweiz.

Die mächtige Festungsanlage der drei mittelalterlichen Burgen bilden sozusagen die Skyline der Tessiner Hauptstadt.

Man spricht von lombardischem Charakter der Stadt, hier scheint der Einfluss der norditalienischen Provinz am grössten gewesen zu sein. Nicht verwunderlich, dass Bellinzona ein von der UNESCO anerkanntes Weltkulturerbe darstellt.

Auf jeden Fall werden wir am Abend zumindest die kulinarischen Vorzüge der Stadt gebührend feiern. Was einmal mehr beweist, dass Kunst und alles andere in erster Linie durch den Magen geht.

 

Passender Song:  The New Colony Six – At the River’s Edge

Und hier geht der Trail weiter … nach Tesserete

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Tausend Stufen

Nie ist man mehr Herr über die eigene Zeit als beim Wandern.

Niemand und nichts zwingt dich zu etwas (ausser vielleicht die zu erwartende Distanz oder das bereits gebuchte Hotelzimmer). Kann es sein, dass man sich deswegen so befreit fühlt? Dass eine Art Abhängigkeit von diesem Zustand entsteht? Dass man etwas immer wieder tun will?

Wie immer bei diesen philosophischen Morgengedanken weiss ich keine Antwort (ein Muster, das sich im Verlauf des Älterwerdens verfestigt) oder bestenfalls eine halbe. Ich weiss nur, dass ich es sehr bedaure, nicht schon viel früher auf die Segnungen von Fernwanderungen gestossen zu sein.

Anyway, ob mit oder ohne Sucht geht es weiter, leider bereits dem Ende der Strada Alta entgegen. Aber anschliessend führt der Weg ja noch einige Tage weiter, bis ganz in den Süden, beinahe bis Italien.

Heute sind aber Stufen angesagt, viele viele Stufen hinunter ins Tal, etwas, was ganz und gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Immerhin spricht der Travelguide von romantischen Abschnitten, wir lassen uns überraschen:

Der romantischste, jedoch steilste Abschnitt der Strada alta. Über gewaltige Felskanzeln und durch einsame Kastanienwälder führt der alte Saumweg zur einzigartigen Freilufttreppe oberhalb Pollegio. Endspurt nach Biasca, in der Talsohle der Leventina.

Unsere Daten: Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 1095 m | 1690 m; Wanderzeit 8 h 27 min (vielleicht sollte ich mal meine Pulsuhr überprüfen lassen)

 

From Anzonico to Biasca
Von Anzonico nach Biasca

 

Schon beinahe kitschig

Die Strada scheint sich über uns lustig machen zu wollen, denn der Himmel ist im tiefsten Blau aller Zeiten gemalt. Als wollte sie uns mitteilen, dass man sie nicht einfach ohne Grund verlassen darf. Aber wir haben keine Wahl, blau hin oder her.

Während das Tal noch im Schatten liegt, ragen die Bergspitzen in das makellose Azur hinein, keine Wolke, nicht mal die kleinste, ist zu sehen, einfach nur ein Bild für Künstler. Schon beinahe kitschig müsste man sagen, aber wir lieben natürlich solchen Kitsch.

 

The bluest sky ever

 

Bilderbuchweg

Es ist nicht nur der blaue Himmel, der einen ausserordentlichen Tag verspricht, ich weiss es aus eigenen Erinnerungen (die letzte Treppe ins Tal hinunter ist eher unter weniger guten Erlebnissen abgebucht). Aber soweit sind wir noch nicht, wir nehmen den Weg unter die Füsse, nicht allzu schnell, Schönheit muss genossen werden.

Wir durchqueren also getunnelte Wege, überdeckt wie eine Pergola, geniessen das Gefühl, wieder einmal am richtigen Ort zu sein. Manchmal ein Stall am Weg, beflaggt und vielleicht längstens kein Stall mehr sondern eine umgebaute Ferienwohnung.

 

A tunnel of bushes  Sometimes a barn on the way, of couse with Swiss flag

Wie gesagt, schöner kann es nicht werden. Die Wege führen grösstenteils den grünen und gelben Hängen entlang, links Berge, rechts Berge, dazwischen wir auf himmlischen Wegen. Man erkennt aber die Hand des Menschen, gepflegte Wiesen, geordnete Steinmauern dem Weg entlang, hin und wieder ein Haus, ein Stall, eine Hütte.

Die Natur hat längst weichen müssen, sie ist zu dem degradiert worden, was ihr der Mensch zugesteht. Man würde sich öfter Wildnis wünschen, echte Wildnis, wo nur die Natur selbst bestimmt, was sein darf und was nicht.

Ich erinnere mich an Bilder aus anderen Ländern, wo der Mensch noch nicht eingegriffen hat. In Laos oder Burma oder Kambodscha. Aber auch dort nur eine Frage der Zeit, bis auf Teufel komm raus gerodet wird, um für die wachsende Bevölkerung Platz zu schaffen.

 

A path along beauty (without the beast) Just green and blue and nothing else

Sant'Ambrogio in SegnoEs dauert nicht lange, bis man eines der ältesten Kleinode des Tessins erreicht: die aus dem 13. Jahrhundert stammmende spätromanische Kleinkirche Sant’Ambrogio in Segno. Sie hat eine halbkreisförmige Apsis und Innen- und Aussenfresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert.

Natürlich verpassen wir das Kleinod, mit Bedauern im Nachhinein.

Wie gesagt, Kunstgenuss ist auch eine Frage des Wollens. Dabei vereinen sich Natur und Mensch gelegentlich zu einer perfekten Symbiose.

Und noch ein Dorf mit Kirche

Nach knapp einer Stunde folgt Cavagnano. Nach dem kleinen Ort geht der Weg in einen schönen Pfad über. Wer ruhig ist, hört vielleicht Rehe im Laub rascheln. Gut getarnt bekommt man sie aber nur selten zu Gesicht.

Es folgt nun ein Dorf nach dem anderen, meistens dominiert von einer Kirche, dem alles andere überragenden Zentrum des katholischen Glaubens. Das Dorf weist zahlreiche Holzhäuser auf, hier scheint der alte Baustil noch präsent zu sein.

Der Travelguide erwähnt, dass in der Gegend von Cavagnano die Felder nur noch in Dorfnähe gepflegt werden. Dort, wo also der Weg zu den Feldern zu mühsam geworden ist, überwuchert der Jungwald bereits wieder das zuvor mühsam der Wildnis abgetrotzte Kulturland.

Eine klassische Rückeroberung.

 

Cavagnano - a typical village along the Strada alta

The old and the new mix perfectly  Steep steps to the upper houses

 

Durch Heidegras, Ginster und Farn

So setzen wir uns halt hin, eingelullt im Duft der Bäume und Sträucher. Es gibt keine Eile, einfach nur dasitzen, den Blick streifen lassen, etwas essen und trinken, keine Worte, nur Stille und vielleicht ein Vogel im Gebüsch.

 

Sometimes a resting break, surrounded by nothing except beauty  From light to darkness

Der Weg wird ruppiger, die mit schweren Steinplatten belegten Stufen sind die schlimmsten. Über unseren Köpfen thronen gewaltige, baumbewachsene Felstürme. Immer mächtiger werden die Kastanien. Unter ihren ausladenden Ästen führt der Pfad mal steil aufwärts, dann wieder mühsam hinunter, man weiss nicht wohin.

 

The steps get steeper  A kind of blackboard for hikers

 

Alte Bäume und Hobbit-Geister

Die alten Kastanienwälder sind nun die vorherrschende Baumart. Man scheint durch einen Märchenwald zu gehen, die Erinnerung an den Düsterwald aus der Hobbit-Saga meldet sich. Wo aber sind die dreizehn Zwerge, wo Thorin Eichenschild, wo Bilbo, der angeworbene Dieb?

Niemand zu sehen, aber vielleicht verstecken sie sich, wollen das bleiben, was sie sind – Geister, zum Leben erweckt durch den unsterblichen J. R. R. Tolkien. Doch sie sind spürbar, sie gehören längst zu unserer Welt. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.

 

Chestnut trees - monuments of nature  An old giant - old and wise

 

Die Saga von der Suche nach dem Herrn der Ringe Epos

Das erinnert mich an eine phantastische Geschichte (während des Wanderns hat man viel Zeit, sich zu erinnern).

Seit Mitte der 70-Jahre steht das Epos The Lord of the Rings ganz oben auf meinem persönlichen Literaturkanon. Die dazugehörige Geschichte meiner Suche nach den drei Bänden könnte aus einem kitschigen Roman stammen.

Der erste Band „The Fellowship of the Rings“ – ein zufälliger Fund in einem Hotel in Kathmandu, hinterlassen vermutlich von einem anderen Hippie. Die hektische Suche nach den beiden Folgebänden in Kathmandu – ergebnislos.

Und so beginnt meine eigene phantastische Saga der Suche nach dem Herrn der Ringe.

Die erste grosse Stadt auf dem Rückweg – New Delhi. Die Inder sind seit jeher grosse Leser, also müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn die beiden Bücher nicht aufgetrieben werden könnten. Doch die erwartungsvolle Frage in Buchhandlungen und Bibliotheken wird immer gleich beantwortet: „Sorry, Sir, no Hobbits!“

Doch manchmal winkt das Glück an seltsamen Orten. Denn in der Riesenstadt – schon damals mit vielen Millionen Einwohnern – sind die fliegenden Händler an den Strassen allgegenwärtig. Und tatsächlich, zuoberst auf einem Stapel ziemlich abgefuckter Buch-Antiquitäten sehen mir „The Two Towers“ in die Augen. Selten habe ich ein Buch in so jämmerlichem Zustand derart innig an die Brust gedrückt.

Dass die Suche nach dem dritten Band eine Fehlanzeige ist, scheint zum Spiel zu gehören, das in der Zwischenzeit zum täglichen Spass gehört.

Dann halt vielleicht mehr Glück in der nächsten grösseren Stadt – Kabul. Am Anfang, nicht ganz überraschend (man stelle sich das heute im Taliban-Afghanistan vor) kein Erfolg. Doch soll „The Return of the King“ ein Traum bleiben, der sich erst zuhause verwirklichen wird? Kurz vor der Abreise hat der Himmel ein Einsehen und macht mir ein ganz und gar unerwartetes Geschenk: „The Return of the King“. Natürlich in genauso bedauernswertem Zustand wie Band zwei, aber egal. Ich hätte den Verkäufer am liebsten umarmt.

Also zusammengefasst: Band 1 – in Kathmandu, Band 2 in New Delhi und Band 3 in Kabul erstanden. Immer noch die heiligsten Bücher in meiner Bibliothek.

Da behaupte noch jemand, das Schicksal oder der Zufall spiele keine Streiche.

 

Aber dann der endlose Abstieg

Wie erwartet folgt nach vielen Stunden der Abstieg ins Tal hinunter. Es bedeutet das Ende der Strada Alta, der wehmütige Abschied von einem liebgewonnenen Freund. Wir schauen noch einmal zurück, auf die im nachmittäglichen Sonnenlicht badenden Wiesen und Wälder. Wir werden sie vermissen, aber morgen folgt eine ganz andere Etappe. Sehr lang und sehr eben.

Nach knapp zwei Stunden wird mit Sobrio das nächste Bergdorf erreicht. Kurz darauf folgt die Schlucht Vallone, dann der lange Abstieg nach Pollegio. Über steinige Pfade und gewaltige Felskanzeln wird sanft und dann immer steiler abgestiegen. Durch einsame Kastanienwälder und über eine einzigartige Freilufttreppe kommt der alte Saumweg viereinhalb Stunden später in Pollegio an.

 

Downwards beneath a high wall  Endless steps down to the valley

Biasca heisst uns zwar willkommen (so hoffen wir), der Weg durch die Stadt ist alles andere als verheissungsvoll. Wir rümpfen innerlich die Nase ob soviel Zivilisation, aber so sei es dann halt. Dabei gibt es über das Dorf allerhand zu erfahren, wie immer wissen wir wenig davon:

Leicht oberhalb des Dorfzentrums thront majestätisch die Kirche der Heiligen Peter und Paul und gibt den Blick frei auf die Eingänge der drei sogenannten ambrosianischen Täler Blenio, Leventina und Riviera. Im 11. Jahrhundert erbaut, zählt sie zu den schönsten romanischen Baudenkmälern der Schweiz. Auch Biasca wurde 1513 nicht verschont von Naturkatastrophen. Im Mittelalter war der Ort Schauplatz einer der verheerendsten Bergstürze in der Geschichte der Schweiz: Als der Monte Crenone ins Tal donnerte, zerstörte er viele Häuser, tötete 600 Menschen und schuf eine Talsperre. Diese barst 1515 unter dem Druck des aufgestauten Sees und richtete schwerste Schäden bis in die Magadinoebene an.

Das Hotel Della Posta ist ganz okay, unsere Ansprüche sind ja nicht gross. Beim Nachtessen zeigt sich schnell, dass der Küchenchef nicht gerade Gault-Millau-mässig unterwegs ist. Lustigerweise muss  man die Betten selbst beziehen, eine doch eher sonderbare Überraschung.

Aber egal, wir sind angekommen, wieder einmal.

 

Passender Song: Lynyrd Skynyrd – Gimme three Steps

Und morgen geht der Trail weiter … dem Ticino entlang nach Bellinzona

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Zwischen Bergen und Wäldern

Man sitzt gemeinsam an einem langen Tisch, man schwatzt mit Mutter und Tochter, die ebenfalls auf der Strada unterwegs sind, geniesst das üppige Frühstück, das alles enthält, was das Herz begehrt. So muss ein Wandertag beginnen, alles andere wäre eine Versündigung an diesem prachtvollen Tag, der sich auf den Berggipfeln ankündigt.

Das alte Haus, in dem sich das Gasthaus befindet, spricht mit uns. Manchmal mit einem Knarren in den alten Balken, manchmal ein leises Ächzen, wir kennen das. Alte Häuser mit viel Holz verbaut, da meldet sich schon mal die Vergangenheit.

Der Blick auf die aktuelle Karte zeigt, dass es heute einen ziemlichen Umweg zu bewältigen gibt. Forstarbeiten, die von August 2022 bis Mai 2023 dauern (!?), haben die Sperrung des Wanderwegs verursacht. Okay, wir nehmen es entspannt zur Kenntnis.

Der mittlere Teil der Strada alta gilt als der angenehmste und reizvollste: kaum Höhenunterschiede, grösstenteils auf Naturbelag, und die Gipfel der rechtsseitigen Leventina als ständige Begleiter. Für Besinnung und Kunstgenuss sorgen Kapellen und Kirchen.

Unsere eigenen Daten, nicht ganz überraschend durch den Umweg, unterscheiden sich: Länge 14.2 km; Aufstieg | Abstieg 1175 m | 1370 m; Wanderzeit 8 h 03 min

 

From Osco to Anzonico
Von Osco nach Anzonico

 

Langer Umweg

Mal sehen, ob Kapellen und Kirchen auf dem Pfad für Besinnung und Kunstgenuss sorgen. Ich bin da etwas skeptisch, aber lassen wir uns überraschen. Die Wege Gottes sind bekanntlich unergründlich (wie an anderer Stelle schon festgestellt wurde).

Zum Start (und zur Besinnung) wenden wir uns zuerst dem Friedhof zu, ein Einblick in die Geschichte eines Dorfes. Man erkennt die Namen, vielfach identisch, grosse Familien. Man liest die Jahreszahlen, die frommen Sprüche für die Verstorbenen, Grüsse ins Jenseits.

Das Dorf, obwohl sehr still und sehr verlassen, wird uns in Erinnerung bleiben, aber wir müssen weiter. Der Weg nach Anzonico ist nicht zu unterschätzen, vor allem der Umweg könnte schwierig sein.

Anyway, so stechen wir zwangsläufig und anfänglich ohne viel Euphorie ins Tal hinunter, im Wissen, dass es kurz darauf wieder aufwärts geht, zurück zur ursprünglichen Route. Der Abstieg ist steil, doch es kümmert uns nicht, denn der Tag ist von soviel guten Omen (Besinnung! Kunstgenuss!) erfüllt, dass uns nichts erschüttern kann.

 

A long detour downwards Downwards ... and up again

Der Pfad würde eigentlich durch die wildromatische Sciresaschlucht führen, was uns allerdings entgeht, aber wir werden auch so durch allerhand ähnliche topographische Herausforderungen konfrontiert.

Immer wieder gilt es, Gräben und Schluchten zu durchqueren, Holzbrücken hängen über beinahe ausgetrockneten Bachbetten. Die Flora ändert sich nun, Tannen und Föhren mischen sich nun zunehmend mit Kastanien. Mit der Aussicht auf baldigen Maronigenuss im Herbst läuft schon beim Gedanken das Wasser im Mund zusammen.

 

Wir haben nun tatsächlich das Ende der mehrheitlich alpinen Bewaldung erreicht. Von nun an fühlen wir uns als mediterrane Wesen, das kalte nördliche Blut wird wärmer. Im Guide entnehme ich, dass die Bewohner von Osco bis Mitte des letzten Jahrhunderts ihr Mehl in der Mühle von Calpiogna holten. Immerhin ein Weg von mehreren Stunden hin und zurück.

Irgendwann erreichen wir, etwas keuchend zwar, wieder den ursprünglichen Pfad und wünschen den Forstarbeitern, die sich doch ziemlich viel Zeit nehmen für ihre Rodungen, bei ihrer nächsten Wanderung ähnlich anstrengende Umwege.

 

happy bubbling wells under a deep blue sky  happy bubbling wells

 

Kulturgenuss und Besinnung (ein bisschen)

Der Guide hat nicht übertrieben – diese Etappe ist wirklich etwas vom Reizvollsten des ganzen Trails.

Und auch der Kulturgenuss (oder je nach Optik die Besinnung) kommen nicht zu kurz: In Rosssura verpassen wir wie erwartet zwar die auf einem vorspringenden Hügel erbaute Kirche San Lorenzo (siehe unten), aber auch eine nachträgliche digitale statt analoge Sicht ist ganz okay. Und offenbar ist der Turm der stolzen Kirche von Canonico sogar von der Talsohle aus zu erkennen.

Wir sind nachträglich erstaunt, was wir vor lauter Wandern alles verpassen. Aber das ist ja nichts Neues.

 

The famous church of Rossura (cc Adrian Michael - Eigenes Werk)  And another church high up (cc Adrian Michael - Eigenes Werk)

Aber wer kann es uns verübeln: der Weg durch Wiesen und Gehölz ist nicht zu übertreffen.

Meine beiden Begleiter sind wie immer weit voraus, während ich wie immer der ewige Nachzügler bin. Das ergibt dafür Zeit, die Umgebung zu geniessen. Trockenes Laub knirscht unter den Füssen, ein zarter Wind streichelt die Bäume, die mir vorkommen wie uralte Begleiter. Die Bäume brechen das Licht, werfen Splitter von Schatten auf den Weg.

Wie auf dem Gotthardpass stellt sich automatisch die Frage ein, wer hier diesen Weg benutzt hat während der letzten Jahrhunderte.

Haben die Menschen in der Vergangenheit überhaupt Augen gehabt für die Schönheit der Umgebung? Haben auch sie das Rauschen der Bäume vernommen, das Singen der Vögel im Gebüsch? Wohl eher nicht. Ihre Gedanken waren bei ihrer harten Arbeit, beim stockenden Gang des übermüdeten Maultiers, beim Überleben ihrer Familie oder vielleicht beim wohlverdienten Bier oder Schnapps im nächsten Dorf. Falls es der hartherzige Boss zugelassen hat.

Eigentlich kann man es sich nicht vorstellen.

 

 

Berge und Schatten und Dörfer

Die Berge, der Campo Tencia, der Pizzo Campolungo oder der Pizzo Forno werfen ihre Schatten ins Tal. Doch der Himmel bleibt so blau wie er sein sollte, ein paar zierliche Wolken ziehen vorbei, grusslos und leise.

Doch immer wieder tritt der Weg aus dem Schatten der Wälder heraus. Schon von weitem grüssen Kirchtürme, Häuser, teilweise mit schweren Granitplatten auf den Dächern, heissen die Wanderer willkommen. Brunnen sprudeln, bekränzt mit Blumen, man fühlt sich am richtigen Ort und trinkt am Dorfplatz einen Kaffee.

Doch der Platz ist leer. Man könnte sich alte Frauen vorstellen, die es sich auf der Bank vor dem sonnenbeschienen Haus bequem gemacht haben, den neuesten Tratsch in ihrem wunderbaren, kaum verständlichen Dialekt austauschen, heiser kichernd in ihren Schals und Kopftüchern und Kittelschürzen, an den Füssen Holzschuhe oder Hauspantoffeln.

Vielleicht warten sie auf etwas, vielleicht auf die Post, aber wahrscheinlich nur, dass die Zeit vergeht.

So stellt man sich das vor. Aber so ist es nicht mehr.

 

The village Rossura, typical for this lind of villages
Rossura – ein typisches Bergdorf über der Leventina

Again and again a village  a decorated fountain

Aber der Weg führt weiter, die Schatten werden länger, die Beine müder. Und noch einmal treten wir in die Stille des Waldes ein, manchmal stolpert man auf steilen Stufen hinunter, ein paar Meter später wieder hinauf.

Es wird nun automatisch stiller, man konzentriert sich auf den nächsten Schritt, die nächsten Stufen, den nächsten Abhang. In diesen letzten Abschnitten, kurz bevor das Ziel erreicht wird, ist man ganz bei sich (und den schmerzenden Füssen und Beinen). Über sieben Stunden sind hinter uns, doch immer noch führt der Weg durch den Wald.

 

 

Anzonico unter blauestem Himmel

Anzonico befindet sich am linken Hang des Valle Leventina auf fast 1000 m.ü.M. 1667 zerstörte eine Lawine Teile des Dorfes, darunter die Kirche. 88 Menschen kamen zu Tode. Der Wiederaufbau erfolgte an einem geschützteren Ort. Ab 1850 entvölkerte sich Anzonico zunehmend. Heute hat es nur noch ungefähr 100 Bewohner, diverse Rustici wurden zu Ferienhäusern umgebaut. Am Ende des Dorfes thront die Kirche über dem Tal. Fantastisch ist die Sicht auf die Bassa Leventina und die gegenüberliegenden Berge wie Madom Gröss (2741) oder Cima Bianca (2612).

Auch die längste und anstrengenste Etappe geht irgendwann zu Ende, so auch heute. Die letzten Meter auf der Teerstrasse bis ins Dorf sind mühsam, nicht mal dieser fleckenlose blaue Himmel kann uns noch aufmuntern. Alles, was unsere Bestimmung an diesem Abend ist, kann in Form von einer Dusche, ein paar kühlen Bieren und einem Festmahl im Restaurant erfüllt werden.

Und das wird ziemlich schnell in die Realität umgesetzt.

 

Our hotel in Anzonico

 

Passender Song:  The Fleshtones – Way Down South

Und morgen geht die Strada Alta dem Ende zu … in Biasca

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Unterwegs auf der Strada Alta

Nun denn, heute also der erste Tag in Begleitung, der Weg ist weit, aber, wenn ich mich recht erinnere, von ausgesuchter Schönheit.

Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, während oben an der Strada Alta Ruhe herrscht. Prächtige Sicht auf die Bergketten der Leventina und des Val Bedretto. In Dörfern und Wiesen leuchten helle Kapellen. Osco war einst ein wichtiger Säumerort.

Unsere Werte: Länge 18 km; Aufstieg | Abstieg 980 m | 965 m; Wanderzeit 7 h 49 min

 

From Airolo to Osco
Von Airolo nach Osco – entlang der Strada Alta

 

Der Klassiker der Leventina

So viele grossartige Etappen liegen hinter mir. Die Flusswanderungen entlang des Doubs oder der Aare und der Emme bis an ihre Quelle. Oder die phantastischen Wanderungen entlang einiger der schönsten Seen der Welt.

Unvergessliche Tage voller Licht und Sonne und Luft.

Aber heute beginnt ein neuer Höhepunkt.

Die Strada Alta, ein Klassiker, einer der schönsten Wanderwege, die unser Land zu bieten hat. Sie führt von Airolo bis Biasca, immer hoch über der Leventina, ein dauerndes Auf und Ab, durch Wälder und Wiesen, durch Dörfer und Weiler.

Wir folgen während drei Tagen einem alten Säumerpfad, der die gefährlichen Schluchten im Talboden umging.

Die Route steigt von Airolo bis zum höchsten Punkt auf 1400 Metern, um nach rund 45 Kilometern mit einem 700-Meter Abstieg abrupt in die Talsohle zu stechen.

 

Die ersten Sonnenstrahlen

Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir  bei den ersten Sonnenstrahlen aufbrechen. Natürlich sind wir wie gewohnt viel zu spät beim Start, aber das kennen wir ja in der Zwischenzeit. Also gehen wir die Sache altersbedingt sehr gemächlich an, durchqueren das langgezogene Dorf und seine zugehörigen Weiler, bis der Weg zu steigen beginnt. Alles gut.

Airolo bleibt hinter uns zurück, der Weg führt gemütlich aufwärts, kaum zu spüren. Wir durchqueren das Val Canaria (was ein paar schmerzhafte Erinnerungen an eine Wanderung vor langer Zeit wachruft) und erreichen schon bald ein erstes Dorf hoch über dem Tal – Madrano.

Manchmal sind es sonnenbeschienene Wiesen und Abhängen, die wir durchqueren, manchmal Wald und Bäume, die sich über den Weg beugen. Man taucht in eine andere Welt ein, in eine stille, einfache Welt, wäre da nicht das Röhren und Brummen des unzähmbaren Verkehrs im Tal unten. Trotzdem, man atmet automatisch durch, die Brust weitet sich, der Geist, dieser unstillbare Geselle, wird leiser.

 

Madrano - first village on the way  Looking back at the Gotthard

Der Blick zurück zeigt das Tal kurz vor Airolo, Autobahn und Bahnstrecke, Dörfer und Weiler und Abhänge und Wiesen und Wälder, ganz zuhinderst der Gotthard und die tiefen Einschnitte, die von der neuen Gotthardstrasse in den Berg geschnitten wurden. Soviele Sünden auf einen Blick.

Aber anyway, wir schauen vorwärts, lassen alles hinter uns, unsere Richtung ist Süden und nichts anderes mehr. Der Himmel ist zwar voller Wolken, aber die Sonnenstrahlen liebkosen die grün- und gelb gefleckten Hänge, wir fühlen uns willkommen.

Schritt für Schritt, manchmal schwatzend, dann wieder schweigend, wandern wir aufwärts. Die Wanderstöcke, klack, klack, geben den Takt vor. Dieser Sound wird uns bis Mendrisio begleiten. Nach einiger Zeit erreichen wir den höchsten Punkt auf gut 1400 Metern.

Auf dieser ersten Etappe führt der Wanderweg immer wieder auf Asphaltstrassen entlang, aber was soll’s, wir nehmen, was kommt. Ab morgen wird alles besser (so hoffen wir). Aber immerhin gibt es grossartige Abschnitte, unter laubbesetzten Bäumen hindurch, wo der Boden weich und angenehm zu gehen ist. So muss es sein.

 

On the Strada Alta towards south  The Strada Alta - forest, villages, clouds and a blue sky

 

Holzhäuser und Steinhäuser und alles andere

Eine Wanderung ist auch immer (oder meistens) eine Lektion in Geographie, in Geschichte, in Politik und Wirtschaft. Dazu braucht es allerdings einen offenen Blick und gespitzte Ohren (und später eine nachträgliche Recherche in den dazugehörenden Informationen). Ach, dieses vermaledeite Halbwissen.

Wer hätte schon gewusst, dass in der oberen Leventina der Urner Baustil die vorherrschende Architektur der Hangsiedlungen mit den dunkelbraunen Holzhäusern ist, während sie weiter südlich durch Steinhäuser dominiert werden. Oder dass der Bergwald nach und nach durch Föhren, Birken und allerlei Gebüsch abgelöst wird und schon bald die ersten Kastanienhaine auftauchen.

Manchmal watschelt man einfach vor sich hin, ohne Gedanken an die Umgebung und deren Geschenke. Wenn man denn bloss etwas aufmerksamer wäre.

Eine Lektion fürs Leben, so scheint mir.

 

Small villages, but always with a chapel or a church
Dunkelbraune Holzhäuser und immer eine Kirche oder zumindest eine Kapelle

 

Dörfer mit und ohne Leben

Es ist tatsächlich so, auch in den winzigsten Dörfern, die kaum das Attribut Dort verdienen, steht eine Kirche oder zumindest eine Kapelle. Ein Aufruf an die frommen Bürger, natürlich allesamt Katholiken in diesem strenggläubigen Kanton, sich gefälligst an die Ehre Gottes zu erinnern.

Allerdings – die Erkenntnis lässt sich nicht verdrängen – scheinen all diese Dörfer an einem grossen Mangel zu leiden, der sicht- und spürbar ist. Es fehlt an Leben, an Menschen, an Stimmen, an Kinderlachen. Vielleicht haben wir den falschen Augenblick erwischt. Die Kinder sind in der Schule, die Erwachsenen im Tal unten am Arbeiten. Vielleicht – es wäre zu hoffen – erwacht das Leben erst nach Feierabend.

Ich bleibe skeptisch.

Und natürlich gibt es die umgebauten Häuser, die ehemaligen Rustici, die zu Ferienchalets verwandelt wurden, selten bewohnt, vielleicht an den Wochenenden oder Ferien. Einerseits eine Möglichkeit, eine Art Ersatzleben aufrecht zu erhalten, auf der anderen Seite der Einfluss einer fremden Welt, einer anderen Kultur, die vor allem durch Geld geprägt ist.

Es erinnert mich an einen Roman, der das Gegenteil beschreibt, ein fiktives Tessinerdorf im Bleniotal – Tage mit Felice von Fabio Andino. Obwohl die Geschichte eines alten Mannes in der Gegenwart spielt, weist vieles an eine längst vergangene Epoche zurück.

Doch Andino beschreibt ein lebendiges Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat.

Es gibt einen Laden, eine Kneipe, viele alte, teilweise baufällige Häuser, und vor allem viele Bewohner. So wie man sich an die eigene Jugend erinnert – voller schräger Figuren, voller Leben, auch wenn häufig von grosser Armut geschlagen. Doch das Dorfleben funktioniert, es gibt eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt.

Nun gut, irgendwie habe ich mich beim Lesen gefragt, ob die Geschichte nicht aus der Zeit gefallen ist, ob nicht vieles der Phantasie des Schriftstellers entspricht, der sich mit seinem Roman eine eigene Utopie geschaffen hat. Unsere Erkenntnisse beim Wandern auf der Strada Alta sind anders.

Aber wer weiss, vielleicht gibt es im Bleniotal noch Erinnerungen an die Vergangenheit.

 

Sometimes along soft meadows, sometimes on paved roads  My buddies are in good shape

 

Abstieg durch den Bosco d’Öss

Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, doch hier oben herrscht Stille, sieht man von den jubilierenden Gesängen unsichtbarer Vögel ab. Sie sind unsere ständigen Begleiter, denn ausser uns ist selten jemand zu sehen oder zu treffen. Die Wander-Hauptsaison ist vorbei, man hat sich wieder der Arbeit verschrieben, der Schule, anderen Leidenschaften.

Im Sommer hingegen wimmelt es hier von Ausflüglern, von leicht bis schwer beladenen Wanderern, manche für einen Kurztripp, andere wie wir für längere Etappen. Wir sind froh um die relative Einsamkeit, die Autos und Traktoren auf den jeweiligen Asphaltabschnitten genügen vollkommen.

Durch den sogenannten Bosco d’Öss, hoch über der Piottinoschlucht, überschreitet man auf einem strengen, steinigen Abstieg die Grenze zur mittleren Leventina (machen wir uns später schlau). Eine interessante Bezeichnung, weist sie doch auf die besonderen Dialekte hin, die hier gesprochen werden. Man kann nur vermuten, dass sich die Sprache alle paar Täler wieder ändert, so wie wir das aus unserer gemeinsamen Heimat kennen (wo ein schmaler Fluss zwischen zwei Dörfern nicht nur andere Ausdrücke, sondern auch andere Betonungen bedeutet).

 

Steep descent through the Bosco d'Öss  A village or just a few houses

Es ist ein ständiges Auf und Ab. Zuweilen glaubt man, am gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Osco zu erkennen, aber es entpuppt sich als Schimäre, unserer langsam etwas müde gewordenen Phantasie entsprungen.

In der Zwischenzeit sind viele Stunden vergangen, wunderbare Stunden entlang (meistens) grossartigen Wegen mit einer Aussicht, die man eigentlich kostenpflichtig machen müsste (was der Krämermentalität der Schweizer durchaus entsprechen würde; man darf ihnen allerdings nicht allzu böse sein – es gibt in diesem kleinen Land weder Bodenschätze noch sonst was, was sich monetarisieren lässt, also hält man sich an das, was vorhanden ist, die grossartige Natur).

 

It's a sometimes funny path, you feel far from the world  And then you have to find your way

 

Osco – und eine verlassene Unterkunft

Schliesslich nähern wir uns doch dem malerischen Dorf Osco, im Mittelalter ein wichtiger Säumerort, wo die sogenannte Säumerordnung aus dem Jahr 1237 das älteste Dokument ist, das über die Nord-Süd Verbindung über den Gotthard berichtet.

Auch hier, wir sind gar nicht mal überrascht, keine Menschenseele zu sehen, einmal mehr weit weg von geschäftigem Leben. Wir sind einquartiert im mehr oder weniger einzigen Etablissement im Dorf, im Ostello pro Osco, einem stattlichen Gebäude, wo wir garantiert genug Platz haben werden. Nur ist leider auch hier niemand zu sehen, die Tür ist verschlossen, kein Laut zu hören.

Zumindest haben wir eine Telefonnummer, ein Kontakt wird hergestellt, und kurz darauf keucht eine ältere Dame vom Dorf herauf, die uns die Pforten zu unserem temporären Paradies öffnet. Unser Paradies entpuppt sich als Unterkunft für gut zwanzig Personen, man schläft in Reihenbetten, der Waschraum erinnert an die Zeiten in der Armee, aber was soll’s, wir sind gelandet.

Abendessen und Frühstück werden am zentralen Platz im entsprechenden Restaurant (dem einzigen im Dorf) eingenommen, die Dame, die uns das Haus geöffnet hat, ist gleichzeitig auch die Wirtin des Restaurants. Draussen stehen lange Tische und Bänke bereit für viele Gäste, doch neben ein paar anderen Wanderern oder was immer diese Leute sind, ist der Platz verwaist.

Das Abendessen, soviel muss gesagt werden, ist von ausgesuchter Qualität, ein echtes Tessinergericht, wie man es in den teuersten Restaurants nicht besser erhalten kann. Wir verabschieden uns von unserer Wirtin mit dem Versprechen, in den heiligen Hallen unseres Ostellos zu schlafen wie die Könige von Frankreich …

 

Passender Song:  Express and Company – Out by the Trees

Und hier geht der Trail weiter … der Strada Alta entlang nach Anzonico

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – On Top of the World (fast)

So sitze ich an diesem Morgen beim Frühstück im Café, schaue hinaus in den kühlen Morgen, irgendwie froh, diesem seltsamen Ort entfliehen zu können.

Auf der Strasse bewegen sich viele Leute, alle auf dem Weg irgendwohin, keine Ahnung wohin. Sie sehen so zielgerichtet aus, wie das heute sein muss. Das Dogma der Zeit: man sollte immer ein Ziel vor Augen haben, alles andere ist verschwendetes Leben.

Irgendwie traurig. Man verpasst soviel beim ununterbrochenen Vorwärtsstreben.

Aber der Mandelgipfel ist genauso wie gestern, eine Köstlichkeit. Das Aroma entfaltet sich im Mund, der Teig zerbröselt, man braucht kaum zu kauen. Und der Kaffee ist stark und erinnert entfernt an den Ort, wo die Bohnen gewachsen sind. Auch dort möchte ich sein, nur nicht hier.

Ich habe – überheblich wie ich nun mal bin – wieder einmal zwei Etappen zusammengelegt, also von Andermatt bis nach Airolo. Es hat schliesslich auch vor über zehn Jahren geklappt, warum sollte es heute anders sein? Das um gleich viele Jahre zugenommene Alter verschweige ich mir selbst. Aber ich weiss, was auf mich zukommt.

Zwei grossartige Etappen.

Die erste führt auf den Gotthardpass:

In den Fussstapfen der Säumer auf der jahrhundertealten Nord-Süd-Achse von Andermatt auf den Gotthardpass. Bis Hospental ebenen Weges der Reuss entlang durch das romantische Urserental. Von dort auf historischem Saumweg neben der plätschernden Gotthardreuss hinauf auf den wichtigsten Alpenpass der Schweiz.

 

From Andermatt to the Gotthardpass
Von Andermatt bis zur Gotthardpasshöhe

Die zweite Etappe als Bonus:

Vom König der Schweizer Pässe auf steilem Bergwanderweg hinunter in die Leventina. Spektakuläre alpine Bergwelt kombiniert mit verkehrsbaulichen Meisterleistungen verschiedener Epochen. Auf Tuchfühlung mit der denkmalgeschützten Tremolapasstrasse.

Meine Werte (für die gesamte Strecke): Länge 20.1 km; Aufstieg/Abstieg: 990 m / 1240 m; Wanderzeit 8 h 22 min

 

From the Gotthardpass to Airolo
Von der Gotthardpasshöhe nach Airolo

 

Der Himmel, mein alter Freund

Dann also auf zur letzten Etappe, über den Berg, über den Gotthardpass.  Der Himmel, mei alter Freund, begrüsst mich mit düsteren Wolken, egal. Im Tal hinten, wo der Anstieg beginnt, ein Gebräu aus Nebel und sonstwas.

Nach dem gestrigen Ruhetag freuen sich meine Muskeln auf die Auseinandersetzung mit der Höhe, der Distanz, den Steigungen.

Nichts kann mich mehr erschüttern.

 

Upwards to the Gotthard
Ganz langsam und gemütlich dem Gotthard entgegen

Along the Reuss throught the Urseren Valley An ancient Tower at Hospental

In den Bäumen entlang der Reuss ist ab und zu das Röhren einer Säge zu hören. Und wieder muss ein Baum dran glauben. Keine Gnade.

Die Pflege des Waldes ist mir ein Rätsel. Nichts kann mich derart ärgern wie das jeweils im Herbst stattfindende Gemetzel im Wald. Schwerste Maschinen preschen gnadenlos und brutal über den empfindlichen Waldboden, sorglos, gedankenlos. Wahrscheinlich (wie immer) der Rendite verpflichtet.

Zurück bleiben uralte Bäume, die viel zu erzählen hätten, rücksichtslos zu Boden geworfen, als wären sie nichts, traurige Reste eines langen Lebens. Es kommt mir jeweils vor, als hätte mir jemand enge Freunde genommen.

Zurück bleiben metertiefe Spuren im Waldboden. Enthauptete Baumstümpfe. Achtlos weggeworfene Äste.

Ein Schlachtfeld.

Der Weg führt einem Golfplatz entlang, niemand zu sehen. Wer soll sich an diesen gottverlassenen Ort verirren, wenn es doch wunderschöne Plätze auf der ganzen Welt gibt. Ich kann mir ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.

Viel interessanter finde ich die Tatsache, dass genau hier, unter meinen Füssen, der Zug durch seinen Tunnel in Richtung Süden rast. Ich lausche, doch nichts zu hören. Kein dumpfes Brausen, kein metallenes Pochen. Er wird in ein paar Minuten in Airolo ankommen, während ich noch Stunden auf den Füssen sein werde.

Doch dann Hospental, das hinterste Dorf. Hier verzweigen der Furkapass, der ins Wallis führt, und der Gotthardpass. Der Ort profitierte während der Säumerzeit vom regen Handelsverkehr. Davon zeugen zahlreiche Gasthäuser und die alte Zollstation.

Und da ein alter Turm, obwohl im Verfall begriffen, noch immer trutzig und zu allem bereit, so scheint es. Man fragt sich, wer sich hier gegen wen verteidigen musste,

 

Der Morgen ist aus Blau und Weiss

Der Aufstieg beginnt. Ganz harmlos, einladend. Der Talgrund bleibt zurück, schnell vergessen. Ich bin allein, so wie es sein muss, auf den Spuren der Vorfahren, denen dieser Berg, dieser Pass eine Verheissung bedeutete, Sonne, Wärme, südliche Lebenskunst,

Aber auch das Tor zu Italien, der damals einzige Verkehrsweg in den Süden. Was muss sich hier alles abgespielt haben. Manchmal glaube ich, ein Wispern zu vernehmen, von den Geistern der vergangenen Wanderer, wahrscheinlich schwer beladen, daneben Pferde und Maultiere und Esel, schnaubend vor Anstrengung.

War der Himmel so wie heute, blau und weiss, über grünen, baumlosen Anstiegen, dem Himmel entgegen?

 

Upwards to the Gotthard

Es fällt ganz leicht. Der Pfad führt gemächlich aufwärts, Kurve um Kurve, man kommt kaum ins Schwitzen, doch immer wieder bleibe ich stehen, ziehe die kühle, würzige Luft in meine Lungen, spüre das alte Glücksgefühl, das sich zuverlässig einstellt, wenn alles stimmt.

So wie an diesem Vormittag.

 

The old mule track - sometimes abridge

Eine Brücke führt ans andere Ufer des Baches, wohin weiss niemand. Vielleicht in ein Tal hinein, ganz zuhinterst eine Alp. Man wirft einen kurzen Blick darauf, ein, zwei Gedanken, und geht weiter.

Eien Schafherde, zusammengepfercht, umgeben von metallenen Zäunen. Der Mann neben dem Pferch gibt Antwort: die Schafe sind zum Abtransport bereit. Der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, wenn das Wetter umschlägt, kann es mitunter schnell gehen, bis der erste Schnee fällt.

 

A flock of sheep, ready for transport A strange building - an air vent of the railroad tunnel

 

Der enge Himmel

Der Himmel, mit zuckrigen Wolken geschmückt, ist eng, wie eingeschnürt durch die baumlosen Abhänge. Hier gedeiht nicht mehr viel. Die Baumgrenze ist längst erreicht, obwohl sie jedes Jahr ein bisschen weiter nach oben wächst. Der Klimawandel lässt grüssen.

Irgendwann in nicht so ferner Zukunft wird das Leben für die Tiere der oberen Bergregionen gefährdet sein. Schneehasen, Auerhühner, Murmeltiere und anderen, sie alle werden sich anpassen müssen oder verschwinden.

Wie so vieles andere, wenn wir nicht aufpassen.

 

The narrow sky, decorated with funny clouds

Hoch am Himmel kreist ein Raubvogel, vielleicht ein Steinadler. Die Sonne blendet, die Sicht verschwimmt. In der Stille ist das kaum wahrnehmbare Sausen der Flügel zu hören, vielleicht sucht er eine unvorsichtige Maus. Wer weiss, was er von da oben alles sieht.

Die Welt in den Augen des Adlers.

Ganz selten, was mich überrascht, dringt das Röhren eines Motors durch die andächtige Stille. Die Passstrasse ist nicht weit, das enge Tal lässt keine Abstände zu.

Beim letzten Besuch wurden wir durch ein Kutschengespann überrascht. Offenbar gibt es immer noch entsprechende Angebote, sich wie vor hundert Jahren durch Pferdegespanne über den Gotthard ziehen zu lassen.

 

Windräder ganz oben

Lange her seit den letzten Windrädern. Es kommt mir vor wie Monate, dabei sind es knapp drei Wochen.

Ich sitze da, die Wasserflasche in der Hand, und betrachte die riesigen Ungetüme. Auf den ersten Blick sind sie Fremdkörper, und doch schmiegen sie sich graziös ein in die Umgebung, als wären sie schon immer hier gewesen.

Eigentlich finde ich sie schön, so elegant in ihren sanften Formen, man hört nur ein leises Schwirren, wenn sich die riesigen Flügel im Wind drehen. Ganz langsam, fast lautlos.

Man fragt sich, wie sie mit so wenig Bewegung soviel Energie produzieren können.

 

Wind turbines at the top of the Gotthard

 

Die Passhöhe

Ganz überraschend – die erwartete Anstrengung ist ausgeblieben – erreiche ich unvermittelt ie Passhöhe.

Auf dem letzten Wegabschnitt treffen Verkehrswege dreier Epochen aufeinander: der uralte Säumerweg, die alte Passstrasse von 1830 sowie die neue Strasse, ausgebaut mit einer Galerie, die vor Felsstürzen schützt. Der Weg führt durch eine Moorlandschaft mit vielfältiger Alpenflora.

Anfänglich eine mit grossen Felsen übersäte Ebene, die zu einem kleinen See führt, und kurz darauf, schon von weitem ist die Meute von Motorrädern und Autos zu sehen und zu hören, steht man vor der Tafel, wo die Passhöhe auf 2100 Metern angekündigt wird, und klopft sich auf die Schultern. Kurz vor Erreichen der Passhöhe sticht auf der rechten Seite die gewaltige Staumauer des Lago di Lucendro ins Auge – die Quelle der Gotthardreuss.

Wenn ich allerdings an den World’s Highest Motorable Pass in Ladakh denke, na ja, alles ist relativ ….

 

The top of the Gotthard

Das Gedränge auf der Passhöhe, wo es erwartungsgemäss ein Restaurant und Läden und Tische und Bänke und Parkplätze und Souvenir-Shops gibt, ist erstaunlich. Offenbar besitzt dieser Ort eine eigene Anziehungskraft, was angesichts des besonderen Ortes kaum überraschend ist.

Für mich wird das alles schnell zuviel. Soviel Krach, soviel Bewegung, soviele Stimmen. Nach einem geruhsamen Kaffee im Restaurant, nehme ich den Abstieg unter die Füsse. Airolo, das Tagesziel, liegt über 1000 Meter unter mir.

 

Abwärts der Tremola entlang

Der Lärm bleibt hinter mir zurück, sehr schnell, als wäre nichts gewesen. Niemand ist mehr da, der mir erstaunte Blicke zuwirft. Ich bin froh, wieder allein zu sein. Ich Glücklicher.

Was ich hingegen nicht vergesse, ist die Tatsache, dass sich genau hier eine bedeutende Wasserscheide befindet. Rhein, Rhone, Reuss und Ticino entspringen in diesem Gebiet (bei der Rhone bin ich allerdings skeptisch).

Wenn ich also einen Schritt nach Süden mache, dann wird das Quellwasser unter meinen Füssen irgendwann mit samt dem verdreckten Po-Wasser im Mittelmeer landen. Und ein paar Meter daneben entscheidet sich das Wasser für Norden, folgt zuerst der Reuss, dann dem Rhein bis zur Nordsee. Es erinnert mich an ein Bad am südlichsten Punkt des indischen Subkontinents, wo sich zwei Meere begegnen …

Man müsste den Flüssen folgen können. Vielleicht eine Idee für die nächste Wanderung. Von der Quelle des Rheins bis zur Nordsee. Mal sehen …

 

A plain and a cut in the countryside - the road Just a few meters before the abyss beginns

Anyway, der Weg führt anfänglich über eine sumpfige Ebene, durchzogen von Trampelpfaden, wahrscheinlich vom Vieh in den Boden gedrückt. Auf der anderen Talseite erkennt man die tiefen Einschnitte im Felsen, wo die Strasse durchführt. Sie wurde anstelle der alten Gotthardstrasse, der berühmt-berüchtigten Tremola gebaut.

Ab 1953 begann Uri mit dem Vollausbau der Schöllenenstrasse. Das Urnerloch wurde ausgebaut und eine neue Teufelsbrücke errichtet. Im Sommer 1967 konnte der erste Teil der neuen Tremolastrasse eröffnet werden; die restliche Tremolastrasse konnte aber erst 1977 befahren werden.

Die neue Strasse umgeht mit ihrer neuen Linie, den dreizehn Brücken, einem Tunnel und ihren langen Lawinengalerien die alte Tremolastrasse grossräumig. Im Sommer 1983 konnte als letztes Teilstück der neuen Gotthardstrasse die Umfahrung von Andermatt als Teil der Hauptstrasse 2 dem Verkehr übergeben werden. Die alte Tremolastrasse zwischen der Passhöhe und Motto Bartola bildet die Hauptstrasse 561.

Der Wanderweg hinunter ins Tessin führt zum grossen Teil der Tremola entlang. Zuweilen ist er steil und voller Geröll, nicht das, was man sich nach sovielen Stunden wünscht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Verantwortlichen für die Instandhaltung des Wegs schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen sind.

 

The famous Tremola - the old road down to the Ticino It's still open fpr traffic, but mostly on cobble stone; on the other side the new road cut into the rock

The hiking path crosses several times the Tremola The Tremola - a paradise for motorbikes

 

Aber dann – Airolo … und meine Wanderkumpels

Beim sinkenden Nachmittag soll am Ziel enden, doch immer noch liegen viele Kilometer vor mir, vor allem aber viele Höhenmeter. Ich steige herunter vom höchsten Punkt dieser Wanderung, ab jetzt beginnt ein neues Kapitel, das letzte.

Das Tessin, die Sonnenstube der Schweiz, ist nicht nur geographisch, sondern auch sprachlich und kulturell eine eigenständige Region, manchmal eher ein Stück Italien (was die Einheimischen natürlich vehement bestreiten würden).

Vorerst unterscheidet sich aber wenig.

Die Hänge links und rechts der Strasse sind ausgelaugt durch die lange Sommerdürre, das Gras ist verdorrt, ein kränkliches Braun zieht sich von den Gipfeln bis zum Talboden. Dazwischen ein paar Bäume, erst weiter unten werden sie zahlreicher, spenden ein wenig Schatten, denn die Sonne brennt immer noch leidenschaftlich vom Himmel.

Wenn man die eleganten Schleifen sieht, die von der neuen Strasse durch die Landschaft pflügen, ist man hin- und hergerissen zwischen Staunen und Bewunderung für die grandiose Arbeit der Architekten und den tiefen Wunden, die in die Natur geschlagen werden. Aber eben, die Mobilität, die heilige Kuh der Schweizer Verkehrspolitik, steht immer zuoberst im Kanon der wirklich wichtigen Dinge. Auf jeden Fall wichtiger als der Erhalt der Natur.

Aber das kennen wir ja in der Zwischenzeit.

 

Elegant curves, cut into the landscape

Aber dann, zwischen den Bäumen blickt ein Dorf herauf, das Tagesziel kommt näher. Mehr als 8 Stunden sind vergangen seit dem trüben Morgen in Andermatt, die Beine sind etwas müde geworden, doch der Spirit ist noch da, klar.

 

Airolo, today's destination gets close

Alles ist gut, würde man sagen, wenn im Hotel auch die Reservation für das Zimmer vorhanden wäre. Ist sie aber nicht, die Kommunikationskanäle zwischen Maileingang und Reservation scheinen etwas suboptimal zu sein.

Aber hey, wir sind im Tessin, da ist man fern der verkrampften Zuverlässigkeit von nördlich der Alpen. Aber kein Problem, no worries würde man in Downunder sagen, ein alternatives Zimmer wird schnell gefunden, der Wirt und ich lachen herzlich, was soll’s, alles wunderbar.

Doch bevor ich auch nur Atem holen kann, fährt der Zug am Bahnhof ein, und da sind sie, meine alten Wanderkumpels. Und so kommen die Solotage nach über drei Wochen an ihr Ende, das ist gut so.

Die nächsten Tage, immerhin noch eine ganze Woche bis zum Endziel in Mendrisio, werden wir auf der berühmten Strada Alta durchs Tal der Leventina bis Biasca folgen. Was nachher kommt, ist vorgeplant, muss aber noch in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Welche Wirklichkeit es sein wird, werden wir sehen.

Dann werden neue Geschichten geschrieben, neue unvergessliche Anektoten, Stoff für die Annalen unserer gemeinsamen Abenteuer.

Eigentlich kann man sich gar nicht mehr wünschen.

 

Passender Song:  Marvin Gaye & Tammi Terrell – Ain’t no Mountain high enough

Und hier geht der Trail weiter … der Strada Alta entlang

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Der Teufel lässt grüssen

Für eine derart kurze Etappe scheint es angebracht, mit etwas Geistreichem zu beginnen. Nun denn, ich habe etwas von Caravaggio gefunden, meinem Lieblingsmaler (nebst vielen anderen):

Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind. Ein Schatten nur, der wandelt, ist das Leben, ein Märchen, voller Klang und Wut. Komm mit deiner dunklen Binde, Nacht!

Ein seltsamer Einstieg in den heutigen Tag. Offenbar ist es so, dass je schöner die Umgebung wird, desto düsterer meine morgentlichen Eingebungen. Nach dem traurigen Bowie Einstieg nun also eine Referenz an Schatten und Dunkelheit und Nacht.

Sehr seltsam. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass das Tofu-Abendessen (grauslig) mir den Schlaf genommen hat.

Aber was soll’s, es sind gemäss Guide auch heute natur- und menschengemachte Wunder zu erwarten:

Eine Etappe für Bahnfreaks: Der Weg verläuft teils unmittelbar neben den Geleisen, passiert die Orte Göschenen und Andermatt, die in der Geschichte des Gotthardverkehrs eine wichtige Rolle spielten. Dazwischen die sagenumwobene Schöllenenschlucht.

 

From Wassen to Andermatt

 

Die Vergangenheit lässt grüssen

Der Weg in Richtung Göschenen ist reine Geschichte. Die Erzählung einer für die damalige Zeit aussergewöhnlichen Leistung beim Bau der Gotthardbahn und des Gotthard Eisenbahntunnels. Viel ist darüber geschrieben worden, man klopft sich immer noch auf die Schulter, man ist – mit einer gewissen Berechtigung – stolz auf das Wunder der Gotthardbahn.

Man kann tatsächlich von brillianter Planung und Ausführung zu einer Zeit sprechen, da Maschinen und Werkzeuge, wie wir sie heute kennen, unbekannt waren, und das meiste mit harter körperlicher Arbeit gemacht werden musste.

Aber es gibt auch eine andere Erzählung. Diejenige von schrecklichen Unglücken und Tod, aber auch von Ausbeutung, von Unmenschlichkeit, von jämmerlichem Versagen.

memorial for the workers of the gotthard railroad
Copyright Markus Schweiss

199 Arbeiter starben während der Bauarbeiten. Von den 171 Toten, die in der Unfallliste im Bundesarchiv erwähnt werden, wurden 53 Arbeiter von Wagen oder Lokomotiven zerquetscht, 49 von Felsen erschlagen, 46 durch Dynamit getötet. 23 kamen auf andere Art ums Leben, einer von ihnen ertrank.

Schuld war nach offizieller Angabe jeweils der Zufall oder der Verunglückte selbst. Zahlreiche weitere Männer starben allerdings im Laufe der folgenden Jahre an den Spätfolgen von Unterernährung, Krankheiten und Verletzungen, die sie sich während des Tunnelbaus zugezogen hatten.

«Nicht als Todesfälle erfasst wurden diejenigen Arbeiter, die an den Portalen tödlich verletzt oder unheilbar krank wurden, jedoch erst nach ihrer Rückkehr in die Heimat starben. Dieses Korrektiv gewinnt dadurch an Gewicht, dass gerade in Airolo Kranke und Verwundete ‹massenhaft nach Hause geschickt wurden›.»

Auf dem Weg in Richtung Andermatt sind zahlreiche Reminiszenzen an den Bau der Gotthardbahn zu sehen. Verrostende Geräte zeugen von der damaligen Art und Weise, wie man die Arbeiten durchführte.

Eine kleine, schwach beleuchtete Hütte (eine ziemliche Bruchbude, offiziell Museum für Steinbearbeitung) stellt damalige Werkzeuge und Geräte aus. Sie sind naturgemäss in schlechtem Zustand, aber die Funktionsweise ist einigermassen ersichtlich.

Allerdings – wenn man an die damalige Zeit erinnern will, sollte man sich bemühen, dem Ganzen eine gewisse Würde zu verleihen, ansonsten es angebracht wäre, darauf zu verzichten.

 

Antique machines from the time of the building of the Gotthard tunnel  Graphic display of the ancient kind of working in the tunnel

A kind of a museum to display the old devices  Machines and devices of old times

 

Der Weg aufwärts

Eigentlich (und ziemlich überraschend) ist der Weg hinauf in Richtung Andermatt zwar steil, aber recht einfach zu bewältigen.

Das Licht an diesem sonnigen Morgen ist milchig, die Schatten sind tiefer als sonst, wie kann das sein? Es zieht mich wie von selbst aufwärts, als hätte sich während den letzten Wochen ein innerer Automatismus entwickelt, der mich antreibt, der mir den Takt vorgibt. Ich bin zum Sklaven der Routine geworden. Das ist gut so, denn es bedeutet auch, dass ich endlos weitergehen könnte.

Bis ans Ende der Welt.

Ich denke, dass ich auch heute niemandem begegne, es wäre eine Überraschung. Dabei ist der Trail schlicht fantastisch. Der Weg folgt steilen Felswänden, überquert Brücken aus wackligem Holz, dann wieder unter einer Betonbrücke durch, was oben ist, weiss niemand.

 

Upwards beneath steep rocks  Sometimes a wooden bridge to cross

Human miniatures on superhuman bridges  Who's having the lead?

Aber da sind sie wieder, die Betonmonster, mächtige Pfeiler in den Boden gerammt, geschwungene Bögen, beinahe schön, Architektenträume, mehr nicht. Darauf ein einzelnes Fahrzeug, ganz winzig, der Mensch wird zur Miniatur.

Der Mensch beherrscht die Natur, oder doch nicht?

 

Adios alter Zug

Göschenen nähert sich, der erste Punkt auf der heutigen Karte.

Es geschähe Unheimliches, falls man aus dem Mittelalter käme und noch nie einen Zug oder ein Tunnel gesehen hätte. Denn hier verschwindet die Gotthardbahn, die alte, endgültig in die Dunkelheit, die erst viele Kilometer im Süden, im Tessin, wieder Platz für das Licht macht.

Früher hätte man nicht lange auf einen Zug warten müssen, doch heute dauert es eine Ewigkeit. Ich möchte unbedingt einen Zug an mir vorbeifahren sehen, den Luftzug spüren, den Dopplereffekt erleben. Aber da kommt nichts, auch anstrengendes Lauschen auf mögliche akustische Annäherung bleibt erfolglos.

 

The old Gotthard train disappears in the Gotthard tunnel

Und unweit davon wird emsig gebaut, es soll eine zweite Röhre für den Strassentunnel erstellt werden. Eine äusserst umstrittene Geschichte. Offziell wird beteuert, dass beide Röhren nur in Notfällen zugänglich gemacht werden, man zweifelt daran, mit Recht.

Auf diese Weise wird das Vertrauen in die Politik in Mitleidenschaft gezogen. Aber das kennen wir in der Zwischenzeit.

 

New tunnel is being built

 

Alte Brücken und Steinschlag

Aber dann – eine Augenweide. Eine alte Steinbrücke über die Reuss.

So stellt man sich den alten Saumpfad vor, viele für Mensch und Tier steile anstrengende Pfade, dazwischen steinerne Brücken, die von erstklassigen Baumeistern gebaut worden sind. Es handelt sich um die Häderlisbrücke, ein Juwel einer Brücke.

Die entsprechende Beschreibung wird mitgeliefert.

 

Old Stone bridge over the wild and sometimes nasty Reuss river  It's the Häderlisbrücke - a juwel of construction art

Und noch etwas weiter oben – Gefahr!

Wenn man die Felswand hinaufblickt, versteht man die Warnung. Hier ist Vorsicht angebracht, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Felsabsturzes gering ist. Aber wir kennen das – falsche Zeit am falschen Ort, und schon gehst du ins Nirvana ein. Das muss nicht sein, also beeilt man sich trotz Wahrscheinlichkeitsrechung.

 

Caution - Rockfall!

 

Die Teufelsbrücke – Satan und Geissbock

Kurz vor Andermatt, eines der mythischen Highlights – die Teufelsbrücke.

Ich zitiere die zugehörige Sage, die jedes Kind in der Schweiz kennt:

Einer Sage zufolge wurde die erste Teufelsbrücke vom Teufel errichtet. Die Urner scheiterten immer wieder an der Errichtung einer Brücke. Schliesslich rief ein Landammann ganz verzweifelt aus: „Do sell der Tyfel e Brigg bue!“ (Da soll der Teufel eine Brücke bauen!)

Kaum ausgesprochen, stand dieser schon vor der Urner Bevölkerung und schlug ihnen einen Pakt vor. Er würde die Brücke bauen und als Gegenleistung bekomme er die Seele desjenigen, der als Erster die Brücke überquere. Nachdem der Teufel die Brücke gebaut hatte, schickten die schlauen Urner einen Geissbock über die Brücke.

Der Teufel war über diesen Trick sehr erzürnt und holte einen haushohen Stein, mit dem er die Brücke zerschlagen wollte. Es begegnete ihm aber eine fromme Frau, die ein Kreuz auf den Stein ritzte. Den Teufel verwirrte das Zeichen Gottes so sehr, dass er beim Werfen des Steines die Brücke verfehlte. Der Stein fiel die gesamte Schöllenenschlucht hinab bis unterhalb des Dorfes Göschenen. (Wikipedia)

 

The Devil's Bridge over the Schöllenen Gorge  In the meantime there are three different bridges from different time aereas

Die Schöllenen Schlucht – weltberühmt durch ihre geschichtliche Bedeutung. Und die Erinnerung an die mühsame Bezwingung mit der Hilfe des Teufels persönlich. Und der Zug, dieser hier verkehrt bis Andermatt, wo dann auf den berühmten Glazier Express ungestiegen werden kann.

Die zweite Teufelsbrücke und die schmale Strasse waren Mitte des 20. Jahrhunderts den Anforderungen des modernen Verkehrs nicht mehr gewachsen. 1958 wurde daher rund 30 Meter östlich der zweiten Brücke und etwas erhöht die dritte Teufelsbrücke eröffnet, die direkt in den ebenfalls neu erbauten Fadeggtunnel übergeht. Mit zwei Spuren konnte sie den zunehmenden Verkehr besser aufnehmen.

Über der Brücke prangt an der Felswand ein markantes Teufelsbild des Urner Malers Heinrich Danioth, geschaffen 1950 in Ölfarbe. 2008 wurde das rote Bild bei einem Vandalenakt mit blauer Ölfarbe beschmiert und darauf im Sommer 2009 aufwendig restauriert. (Wikipedia)

So gehen Sagen. Immer mit einem kleinen Anteil Wahrheit und sehr viel Glauben an Gott und den Teufel. Offenbar hat die Geschichte – wahrscheinlich durch geschickte PR-Strategen – auch touristische Ohren erreicht. Man glaubt viele unterschiedliche Sprachen zu hören, und das Klicken von Kameras, da Oh und Ah angesichts der wilden Natur und der noch wilderen Phantasie, die der Teufel hervorzurufen vermag.

 

Ein Denkmal für die Russen

Unweit der Teufelsbrücke, das Suworow Denkmal.

In normalen Zeiten würde man versuchen, sich an die damaligen Kriege zu erinnern, an den Kampf zwischen den Franzosen und den Russen, vielleicht sogar mit ein bisschen mehr Sympathie für das russische Heer. In diesem Jahr ist es schwierig, den Russen auch nur den geringsten Goodwill entgegenzubringen.

Aber ein paar Gedanken zum damaligen Kriegsgeschehen, das auch die Schweiz in Mitleidenschaft zog, können nicht schaden.

Die Zeit um 1800, also nur ein paar Jahre nach der Französischen Revolution und der Machtergreifung durch Napoleon, war gezeichnet von unzähligen Kriegen zwischen den damaligen Mächten Frankreich, Russland, England, Österreich, Preussen und verschiedenen zersplitterten Königreichen und Tochterrepubliken.

Ich zitiere den entsprechenden Abschnitt in Wikipedia:

Im sogenannten 2. Koalitionskrieg (1798/99–1801/02) wurde von einer Allianz um Russland, Österreich und Großbritannien gegen das im Ersten Koalitionskrieg erfolgreiche revolutionäre Frankreich geführt.

Der erfolgreichste französische General, Napoleon Bonaparte, war nach der verlorenen Seeschlacht bei Abukir in Ägypten isoliert. Auch deswegen war das Bündnis zunächst sehr erfolgreich und konnte die französisch dominierten Tochterrepubliken in Italien zerschlagen und die alte Ordnung wiederherstellen. Allerdings waren die Verbündeten zerstritten, und Russland verließ die Allianz.

Nachdem Napoleon aus Ägypten zurückgekehrt war und in Frankreich mit dem Konsulat die Herrschaft übernommen hatte, siegte er 1800 in Italien (siehe unten). Die verbliebenen Verbündeten schlossen Frieden mit Frankreich.

Der Friede von Lunéville (1801) bestätigte dabei im Wesentlichen die Bestimmungen von Campo Formio. Die Niederlage der Alliierten war indirekt für die völlige Neugestaltung des Heiligen Römischen Reiches durch den Reichsdeputationshauptschluss mitverantwortlich. Mit dem Frieden von Amiens (1802) zwischen Großbritannien und Frankreich war der Krieg endgültig beendet. 

Der Abschnitt der Schlacht an der Schöllenen Schlucht ist speziell interessant:

Der Plan Suworows war es, mit seiner ca. 21.000 Mann zählenden Armee durch einen überraschenden Vorstoß quer durch die Alpen in den Rücken der Truppen von General André Masséna vorzustoßen und ihn zusammen mit den Truppen von Alexander Rimski-Korsakow und einer österreichischen Armee unter General Hotze bei Zürich in die Zange zu nehmen.

Obwohl die Russen noch nie zuvor in den Bergen gekämpft hatten, eroberten sie am 24. September den Gotthardpass von den Franzosen, worauf sie unter französischem Beschuss die Schöllenenschlucht passierten. Angekommen in Altdorf, erkannte Suworow, dass ein Weg nach Schwyz entlang des Vierwaldstättersees, mit dem er gemäß der ihm von den Österreichern zur Verfügung gestellten Militärkarten gerechnet hatte, gar nicht existierte. Die Straße endete damals in Altdorf. (Wikipedia)

Da ist nicht viel zu ergänzen. Es war eine verrückte Zeit voller Kriege und Gewalt und Elend, alles, damit irgendwelche narzisstische Männer ihre Träume von Macht realisieren konnten.

 

The Russian Monument to commemorate the battle of the Schöllenen gorge  a contemporary picture of the battle between the French and the Russian armies

 

Das neue Andermatt – Geld und wenig Geist

Kurz nach der Schöllenenschlucht öffnet sich das Tal in eine weite Ebene, mittendrin Andermatt, mein heutiges Ziel.

Es gab das alte Andermatt, ein verschlafenes Dorf inmitten von Felsen und Bergen und Steinen. Eigentlich schön in seiner stillen Einfachheit.

Dann kam Samih Sawiris. ein ägyptischer Geschäftsmann und Milliardär, und mit ihm das Versprechen auf Geld und Wohlstand. Die alte Geschichte der Versuchung. Die Hybris des Menschen, der er immer wieder erliegt.

 

New pompous hotels in Andermatt  The old "Krone" becomes the "Hotel Crown"

Man kann Sawiris nicht mal viel vorwerfen. Er tut genau das, was er beherrscht. Möglichkeiten erkennen, Kosten gegen Nutzen aufrechnen, Entscheide fällen, Hindernisse aus der Welt schaffen, die Möglichkeit zur Tatsache werden lassen.

Heute gibt es das alte Andermatt zwar noch, aber nun umgeben von protzigen Hotelkästen, mitten im Dorf steht ein Luxusressort namens Chedi, auf der weiten Ebene, wo sich die Reuss ihren Weg sucht, gibt es einen Golfplatz, auf dem kein Mensch zu sehen ist.

Das alte Hotel Krone heisst nun The Crown, alles ist auf englisch angeschrieben und wenn wundert’s – auf der Strasse wird mehrheitlich englisch oder italienisch gesprochen, und in den Restaurants wird man selbstverständlich auf englisch angesprochen.

Man fragt sich, seit die Sawiris Pläne bekannt wurden, ob sein Projekt Erfolg haben würde. Um erfolgreich gegen weltberühmte Ressorts wie St. Moritz oder Zermatt bestehen zu können, braucht es mehr als nur ein paar teure Hotelkästen und einen Golfplatz.

Es braucht vor allem eine schöne, das Auge betörende Umgebung wie im Oberengadin oder eine weltbekannte Bergspitze wie das Matterhorn.

Nichts dergleichen hier in Andermatt. Es gibt viele Felsen, hässliche Geröllhalden ringsherum, ein paar Bergspitzen, eine sattgrüne Ebene mit dem Fluss, und natürlich das Skigebiet am Gemsstock (das nun bis nach Sedrun erweitert werden soll).

Und das Tüpfelchen auf dem i – eine amerikanische Investmentfirma, die in den USA erfolgreich mehrere Luxusressorts betreibt, hat sich die Lizenz für den Betrieb des Skigebiets erworben. Eine Firma, die bisher ausschliesslich auf dem amerikanischen Markt Luxusresorts betreibt. Und nun sollen die Preise für eine Tageskarte an die entsprechenden US-Preise angepasst werden, d.h. über Fr. 200.- Pro Tag!

Kann das gut gehen? Ich bezweifle es. Schweizer Skifahrer sind Tagesausflügler. Sie reisen an den Ort, fahren einen Tag Ski und reisen wieder ab. Sie benötigen keinen Full-Service (den ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann) und bezahlen garantiert keine Fr. 200.-

Aber mal sehen. Für die Touristen am Ort, mehrheitlich ausländischer Provenienz, sind diese Preise möglicherweise völlig in Ordnung. Wir werden also vielleicht eine Triage erleben. Hier Ausländer, hier Schweizer.

Nur schon der Gedanke ist beunruhigend.

 

Old town in Andermatt  Old beautiful houses in Andermatt

Dabei behält der alte Ortskern seinen Charme, auch wenn die fremden Einflüsse zunehmen. Sie werden es nicht schaffen, die natürliche Ausstrahlung des alten Andermatt zu zerstören.

Oder doch?

Anyway, ausgerechnet hier verbringe ich meinen einzigen Ruhetag. Ich hätte mir etwas Besseres gewünscht.

 

Passender Song:  The Eagles – Seven Bridges Road

Und hier geht der Trail weiter … über den Gotthard

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Dem Gotthard entgegen

Erwachen mit David Bowie

Der Griff zum iPhone und der iTunes-Datenbank ist immer die erste Bewegung, noch bevor das System hochgefahren wird.

Die Random Auswahl ermöglicht jeden Morgen die Überraschung des Tages, heute eigentlich sehr willkommen mit David Bowie. Dieses Lied allerdings, aufgenommen kurz vor seinem Tod Anfangs 2016, ist nicht gerade das, was einen optimistischen Tagesanfang beflügelt.

David Bowie – Black Star

Es ist einer seiner besten, aber auch traurigsten Songs seines umfangreichen Katalogs an unvergesslichen Liedern. Ich habe mir das Video schon unzählige Male angesehen und falle jedesmal in eine Art Endzeitstimmung. Es ist voller Angst, handelt vom Ende, vom Tod, dunkel und voller Trauer.

Bowie sieht krank aus, am Ende seiner Kräfte, nahe am Tod. Aber die Musik ist überwältigend. Nur schon das Schlagzeug (offenbar hat er sich die Unterstützung junger Jazzmusiker geholt) lohnt genaueres Hinhören.

Jemand schrieb als Kommentar zum Video: If you ever feel sad, know that the earth is 4.35 billion years old, and you were born at a time to listen to David.

Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Das ist natürlich kein optimistischer Einstieg in diesen Tag, der wohl einer der anstrengensten der ganzen Tour werden wird. Aber mal sehen, ich bin ja nicht abergläubig.

Immerhin bringt mich der Touren-Guide auf bessere Gedanken:

Saumweg, Kantonsstrasse, Gotthardbahn, Autobahn, Neat-Baustelle… Spätestens in Erstfeld gleicht das Urnertal einem Durchgangskorridor. Silenen, Amsteg: symbolträchtige Orte am alten Saumweg. Gute Sicht auf die Hügelkirche von Wassen und die Kehrtunnels.

Meine Werte: Länge 24.87 km; Aufstieg | Abstieg 1300 m | 855 m; Wanderzeit 8 h 12 min

 

From Attinghausen to Wassen

 

Ein tückischer Fluss

Die ersten Kilometer sind die Zugabe von gestern. Eine Stunde und 40 Minuten bis Erstfeld, und dann erst fängt die eigentliche Etappe an. Immerhin folgt der Weg der Reuss, die sich heute in einigermassen ruhigem gemächlichem Zustand präsentiert. Man müsste blind sein, um nicht zu erkennen, dass der Fluss auch anders kann. Dass er das ganze Tal überfluten kann, wenn ihm danach ist.

So beispielsweise im Oktober 2020.

Solche Naturereignisse werden sich häufen, der Klimawandel lässt grüssen. Viele Leute haben immer noch nicht begriffen, dass gerade die Alpen in erhöhtem Mass betroffen sein werden. Es wird mehr gravierende Ereignisse geben, auf der anderen Seite wird sich durch das Verschwinden der Gletscher die Wasserversorgung entscheidend verändern.

Aber wie schon an anderer Stelle erwähnt – man macht weiter wie bisher, und falls endlich etwas passiert, dann viel zu langsam.

Die Menschheit schaufelt sich ihr eigenes Grab.

 

The Reuss river between Erstfeld and Amsteg

Überraschenderweise führt der Weg schon bald in einen dunklen Tunnel, eher unerwartet, aber nicht unerwünscht. Etwas Abwechslung tut immer gut, vor allem wenn sie das Auge von der immer gleichen Schönheit der Umgebung löst und man in die finsteren Werke des Menschen geführt wird.

Allerdings muss ich zugeben, dass dieses finstere Werk lediglich einen winzig kurzen Abschnitt unter der Erde durchführt. Grund dafür ist, dass der Weg durch einen steilen Abhang, der bis zum Fluss hinunterführt, blockiert wird.

 

Dark entrance into tunnel  In the underground

Eine andere Abwechslung – der Truckstop Gotthard, wo die Lastwagen gestoppt und überprüft werden, ob sie in technisch einwandfreiem Zustand sind (eine Panne oder noch Schlimmeres im Gotthard Autobahntunnel ist fatal, siehe 2001). Und ob sie nicht überladen sind (was offenbar nicht selten vorkommt) oder die Fahrer sich nicht an die Ruhezeiten gehalten haben (was erschreckenderweise noch häufiger vorkommt).

Alles Gründe, sich die Sache sehr genau anzusehen. Alle Trucks, die den Anforderungen nicht genügen, werden zurückgehalten. Manchmal wird der Fahrer gezwungen, Ruhepausen einzulegen, manchmal muss das Fahrzeug repariert werden, bevor es die Genehmigung zur Weiterfahrt erhält.

Man stelle sich vor, was passieren kann, wenn ein Lastwagen mit kaputten Bremsen im Gotthardtunnel ein Problem verursacht. Der Tunnel in der heutigen Form wird in einer einzigen Röhre geführt (eine zweite ist im Moment im Bau), d.h. dass sich die Vehikel kreuzen. Ein kleiner Unfall führt zu katastrophalen Auswirkungen.

Man stellt sich das lieber nicht vor.

 

Truckstopp Gotthard - serching for possible problems

 

Planes, Trains & Automobiles

Planes ist etwas übertrieben, obwohl die gelegentlichen weissen Schlieren am Himmel von oberirdischer Aktivität zeugen.

Aber der Titel gefällt mir, denn er erinnert an eine Filmkomödie gleichen Namens von 1987 mit Steve Martin und John Candy. Unbedingt ansehen, sehr lustig (vor allem, als ihr Auto in Brand gerät), zeigt gegen Ende jedoch auf eine tragische Geschichte hin, die auf gut amerikanische Weise positiv aufgelöst wird.

Was hingegen nicht übertrieben ist, ist die unüberhörbare Präsenz von Zügen und Autos.

Durch dieses enge Tal bewegt sich der gesamte europäische Nord-Süd Verkehr. Jedes Jahr überqueren einige hunderttausend Lastwagen den Gotthard, von den PWs ganz zu schweigen. Obwohl die sogenannte Alpeninitiative eigentlich die Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Schiene bezweckte, hat sich an der Zahl nicht viel verändert.

Ausserdem bewirkt das Nadelöhr des Tunnels, dass sich an bestimmten Feiertagen (Ostern, Pfingsten) oder bei Ferienbeginn der Verkehr über viele Kilometer staut und den Autofahrern eine Wartezeit von manchmal über zwei Stunden auferlegt.

Wie auch immer, je enger das Tal wird, desto mehr streiten sich die Verkehrswege um den begrenzten Raum.

Da ist einerseits die Autobahn, die das Tal in zahlreichen Kehren über unzählige Brücken durchquert. Da ist die Bahn, die alte Strecke, die erst nach Wassen in den Tunnel fährt. Da ist die normale Strasse für den Verkehr abseits der Autobahn.

Und last but not least gibt es einen Wanderweg, der sich irgendwo auf dem Weg Richtung Süden durchzwängt. Auf diesem Weg befinde ich mich.

 

Die Gotthardbahn

Ein Wort zur Zugverbindung: der alte Eisenbahntunnel (siehe Bild) war ja das Ergebnis einer Jahrhundertleistung in Sachen Tunnelbau.

Der über 140 Jahre alte Gotthardtunnel wurde als Scheiteltunnel unter den Gipfeln des Gotthardmassivs in Nord-Süd-Richtung gebaut. Er war das zentrale Bauwerk der Gotthardbahn in der Schweiz. Der 15’003 Meter lange Eisenbahntunnel besteht aus einer einzelnen, doppelgleisig ausgebauten Tunnelröhre zwischen den Ortschaften Göschenen im Kanton Uri und Airolo im Kanton Tessin. Der Tunnel wurde um 1880 auf einer Höhe von 1150 Metern über dem Meer gebohrt und gesprengt. Die Zufahrtsrampen schlängeln sich durch das Reusstal und das Tal des Ticino bis auf diese Höhe. Der Tunnel wird im Mittel von etwa 1100 Metern Gebirge überdeckt. (Wikipedia)

Das ist Vergangenheit. Seit der Eröffnung des Gotthard Basistunnels im Jahre 2016 ist die alte Bahnstrecke zum Touristenerlebnis degradiert worden. Sie fährt zwar noch in periodischen Abständen, doch ihre Zukunft ist ungewiss. Offenbar gibt es Überlegungen, die alte Gotthardbahn ins UNESCO Kulturerbe aufzunehmen, andere noch in Arbeit befindliche Studien gehen in Richtung einer Reaktivierung als Verkehrsaches für den Gütertransport. Grund: die viel langsamer verkehrenden Güterzüge im Basistunnel verlangsamen den Personenverkehr massiv.

Mal sehen. Aber wenn man die einst so stolze Bahn sieht, kommt Traurigkeit auf. Sie hat mehr verdient als ihr gegenwärtiges Schicksal.

 

One of the numerous viaducts  The train driving downwards

Roads and trains searching for space  Train towards the Gotthard

 

Nun beginnt der Aufstieg

In Amsteg, dem letzten Dorf, bevor die Steigung in Richtung Gotthard beginnt, trinke ich zwecks mentaler Vorbereitung auf die kommenden Anstrengungen friedlich einen Kaffee und nasche einen Mandelgipfel. Das Dorf scheint ausgestorben, nur ein vereinzeltes Auto hat sich ins Dorf verirrt und fährt im Schneckentempo an mir vorbei.

Der Himmel bzw. das Wetter vollzieht die üblichen Kapriolen. In einem Moment strahlt der Himmel in tiefstem Blau, lediglich geschmückt durch ein paar niedliche Wolken. Im nächsten Augenblick überzieht er sich mit finsterem Gewölk, die Sonne verschwindet, wird zum Rückzug gezwungen.

 

One moment a bright blue sky ...  ... the next moment dark clouds hiding the sun

Jetzt beginnt der mühsamere Teil der heutigen Etappe. Der Fluss bleibt unter mir zurück, nun erkennt man seine eigentliche Natur als wilden Bergbach. Man muss es gesehen haben, um zu glauben, zu welchen wütenden Monstern Bergbäche werden können.

Es braucht ein starkes Gewitter oder ein lang anhaltender Regen, um die Bäche in Minuten anschwellen zu lassen. Die Unkenntnis darüber hat schon den einen oder anderen Badenden erwischt.

Mit tödlichen Folgen.

 

The Reuss river shows its nature, wild and untamed  Water from the Glaciers high up

Das Tal wird nun richtig eng. Der Lärm der Autobahn mischt sich mit dem Gurgeln und Tosen des Bachs, manchmal ergänzt durch das Sausen des irgendwo versteckt vorübereilenden Zugs. Der Geräuschpegel, ein permanenter Begleiter durch das Tal, wird lauter, eindringlicher.

Obwohl man sich mitten in der Natur wähnt, ist man umgeben von Zivilisation und deren Auswirkungen. Beton. Abgase. Lärm. Zerstörung.

 

Sometimes the path leads through strange surroundings  Bridges of concrete and bridges of wood

Strange contrasts, so many  Sometimes surreal feelings

Somehow threatening  Everything there: footpath, highway, river

Doch unversehens wird man an die Vergänglichkeit erinnert und sei es bloss durch eine verwitterte Sitzbank. Und plötzlich spürt man seine Muskeln und Sehnen, die Anstrengung, das Alter und damit – alles andere als erwünscht – die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit.

 

A very weather-beaten bench, just like myself

 

Und dann endlich – die berühmte Kirche von Wassen

Auch die längste Etappe kommt irgendwann an ihr Ende. Das heutige Ende wird schon von weitem angezeigt – das berühmte Kirchlein von Wassen. Es hat eine lange Geschichte.

Nach der Eröffnung der Gotthardbahn im Jahr 1882 wurde das Kirchlein von Wassen zu einem Wahrzeichen auf der Fahrt in den Süden. Wegen der Kehrtunnel sehen Zugreisende die Kirche dreimal von einer anderen Seite.

Also eine Touristenattraktion erster Ordnung. Heute (siehe oben) eine vergangene Sache.

 

The famous Church of Wassen

Für mich bedeutet es Durchatmen, ein Bier trinken, die Beine hochlagern, an nichts denken. Oder an alles …

 

Passender Song: Bob Marley – Concrete Jungle

Und morgen geht die Reise weiter … nach Andermatt

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Licht und Schatten

Schweb wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene!

Wer sich an Muhammed Ali erinnert, kennt diesen Spruch. Einer seiner vielen unvergesslichen Bonmots, die zu jeder Zeit und in den unmöglichsten Situationen zum eigenen Vorteil benützt werden können.

Ich bin ihm ewig dankbar, diesem Grossmaul. Er hat meine Jugend begleitet, er hat mich genervt, begeistert, zum Zwerg degradiert. Lang sollst du leben, du bester Boxer aller Zeiten!

Warum ich auf Ali zurückgreife an diesem Morgen?

Keine Ahnung. Aufwachen und sich an etwas erinnern, was den Tag zur Freude macht, ist immer gut. Und an einem Tag, der soviel Anstrengung bedeutet, umso mehr!

 

Seelisberg City

Eigentlich würde es mir hier gut gefallen. Das D0rf hat seinen Charakter erhalten können. Es gibt nicht viel, aber das wenige ist mehr, als man erwarten könnte.

Der Travel Guide ist derselben Meinung:

Seelisberg ist ein kleiner Ferienort mit herrlicher Aussicht auf den Vierwaldstättersee. Zur Gemeinde gehört auch das Rütli. Das Dorf ist mit dem Postauto erreichbar oder der nostalgischen Standseilbahn vom Uferort Treib aus (mit Schiffstation und Badestrand).

Aber eben, das Urnerland lockt, der lange Weg dem Reusstal entlang, heute der erste Abschnitt bis Attinghausen (im eigentlichen Etappenort Erstfeld war kein Hotel zu finden).

Diese Etappe folgt bis hinunter nach Seedorf dem Weg der Schweiz, der vom Rütli herkommend über Flüelen nach Brunnen führt. Im Abstieg nach Bauen überblickt man die ganze Route und das Rütli. Am Wegrand interessante Schlösschen und Herrschaftshäuser.

Für einmal dürften heute meine jämmerlichen Zeitüberschreitungen gegenüber dem Plan in Grenzen bleiben. Allerdings wird das, was heute eingespart wird, morgen zum eh schon anstrengenden Teil hinzugefügt. Ach Gott, wie schön ist doch das Wandern.

 

From Seelisberg to Attinghausen

 

Die glücklichen Beine

Seltsamerweise fühle ich mich nach der gestrigen Etappe so frisch wie schon lange nicht mehr. Schon die ersten paar Meter spüre ich meine Beine, die sich für einmal richtig glücklich anfühlen. Der Grund dafür ist mir wie in den meisten solchen Fällen unklar, aber egal. Hauptsache ist, dass ausgerechnet vor den anstrengensten Etappen mein Körper nahezu am Optimum zu sein scheint.

Anyway, es geht kurz nach dem Start in einen sommerlich duftenden Wald hinein, rechts irgendwo die Strasse, links der Abgrund zum See hinunter. Irgendwo da unten befindet sich das Rütli, das sogenannte Herz der Schweiz.

Nun, wie jeder andere Schüler eines gewissen Alters wird man per Schulausflug an diesen Ort gebracht. Der Lehrer hält eine Rede, die den Zusammenhalt und die Geschichte unseres Landes beschwört, während wir Schüler uns entweder langweilen oder uns gegenseitig auf die Füsse treten.

Na ja, Tempi passati. Gottseidank.

 

Deep down - the Urnersee Just rocks and water

 

Spiel mit Licht und Schatten

Manchmal muss man sich selbst davon abhalten, sich in die Etappe zu stürzen.

Es geht nicht um Geschwindigkeit oder Leistung, es geht ausschliesslich um Genuss. Das Wetter ist zwar heute wieder mal ein unzuverlässiger Zeitgenosse, Wolken ziehen immer wieder vorbei, als müssten sie ihre Wichtigkeit zeigen. Im Wald ist nichts davon zu spüren, ich wandere durch Licht und Schatten.

Denn das ist es wieder mal. Der Wald, der See, die Wolken, die Gerüche, die Dörfer am anderen Ufer des Urnersees. Und ich, ganz allein. So wie es sein muss.

Die gelegentlichen Abschnitte auf den Teerstrassen sind zwar mühsam, aber erklärbar. Der steile Abgrund verunmöglicht manchmal den Wanderweg. Immerhin komme ich damit in den Genuss der Kletterkünste von ein paar Ziegen, die sich auf der Felswand oberhalb der Strasse auf die nicht ungefährliche Suche nach etwas Essbarem machen.

Seid vorsichtig, meine Lieben.

 

Goats searching for food

 

Schlaf im Stroh

Man lernt nie aus.

Im Verlauf meiner Reisen und Wanderungen müsste ich eigentlich jede Art Übernachtung kennengelernt haben. Ich erinnere mich an allerhand unbequeme, eiskalte, stinkende Unterkünfte, die man sich nur antut, wenn es nichts anderes gibt.

Die Unterkunft am Wegrand, euphemistisch als „Schlafen im Stroh“ bezeichnet, stellt tatsächlich etwas Neues dar. Es gibt also eine Art Holzverschlag (leicht brüchig), gefüllt mit Stroh, darauf liebevoll zugedeckt ein Teddybär, einen Nachttisch in Form einer hässlichen Kiste, mit Dach (immerhin), drei Wände rund herum, fertig ist das Hotel.

Ich stehe etwas ratlos davor, und erst nach langem Nachdenken und dem Check auf www.stroh-traum.ch wird mir klar, dass es sich (wahrscheinlich?) um einen Scherz bzw. um eine leicht schräge PR-Aktion handelt. Mal etwas anderes, das auf jeden Fall …

 

Sleeping in straw - a bizarre opportunity to spend the night

 

Steil nach unten

Dann hat das gemütliche Wandern ein plötzliches Ende, denn unvermittelt neigt der Weg sich nach unten, er entwickelt sich – soviel wird bald klar – als ungemütlich für die bisher so glücklichen Beine. Und so erhalte ich eine Lehrstunde in Topographie und den lästigen Launen der Natur, die wieder mal nichts Besseres weiss, als mir die Freude am Wandern zu vermiesen.

Immerhin ist das Dorf am See – es handelt sich um Bauen – mit allem Sehenswerten ausgestattet, was ein richtiges Dorf zu bieten hat. Eine Kirche (wir befinden uns wie erwähnt in der schwarzkatholischen Innerschweiz) mit stolzem Turm, gepflasterten Gassen und einem Dorfbrunnen wie in alten Zeiten.

Und natürlich mit einem stattlichen Hafen mit jeder Menge Booten. Das Wetter hat in der Zwischenzeit nämlich den Sonntagsanzug übergezogen und verführt ganze Heerscharen zu Ausflügen auf dem See.

Eines ist allerdings etwas nervig: das einzige Gasthaus ist voll besetzt und zwar mit lauter Gästen, die garantiert nicht zu Fuss unterwegs sind. Also muss ich zähneknirschend auf den Kaffee verzichten, werfe den im Gartenrestaurant sitzenden Gästen zumindest einen grimmigen Blick zu.

 

The Urnersee - coming close And suddenly a village at the lake

A Village with everything And of cousre with a church

 

Dem See entlang

Es ist wieder mal eine dieser Etappen, wo man sich nicht sattsehen kann an der Schönheit der Umgebung. Das erinnert mich doch gleich an eine Rede, die Robert Redford 2015 anlässlich der damaligen Klimakonferenz hielt. Ich habe mir das Wichtigste notiert. Hier ist es.

Das ist vielleicht unsere letzte Chance. Die Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt, aber andererseits kennt die menschliche Vorstellungskraft und unsere Fähigkeit, grosse Probleme zu lösen, keine Grenzen.

In diesen kurzen Sätzen stecken zwar Zweifel und Warnungen, aber auch Zuversicht und Mut. Ich habe Redford immer gemocht, aber nach diesem Vortrag hat er meine Bewunderung auf ganz andere Höhen geschraubt. Wir brauchen solche Menschen, die Wahrheiten aussprechen, ohne dabei mit dem Finger zu zeigen.

Mit diesen Gedanken folge ich den Gestaden, mal auf schmalen Wegen knapp dem Wasser entlang, dann wieder durch düstere Tunnels, wo man kaum etwas sieht, und einmal sogar eine ganze Weile durch einen Strassentunnel, der so ziemlich das Letzte ist, was man sich wünscht.

Der Urnersee liegt still und gibt vor, ganz und gar friedlich zu sein. Dabei hat er den Ruf, sich bei Föhnstürmen zu einem rasenden Ungeheuer zu entwickeln.

Hätte ich dem Kerl gar nicht zugetraut.

 

Tunnels, just for the hikers Again and again - through water and forest

You night a lighht to get through Just blue and wild (sometimes)

Mighty boat on the lake  Strange obelisk

And suddenly inside a massive tunnel In and out of darkness and light

The more you the more you get For once a peaceful lake (not always)

 

Die letzten Kilometer

Links liegt immer noch der See, immer noch friedlich und blau, doch sein Ende (oder sein Anfang) ist bereits in Sicht. Ich könnte hier sitzen bleiben, seine Schönheit bestaunen und mir einreden, dass es nirgends schöner ist als hier. Aber dieses Gefühl habe ich immer. Es sind schöne und wehmütige Gedanken zugleich, denn man ist sich jeden Moment bewusst, dass alles flüchtig ist.

Zeit also, die schweren Gedanken mit einem längst verdienten Kaffee (und einer ebenso verdienten Cremeschnitte) im Seerestaurant zu verscheuchen.

Ich habe das obere Ende des Sees erreicht, ich sitze sozusagen auf dem Delta der Reuss, die sich irgendwo in der Nähe in den See ergiesst. Natürlich nicht für immer, denn nach einem langen Ausflug durch den Vierwaldstättersee verlässt sie den See und fliesst weiter gegen Osten, wo sie irgendwo im Aargau ihre letzten Züge macht und sich mit Aare und Limmat vereint.

Der Wanderweg führt quer durch das Delta, bevor er endgültig den Fluss erreicht, einen schnurgeraden Kanal, der mich in Richtung des Tagesziels in Attinghausen führt.  Meine Beine sind zwar immer noch im Schuss, aber doch massiv weniger glücklich als frühmorgens.

 

Poulet im Korb

Das Hotel Krone in Attinghausen bietet alles, was ich mir vorstelle, allerdings kein Restaurant. Also lasse ich mich von der Wirtin überreden, in der Burg zu essen oder besser gesagt, im Burghotel oder noch besser in der Pouletburg.

Die Burg macht schon von weitem einen eher ungewöhnlichen Eindruck. Sieht gar nicht nach diesem kleinen verschlafenen Dorf aus, eher als ob man einen Fremdkörper mitten hinein versetzt hätte.

Nun gut, Hauptsache es gibt was zu futtern.

In Unkenntnis über diese besonderen kulinarischen Angebote setze ich mich im ziemlich überdimensionierten Esssal an einen Tisch und checke die Menükarte, die ausser Poulet im Korb tatsächlich nicht viel anderes zu bieten hat.

Und so esse ich halt das gleiche wie alle die zahlreichen Gäste, die gemäss der Bedienung von weit her kommen (aus der ganzen Welt, Donnerwetter!), um die Spezialität des Hauses zu geniessen.

Nun gut, das Huhn ist okay, die Frites so, wie sie sein sollten, mehr nicht. Und bezahlen muss man bar, ja wo sind wir denn hier gelandet? Keine Kreditkarten trotz Gästen aus aller Welt?

 

Passender Song:  McGee Brothers – C-h-i-c-k-e-n Spells Chicken

Und hier geht der Trail weiter … ziemlich anstrengend das Reusstal hinauf dem Gotthard entgegen

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Erinnerungen an die Vergangenheit

„Bewegung ist eine elementare Form des Denkens“, so meinte der Genfer Entwicklungspsychologe Jean Piaget.

Ich weiss zwar nicht, ob diese These richtig ist, meine Denkprozesse sind doch eher auf das Nächstliegende fokussiert. Oder ist es gerade das, was gemeint ist? Das Gehirn ist ja eine Assoziationsmaschine, verbindet Elemente, speichert sie, erkennt Muster.

Das ist eine ungeheure Leistung der Evolution, vielleicht sogar die wichtigste.

Aber vielleicht hat er etwas anderes gemeint, nämlich dass man in Bewegung sehr viel Zeit hat und dabei auf Gedanken kommt, die sich normalerweise sofort verflüchtigen, sobald sie zum Vorschein drängen. Man entdeckt unversehens Zusammenhänge, und daraus ergeben sich gelegentlich Eingeständnisse von allerhand Vergessenem oder Verdrängtem.

Nun gut, das Gehen und Denken geht weiter, hoffentlich zu neuen Erkenntnissen. Und Eingeständnissen.

Eine Seepromenade entlang des Vierwaldstättersees führt von Beckenried in die imposante Risletenschlucht, wo sich uralte Dinosaurierspuren befinden. Nach steilem Aufstieg romantischer Höhenpfad Richtung Seelisberg. Tief unten schimmert der grünblaue See.

 

From Stans to Seelisberg

 

Der See, ganz blau

Das Wirteehepaar winkt mir doch tatsächlich hinterher, offenbar habe ich einen positiven Eindruck hinterlassen.

Das muss ich mir merken.

Der Weg führt sogleich ins Grüne hinaus, aufwärts, abwärts, an Bauernhöfen und Kühen vorbei, der Himmel ist blau, die Beine ausgeruht, der Geist befreit von allem Abfall, der sich ansammelt und auf seine Entsorgung wartet. Heute ist einer dieser Tage, so hoffe ich zumindest.

Nach Buochs, nichts Besonderes, aber immerhin bereits am Vierwaldstättersee gelegen, gibt es nur noch mich, den blauen See und blöderweise eine Strasse, die parallel führt und der ich heute offenbar nicht entgehen kann.

Ein letzter Blick zurück, das Stanserhorn gleicht wieder mal einem eben ausgebrochenen Vulkan, aber es sind nur Wolken, die sich für heute eine besonders ausgefallene Form überlegt haben. Es scheint, dass man sich in dieser Gegend bemüht, den Touristen etwas zu bieten, und wenn es nur ein paar wunderliche Wolken über einem Berggipfel sind.

 

It's just a montain and not a volcano

Wie gesagt, nur noch der See, geschmückt von niedrigen Hügeln mit ein paar verstreuten Häusern oder Dörfern, begleitet mich auf langen Wegen, heute nun gegen Osten führend. Ab Morgen wechselt die Richtung ein letztes Mal, dann geht es definitiv nur noch dem Süden, dem Ziel, entgegen. Das scheint aber immer noch sehr weit entfernt zu sein.

Gemäss einer japanischen Weisheit ist man am glücklichsten an Orten, wo man noch nie gewesen ist bzw. um es korrekt zu übersetzen, an Orten, von deren Existenz man nichts geahnt hat. Auch wenn dies heute nicht zutrifft, so fühle ich mich genau hier und genau jetzt am glücklichsten, warum weiss ich auch nicht genau.

Auch wenn es wie eine Wiederholung des ewig Gleichen aussieht, es wäre schlimmstenfalls die Wiederholung von etwas, was immer wieder neu erlebt werden kann.

Vielleicht ist es die süsse Luft, die ein kleiner Wind um die Nase zelebriert. Oder der Geruch von Wasser oder Bäumen und Gras. Und natürlich von Auspuffgasen, die sozusagen das Bild vervollständigen.

Und so wandere ich, einen Schritt nach dem anderen, mal setze ich mich auf einer der sehr willkommenen Bänke, oder lasse mich ablenken durch unerwartete Kunstwerke am Ufer, die darauf schliessen lassen, dass man der Kunst in Kombination mit der Natur ihren Platz geben will.

 

The lake, the trees and me Sometimes a welcome bench, that's all it takes

Offenbar hat die moderne Art, sich auf dem Wasser fortbewegen, das Stand-up Paddling, auch die Innerschweiz erreicht. Es sieht irgendwie gleichzeitig unnatürlich und elegant aus. Das würde ich ausprobieren, wenn meine Wasserphobie nicht derart ausgeprägt wäre.

 

Paddle boarding on the Lake Lucerne

 

Lange her – Saurier unterwegs

Irgendwann ist die Plage mit den vorbeifahrenden Autos vorbei, der Weg mündet endlich wieder in einen normalen Pfad, allerdings immer noch dem See entlang. Es geht Risleten entgegen, wo nicht nur ein Steinbruch wartet, sondern ein Steinbruch mit Saurierspuren.

Es ist seltsam, wie sehr die Erinnerungen an die vor 60 Millionen Jahren ausgestorbenen Saurier die Phantasie beflügeln.

Kaum haben Kinder ein Alter erreicht, das ihrem Gehirn neue Möglichkeiten eröffnet, wird der Teddybär zur Seite gelegt, jetzt übernehmen der furchteinflössende Tyrannosaurus Rex, der Triceratops mit seinen mächtigen Hörnern,  der Brontosaurus, einer der grössten, und natürlich die Velociraptoren, meine besonderen Lieblinge. Ist es die Grösse, das Aussehen oder schlicht die beruhigende Erkenntnis, dass diese alptraumhaften Wesen nicht mehr existieren?

Wie auch immer, es braucht etwas Geduld und gute Augen, um an der steilen Wand tatsächlich ein paar tiefe Eindrücke zu erkennen.

Der Phantasiemechanismus beginnt zu drehen, man versucht sich das Bild vorzustellen. Wie eines dieser mächtigen Tiere hier vor Millionen Jahren durchgewatschelt ist, natürlich noch auf ebenem Boden, die Faltung des Gebirges fand erst später statt.

Vielleicht zusammen in einer Gruppe, mit jungen Sauriern, nur kleiner, aber genauso furchteinflössend. Man stellt sich das Röhren vor, von dem niemand weiss, wie es sich angehört hat, aber durch Stephen Spielberg in Jurassic Park auf eindrückliche Art entwickelt wurde.

 

there are traces of dinosaurs at this quarry And there they are, just visible

 

Die Risletenschlucht

Offenbar stellt der Choltalbach von Emmetten hinunter zum Vierwaldstättersee den letzten unverbauten Wildbach dar. Er hat sich im Verlauf der Jahrtausende in den Felsen eingegraben und dabei die Risletenschlucht geformt.

Komischerweise hat dieser Wasserfall, imponierend in seiner Wildheit und seinem Tosen, keinen Namen, was für diese Gegend doch eher unüblich ist. Natürlich ist er nur ein winziger Bruder der Iguaçu Wasserfälle in Südamerika, aber er bemüht sich redlich, ein möglichst imponierendes Gehabe an den Tag zu legen.

Er röhrt und tost und gurgelt, hinterlässt auf dem kleinen Teich an seinem Fuss schäumende Wellen. Man möchte trotz seinem verhältnismässig geringen Ausmass nicht in seine Nähe kommen, geschweige denn ein Bad im Teich nehmen.

 

Risleten Gorge 1 Risleten Gorge 2

 

Der steile Berg

Eigentlich ist es ja nur ein Hügelchen, das zu bezwingen ist, will man auf die Höhe von Seelisberg, dem Tagesziel gelangen will. Allerdings ist der Aufstieg mühsam, steil und kräfteraubend. Immerhin erlauben die erzwungenen Pausen, um Luft zu holen, grandiose Ausblicke auf die Umgebung.

In der Ferne grüssen die beiden Mythen, stolz erhobenen Hauptes natürlich, dafür setzen umgeknickte, ehemals prächtige Bäume einen Kontrapunkt in ihrem bemitleidenswerten letzten Zustand. Aber eben, man keucht und schwitzt und flucht wieder mal, obwohl man sich das alles ja selbst ausgesucht hat.

 

Last remnant of a once proud tree The proud Mythen greet from afar

The Lake Lucerne from above, still magnificent And this is the damned ascent with a lot of puffing and swearing

 

Eine planerische Dummheit

Manchmal glaubt man, ziellos unterwegs zu sein.

Das geschieht immer dann, wenn der Weg endlos erscheint, wenn sich eine Kurve, ein Anstieg an den anderen legt, wenn der verzweifelte Blick nach oben keine Helligkeit sieht, die auf das Erreichen des Gipfels oder der Anhöhe deutet. Aber immerhin gibt es da und dort einen Platz, wo man eine willkommene Pause einlegen kann, so wie auf diesem vermaledeiten Aufstieg.

Man kommt ins Gespräch mit anderen Leidensgenossen, man erzählt sich Anekdoten ähnlicher Geschehnisse, man lacht und schwatzt und erholt sich dabei wunderbar.

Das gehört auch dazu. Und macht alles ein bisschen einfacher.

Anyway, irgendwann erreiche ich die erzwungene Höhe, der Weg führt eine ganze Weile dem Hang entlang, bis die Bäume weichen und man sich unversehens auf einer ungewöhnlich breiten Asphaltstrasse findet. Die Stirn runzelt sich von selbst, es sieht irgendwie surreal aus, etwas was nicht hierher gehört, nicht in diesen Ausmassen. Erst im Hotel wird mir erzählt, was es damit auf sich hält.

Ich zitiere aus einem der damaligen Artikel:

«Weit grösser und erwünschter ist die Zahl derjenigen, die die neue Straße befahren werden, um die einzigartige See- und Berglandschaft zu erleben. Und da böte die über Seelisberg ziehende Straße geradezu eine Offenbarung.

Der Ausblick von der Höhe von Beroldingen auf den in der Tiefe liegenden Urnersee und die Schneeberge, die ihn abschließen, würde bald zu einem der berühmtesten der ganzen Schweiz. Und dann ermöglichte die Straße die lang vermißte Rundfahrt um den Vierwaldstättersee, die wohl auch für den Schweizer zu einer der schönsten Ferien- und Sonntagsfreuden würde.»

Die spätere Entwicklung sollte diese Ansicht eines Besseren belehren: 1980 eröffnete man den Seelisbergtunnel, der damals mit seinen gut 9 Kilometern Länge der weltweit längste doppelröhrige Strassentunnel war und von Rüttenen bei Beckenried bis nach Seedorf im Kanton Uri unter dem Seelisberger Bergmassiv durchführt.

Das Lustige (aber ziemlich Kostspielige) dabei ist, dass tatsächlich bereits ein Abschnitt der geplanten Strasse gebaut wurde, nämlich genau der Streckenteil, auf dem ich mich nun gegen Seelisberg bewege. Ein, zwei Traktoren kreuzen mich, sie sind wahrscheinlich die einzigen Vehikel, die auf dieser Strasse verkehren.

Na ja, Träume sind Schäume, und falsche Planungen basieren auf falschen Annahmen.

 

Und ein wirklich grandioser Abschied

Seelisberg empfängt mich erfreut, vielleicht auch nicht, denn weit und breit ist keine menschliche Seele zu sehen. Im Gartenrestaurant des Hotels Montana sitzen allerdings ein paar Gäste, die mir verwunderte Blicke zuwerfen. Sehe ich tatsächlich so sonderbar aus?

Wie auch immer, nach dem Einchecken macht mich die Dame des Hauses darauf aufmerksam, dass in ein paar Minuten ein echter Genuss zelebriert wird, und das erst noch gratis. Es geht um den Sonnenuntergang.

Nun, da habe ich einige Erfahrungen, aus Laos oder Vietnam oder Burma, an eindrücklichen Sonnenuntergängen gibt es keinen Mangel.

Dieser von heute Abend stellt allerdings eine echte Alternative dar. Ich lasse die Bilder und die Videos für sich selbst sprechen.

 

Sunset over Lake Lucerne 1 Sunset over Lake Lucerne 2

Sunset over Lake Lucerne 3 Sunset over Lake Lucerne 4

Mit den letzten, wie immer melancholischen Gedanken, nachdem die orange Kugel endgültig hinter dem Horizont entglitten ist, verabschiede ich mich von einem wirklich denkwürdigen Tag, manchmal mühsam, manchmal zum Nachdenken anregend, manchmal rätselhaft, so wie unsere Existenz tagtäglich.

 

Passender Song: The Edgar Broughton Band – Evening over the Rooftops

Und hier geht der Trail weiter … endgültig dem Süden entgegen

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Merkwürdige Leute

Manchmal frage ich mich, was das für Menschen sind, die eine lange und anstrengende Weitwanderung unternehmen. Und erst noch ganz allein.

Ich bin ja einer davon, aber eigentlich weiss ich es trotzdem nicht. Alles, was mir einfällt ist die Tatsache, dass ich mich nie besser fühle, nie weniger Stress habe, mich nie besser dem zuwenden kann, was wirklich wichtig ist.

Aber ein bisschen merkwürdig ist es schon.

Aber was soll’s – man könnte Dümmeres machen.

Eine Etappe ganz auf der Seite des Stanserhorns, das man fast umrundet. In Stans befindet sich das Winkelried-Denkmal. Der Held spiesste sich in der Sempacher Schlacht von 1386 auf, um den Eidgenossen eine Bresche zu schlagen.

Länge 22 km; Aufstieg | Abstieg 1015 m | 1315 m; Wanderzeit 8 h 07 min (wie immer keine Ahnung, woher die Abweichungen stammen)

 

From Flüeli to Stans

Es gilt zuerst mal, in die Schlucht hinunter zu steigen, zur Kapelle und zur Klause, wo der Eremit lebte.

Ich würde gerne herausfinden, ob es stimmt, dass er einen Stein als Kopfkissen benutzte, aber wahrscheinlich entspricht dies einer Fabel. Aber als Narrativ würde man heute sagen, eine geniale Idee. Ob er sich das harte Kopfkissen als Strafe für den Verrat an seiner Familie ausgesucht hat, ist fraglich.

Wie dem auch sei, seine Klause scheint geschlossen zu sein, also bleibt die Kopfkissenmär im Dunkeln. Und dort soll sie auch bleiben.

 

Bruder Klaus Chappel and his hermitage A quite impressive interior

 

Merkwürdige Leute

Ich verlasse den frommen Ort und steige hangaufwärts der nicht vorhandenen Sonne entgegen. Der Aufstieg ist steil und nass, die nächtlichen Regenfälle haben ihre Spuren hinterlassen.

Ist es unangemessen zu behaupten, dass auf der Via Jacobi ein paar sehr merkwürdige Leute unterwegs sind? Nicht nur Weitwanderer, sondern vor allem Pilger aus aller Herren Länder, die sich hier in Gruppen oder einzeln aufhalten.

Nichts gegen diese Leute, sie sind auf der Suche, nach Gott oder was auch immer, und das ist ja nicht per se schlecht. Aber ein bisschen seltsam sind sie schon. Eine Dame, ihrer Sprache nach aus unserem nördlichen Nachbarland, kreuzt meinen Weg, wir kommen ins Gespräch.

Sie schwärmt von der Gegend, vom Wallfahrtsort Flüeli-Ranft, von Bruder Klaus. „Sein Ruf hat mich erreicht, ich kann es spüren.“ Dabei gleitet ein derart ergriffenes Lächeln über ihr Gesicht, dass ich ihr glauben muss.

Sogar der alte Zyniker kann nicht anders als zustimmend nicken.

Merkwürdig? Zumindest ein bisschen …

 

If the Rain comes …

Ich bin kaum zwei Stunden unterwegs, als klar wird, dass mich das Wetterglück verlassen hat.

Eigentlich ist es egal, ich werde mich ohne mit der Wimper zu zucken auch der schlimmsten Wetterattacke stellen. Aber warten wir mal ab, ich stehe auf jeden Fall bereit.

Es beginnt schon ziemlich dramatisch. Mit Wolkentürmen, die sich auf bedrohliche Art über den Bergspitzen sammeln. Schwarz und grau, Farben aus der Hölle.

Und dann nimmt es seinen Lauf …

 

There is something looming over the mountains

It looks like the Iguaçu-Waterfalls

Als ob das Wetter ein für alle Mal zeigen wollte, zu was es fähig ist, nimmt es die Gestalt eines vom Himmel fallenden Sturzbaches an, es erinnert mich irgendwie an die Wasserfälle von Iguaçu in Brasilien, nur breiter, höher, dafür lautlos, zumindest im Moment noch.

Bei einer Kapelle klatschen die ersten schweren Tropfen auf die Strasse, es bleibt kaum Zeit, den Regenumhang überzuziehen. Dann marschiere ich tollkühn los, mitten in die Sturzbäche, bis mir der Regen das Wasser ins Gesicht und um die ungeschützten Beine weht, sodass ich schleunigst einen Unterstand suchen muss.

Ganze Bäche rinnen mir übers Gesicht, doch da, ein Haus im Bau, niemand zu sehen, eine offene Garage, genau das Richtige.

Und so verbringe ich die nächste halbe Stunde in der im Bau begriffenen Garage, während das Wetter tobt und den Regen in alle Himmelsrichtungen verteilt.

 

Wet path through wet forest ... and a wet path across wet meadows

 

Es geht feucht weiter

Irgendwann, nach gefühlten Stunden, lässt der Regen etwas nach, der ersehnte der Anstoss, um die blöde Garage zu verlassen.

Es ist nun alles ziemlich nass, auch die Bäume, die mich mit schweren Tropfen begiessen, oder der Pfad, der einem Sumpf gleicht. Und immer wieder bläst der Regen zum nächsten Angriff.  Manchmal bleibt nichts anderes mehr übrig, als mich in einen Hauseingang zu flüchten, bis das Schlimmste vorbei ist.

Aber ich komme vorwärts, wenn auch weniger frohgemut als normal, und das Tagesziel Stans kommt näher.

 

Stans, today's destination

Die ersten menschlichen Spuren rund um Stans gehen zurück ins 2. Jahrhundert vor Christus.

Der Stanser Dorfbrand zerstörte im Jahr 1713 zwei Drittel der Ortschaft. Die herrschaftlichen Barockhäuser, der Winkelried-Brunnen und das Rathaus verdankt Stans den einschneidenden Bauvorschriften, die anschliessend beschlossen wurden.

 

The Winkelried Fountain in Stans

Und nicht nur Stans wartet, sondern auch ein gemütliches Heim für eine Nacht, der Gasthof Schützenhaus in Oberwil, knapp ausserhalb von Stans, wo ich von einem ausgesprochen freundlichen Wirteehepaar begrüsst werde.

Mehr braucht es an diesem Tag nicht.

 

Passender Song:  AC/DC – Thunderstruck

Und hier geht der Trail weiter … nach Seelisberg

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Postkartenschweiz

Die alten Griechen hatten zwei Wörter für die Zeit: Chronos für die exakte gleichmässige Abfolge von gleichlangen Einheiten, während Kairos sich auf den günstigen Zeitpunkt bezieht, auf die Gunst der Stunde, das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, den richtigen Menschen begegnet zu sein (Danke Tagesanzeiger Magazin).

Zusammengefasst, Kairos misst die Bedeutung des Moments, nicht seine Dauer.

Es ist keine Überraschung, dass mir Kairos wesentlich näher liegt als Chronos. Jeder Schritt auf dem Trail hat seine eigene Bedeutung des Moments. Zu jedem Augenblick bin ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und manchmal, wenn auch selten, begegne ich den richtigen Menschen.

Mehr kann man nicht erwarten.

Und genau so soll es weitergehen, immer konzentriert auf die Gunst der Stunde.

Der Travelguide ist für einmal vollkommen meiner Meinung:

Vom Uferweg am Sarnersee steil hinauf zum Wallfahrtsort Flüeli-Ranft, wo der Eremit Niklaus von Flüe zurückgezogen in einer Schlucht als Gottesmann, Visionär, Mahner und Ratgeber wirkte. Das Geburtshaus gehört zu den ältesten Holzhäusern der Schweiz.

Schon beinahe ein Ruhetag, gar nicht schlecht nach den gestrigen Anstrengungen.

 

From Giswil to Fluehli

 

Postkartenschweiz

Die gestrige Etappe von über acht Stunden hat Spuren hinterlassen. Immerhin bin ich bereits über zwei Wochen unterwegs, kaum einmal weniger als 6 Stunden pro Tag, da kann sich schon mal so etwas wie mentale Müdigkeit einstellen.

Aber der heutige Tag scheint gewillt zu sein, meine Batterien wieder aufzuladen. Das Wetter ist ideal, nicht zu heiss, ein blauweiss gestreifter Himmel sorgt für das entsprechende Dekor.

Das wäre doch etwas für ein paar südkoreanische Stars, um die Attraktivität der Schweiz bekannt zu machen (man denke nur an „Crash Landing on you“, diese südkoreanische Erfolgsserie, die teilweise in der Schweiz gedreht wurde und zu einer derartigen Zunahme an Touristen führte, dass zusätzliche Postautokurse organisiert werden mussten).

Der Weg führt eine Weile der kleinen Melchaa entlang, einem kleinen sanften Flüsschen, umgeben von wilden Gebüschen und Bäumen, die sich alle paar Meter in den Weg hineinbeugen. Bevor er sich in den Sarnersee ergiesst, verabschiedet er sich von mir, ich folge dem Wanderweg einem Sumpfgebiet entlang, bis ich endlich den See erreiche.

 

Along the Melchaa, a small peaceful brook  Just before the Lake Sarnen a marshland

Wie soll ich sagen, ab hier fängt eine Postkartenschweiz an, beinahe ein Überfluss an Schönheit. Der See glänzt im zarten Licht des Morgens, umrandet von Hügeln und Wäldern und Bergen, am Ufer ein Dorf, verstreute Häuser, beinahe schüchtern.

Und über allem das Bühnenbild des Himmels. Schönheit macht schläfrig, es ist beinahe zuviel.

 

Lake Sarnen

Might be a painting, but it's real

Der Pfad ist zur Abwechslung einfach, da meistens auf ebenen Wegen dem See entlang.

Violette Blumen strecken ihre Köpfe durch den Maschendrahtzaun, grüssen den vorbeigehenden Wanderer, schön. Die Häuser am Ufer bleiben immer mal wieder zurück, machen Platz für sauber gemähte Wiesen, Bäume, die seltsamerweise nach Herbst riechen, Schilf im Uferwasser.

Man möchte den Schritt noch weiter verlangsamen, zu einem ewigen Wanderer werden, der nichts anderes mehr im Sinn hat, als die Schönheit der Welt zu feiern.

 

Flowers greeting the hiker Meadows, trees and water, that's all it takes

 

Schnelle Züge, langsame Paddler

Manchmal fährt ein Zug vorbei, blitzschnell, kaum Zeit, die Kamera zu zücken. Der Luftzug bläst um mein Gesicht, nur kurz, Dopplereffekt, man müsste Sheldon Cooper sein, um ihn realistisch zu imitieren.

Es gibt einige Schulfächer, die ich wegen fehlendem Talent und Interesse vernachlässigt habe, aber Physik steht auf dem ersten Platz. Immerhin kann ich mich an den Dopplereffekt erinnern, aber wie gesagt eher wegen Big Bang Theory.

 

Fst train appoaching and ... ... hurrying by

Der See liegt still im Licht, kaum eine Welle beunruhigt seine Oberfläche. Die Pflanzen (Algen? Seerosen?) auf dem See verleihen eine zusätzliche Farbkomponente, ein einzigartiges Biotop voller Leben. Eine Collage aus unbelebter und belebter Welt.

 

Water and lilys and mountains and sky Nothing missing

Aber dann wird die friedvolle Stille gestört, rhythmisches Paddeln kommt näher, zwei Boote, ein Mann, eine Frau, paddeln mit kräftigen Bewegungen ihrer Oberarme vorbei, man hört fast nichts, ein leises Keuchen, das Geräusch der Paddel, wenn sie ins Wasser gleiten und dem Boot Schub verleihen.

 

Maybe a race maybe just fun

 

Aufwärts zu den Frommen

Eine Gartenwirtschaft, vollbesetzt mit fröhlich schwatzenden Leuten, Kastanienbäume, die mit ausladenden Ästen Schatten spenden, ein Kaffee, ein bequemer Stuhl, das ist alles, was es braucht, um die Stimmung an diesem Morgen in weitere Höhen zu schrauben.

Ich sitze einfach da, für einmal ganz bei mir, was ich normalerweise so sehr vermisse. Alles stimmt, alles in Balance, man müsste diesen Moment einfrieren. Festhalten in alle Ewigkeit.

Aber der Augenblick verliert sich, die Zeit, die sich eben zu einem einzigen Moment verdichtet hat, erwacht zum Leben, es muss weitergehen, immer weiter, immer weiter …

Doch der Aufstieg belohnt mit einem Tunnel aus Bäumen und Sträuchern, man meint sich im Bauch eines Walfisches. Seltsame dünne Bäume zu beiden Seiten des Weges verdecken die Sicht auf die Sonne, eine eigenartige Gegend, irritierend und einladend zugleich.

 

Upwards to Flüli Lovely path beneath shady trees

 

Bruder Klaus – der Schweizer Schutzpatron

Wolkenpyramiden begrüssen mich bei der Ankunft in Flühli-Ranft, passt zu meinem Bild von diesem seltsam frommen Ort. Vielleicht erkennen sie meine Zweifel, meinen Mangel an Frömmigkeit.

Ein winziges Dorf, ein paar Häuser, Hotels natürlich, ein zentraler Platz mit Kiosk, der allerhand heiligen Krempel anbietet, mehr nicht.

Wäre da nicht eine Kapelle in einer nahen Schlucht, sie ist das eigentliche Zentrum dieses Ortes. Ohne Bruder Klaus ein vergessenes Kaff in den Bergen, eines wie zahllose andere.

Aber sehen wir mal, was es zu entdecken gibt. Mal ganz ohne Zynismus.

Flüeli-Ranft gehört zur Gemeinde Sachseln und liegt auf 728 m.ü M. Es ist die Heimat von Niklaus von Flüe, dem Eremit Bruder Klaus, der sich auch als Politiker, Mystiker und Visionär einen Namen machte. Im Weiler lebte er als Einsiedler zwischen 1467 und 87. Viele Pilger reisen noch heute hierher. Auf der Etappe bis kurz vor Stans werden den Wandernden auf Informationstafeln sein Werk und sein Leben nähergebracht.

 

Looming clouds greeting me Maybe they want to chase me away

Niklaus von Flüe, Nikolaus von der Flühe oder Bruder Klaus (* 1417 im Flüeli, Obwalden; † 21. März 1487 im Ranft ebenda) war ein einflussreicher Schweizer Einsiedler, Asket und Mystiker, zuvor Bergbauer, Politiker, Richter und Soldat. Er gilt als Schutzpatron der Schweiz und wurde 1947 heiliggesprochen. [Wiki]

Ein steiler Weg führt in eine Art Schlucht hinunter (eine Alternative steht den Rollstuhlfahrern zur Verfügung), wo die Kapelle und die ehemalige Klause des Eremiten stehen.

Es gäbe einiges zu sagen zu diesem seltsamen Heiligen, aber ich behalte mir meine Vorbehalte zurück, nur so viel:

Kaum vorzustellen, wie ein weisser alter Mann heute beurteilt würde, der seine Familie mit zehn Kindern verlässt, um sich anschliessend in eine Klause in einer schattigen Schlucht zurückzuziehen, um dort seine Existenz als Einsiedler zu verbringen.

Nun, vielleicht tue ich ihm unrecht, die riesige Anzahl Pilger, die sich jedes Jahr hier einfinden, ist auf jeden Fall anderer Meinung.

 

Die Pilger treffen ein

Anyway, das Hotel, in dem ich rechtzeitig vor dem einsetzenden Regen Unterschlupf finde, scheint recht leer zu sein. Der ältere Mann an der Rezeption begrüsst mich ohne Lächeln, ohne Höflichkeit, aber immerhin begleitet er mich zu meinem Zimmer.

Etwas später stellt sich der TV als nicht funktionierend heraus, der grimmige Blick des Rezeptionisten wird noch grimmiger. „Wahrscheinlich haben ein paar fromme Gäste das Stromkabel ausgezogen und auch das Wifi abgestellt. Sie könnten ja vielleicht Schaden davontragen“. Jetzt erst erkenne ich die ironische Seite des Mannes. „Die wollen alle 120 Jahre alt werden.“ Wir lachen beide, das Eis ist definitiv gebrochen.

Das Abendessen findet in einem grossen Speisesaal statt. In der Zwischenzeit sind die Pilger eingetroffen, viele aus Deutschland, wie man hören kann.

Ich fühle mich zwar nicht unwohl inmitten dieser frommen Leute, aber es scheint, dass ich der einzige ohne Pilgerambitionen bin. Man wirft mir ab und zu Blicke zu, nicht unangenehm, mehr in der Art, dass man sich fragt, wie jemand an einem solch heiligen Ort nicht sofort auf die Knie fällt.

Wie auch immer, die Umgebung, wahrscheinlich voller Nachtgebete, bereitet mir einen tiefen und ungestörten Schlaf. Na immerhin …

 

Passender Song:  Bon Jovi – Living on a Prayer

Und hier geht der Trail weiter … nach Stans

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die Lektüre der Natur

Genauer betrachtet – man hat ja unterwegs viel Zeit für philosophische Überlegungen – ist das Wandern eine höchst einfache Sache.

Es gibt dabei nichts Überflüssiges, nichts Kompliziertes. Man setzt einen Fuss vor den anderen, immer schön gerade aus oder auch Kurven und Steigungen entlang, bis man das Ziel erreicht. Und am nächsten Tag geht es auf die gleiche Weise weiter.

Das macht zumindest einen Teil seiner Faszination aus. Man muss es nicht üben (ausser man ist fünfzig Kilo zu schwer und benützt mit Vorliebe den Lift oder das Auto, dann sieht die Sache etwas anders aus), man kann einfach loslegen. Der Sonne nach, dem Schatten nach, dem eigenen Genuss nach.

Und das Schönste dabei – wenn man das Ziel erreicht hat, vielleicht müde oder erschöpft, vielleicht schmerzt jeder Muskel, dann wird man von einem Gefühl erfasst, das sich mit nichts vergleichen lässt. Man hat gesiegt, über sich selbst, über den Weg, die Berge, die Steigungen, einfach alles. Für eine kurze Zeit hat man die Überzeugung, alles schaffen zu können.

Aber warum nicht mal mit etwas Einfacherem beginnen? Zum Beispiel mit einer Fahrt mit der Luftseilbahn von der Rossweide nach Sörenberg hinunter?

Genau das tue ich.

Schliesslich beginnt die eigentliche Route erst in Sörenberg.

 

By cable car to Sörenberg 1 Cablecar to Sörenberg

 

Joel-Wicki-Hangover

Der Bäcker, bei dem ich in Sörenberg meine Vorräte ergänze, schaut mehr als derangiert aus.

Seine Augen sind klein und ein klein wenig gerötet. Auf meine Frage nach der gestrigen Feier zu Ehren des Schwingerkönigs Joel Wicki antwortet er mit einem leisen Seufzen. Es muss eine tüchtige Party gewesen sein, schliesslich geniesst man als kleines Bergdorf nicht jedes Jahr die Ehre eines Schwingerkönigs.

Und ja, nach dem Ausscheiden meines persönlichen Favoriten Samuel Giger war Joel Wicki meine zweite Wahl. Dieser Kerl besitzt derartige Kräfte, dass man sich nur wundern kann. Und ich bin immer noch überzeugt, dass beim letzten Schwingerfest zu seinen Ungunsten entschieden wurde. Mit seinem diesjährigen Sieg ist die Welt wieder zurechtgerückt.

Wicki misst 183 cm und bringt 110 kg auf die Waage. Er überzeugt im Sägemehl besonders mit seinem explosiven Kurzzug, ist jedoch vielseitig geworden. Er gewinnt auch mit Übersprung, Innerem Haken und mit starker Bodenarbeit. Zudem ist er sehr stark in der Verteidigung.

 

Celebration for the "Schwingerkönig" Joel Wicki

Nun, ich verlasse das Hangover Dorf und mache mich auf, die lange Etappe bis Giswil unter die Füsse zu nehmen.

Lohnende Tour über die Passhöhe Glaubenbielen mit tollen Ausblicken auf Sarnersee und Titlis-Gipfel. Ab und zu trifft man auf die Passstrasse, findet aber auch immer wieder ruhige Abschnitte bei Alpoglen oder dem Pörterwald.

Und meine Werte: Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 995 m | 1665 m; Wanderzeit 8 h 02 min

Da wundert man sich einmal mehr, welche Werte stimmen. Ich muss mal die GPS-Einstellungen meiner Pulsuhr unter die Lupe nehmen.

 

 

Eine Herde weisser Schafe

Je höher man steigt, desto dicker scheint die Nebeldecke zu werden, die zu Füssen der Schrattenfluh liegt. Sie wabert und keucht, Nebelfetzen galoppieren wie eine Herde weisser Schafe.

Da kommt mir doch gleich ein Abschnitt aus einem Roman in den Sinn, der eine ähnliche Situation beschreibt.

Der Nebel war überall. Durch die weiße Brandung schimmerte, wie ein runder kraftloser Klecks, die Sonne. Nur einige Felstürme leuchteten am Horizont, und in der Ferne ragte das Gebirgsmassiv empor, hell und wuchtig in der Morgensonne glänzend.

Von der Stadt war nichts zu erkennen; sie schien versunken zu sein, hatte vielleicht nie existiert, und das wäre wohl auch besser gewesen. Eine Bö zerzauste die weißen und grauen, sich unablässig bewegenden und zerfließenden Schwaden, trieb sie vor sich her wie eine Herde weißer Schafe.

Aus dem Nebel stachen, versunkenen Galeeren gleich, die Umrisse der obersten Häuser, und dazwischen, hell und spitz, der Kirchturm, daneben der Friedhof, der sich an die Kirchenmauern klammerte. [Ausschnitt aus „Eine Schlange in der Dunkelheit“]

 

Fog beneath the Schrattenfluh

 

Das seltsame kurze Leben der Kühe

Habe ich schon erwähnt, dass ich Kühe liebe?

Oh ja. Jedes Mal, wenn ich ihnen begegne, schwöre ich, kein einziges Mal mehr Fleisch zu essen (was natürlich ein aussichtsloser Schwur ist). Aber wenn man in diese wunderbaren Gesichter sieht, diese Hipsterfrisuren, dieses gutmütige Schauen, als ob es nichts Böses gäbe, dann ist man doch ergriffen und fragt sich zum tausendsten Mal, wie wir diesen wunderbaren Geschöpfen soviel Böses antun.

Sie leben ein kurzes (meistens), seltsames, einfaches Leben, sie fressen, wiederkäuen, scheissen, pissen, schlafen, bringen Kälber zur Welt, werden geschlachtet. Das ist alles.

 

Black cow Hipster Cow

 

Einfach nur Natur

Nach einer gewissen Zeit unterwegs lernt man automatisch, die  Natur zu lesen. Nicht gerade wie ein Bauer, der den kommenden Winter an vielerlei Anzeichen erkennen kann. Natürlich bin ich kein Muotataler Wetterschmöker, aber an gewissen Färbungen des Himmels kann auch ein Laie erkennen, dass etwas in der Luft liegt.

Manchmal scheint das Gras feuchter als am Tag zuvor zu sein, obwohl es nicht geregnet hat. Und sind diese Vögel, die sich über der Gruppe Fichten versammelt haben, nicht die ersten Vorzeichen des kommenden Herbstes? Wahrscheinlich bilde ich mir was ein.

Sei’s drum, auf jeden Fall hat sich das Bergpanorama rings um mich herum wieder mal in die Sonntagstracht gestürzt. Ich erwarte natürlich nicht weniger als das.

Herrlich ist die Aussicht auf das Brienzer Rothorn und die Schrattenfluh, eines der grössten zusammenhängenden Karrenfelder der Schweiz. Die rund 6 km lange Bergkette unterscheidet sich deutlich vom lieblichen Emmental und dem Napfgebiet. Die meist vegetationslosen Karren (Rinnen) des Schrattenkalks weisen zahlreiche, weit verzweigte Höhlen auf. Durch die lückige Oberfläche versickert das Wasser direkt in die Tiefen.

 

Awesome mountain panorama

Gibt es etwas Typischeres für unsere Gegend als ein paar Kühe, die unter einem blauweiss gestreiften Himmel grasen? Oder das Holzhäuschen, das doch tatsächlich für müde Wanderbeine installiert wurde, genau im richtigen Moment und am richtigen Ort? Ich bin begeistert und lasse mir den Spass nicht nehmen, mein Mittagessen in gebührender gedeckter Umgebung einzunehmen.

Es gibt diese Momente, die man nicht beschreiben kann. Dies ist einer davon. Man sitzt einfach da, ohne Gedanken, nur Wahrnehmung der Welt, die sich da in voller Pracht ausbreitet.

 

Cows beneath a blue sky

Just for the tired hiker - a roofed hut

Wenn es noch Beweise für die Schönheit der Schweizer Berge braucht, hier sind sie.

Unversehens taucht nämlich ein kleiner See auf, auf dem sich die Bergketten spiegeln, unweit davon eine Kapelle, die zum Gebet einlädt.

Warum es hier oben eine Kapelle gibt, ist schleierhaft, andererseits ist klar, dass wir nun in der katholischen Zentralschweiz gelandet sind. In ein paar Wochen wird hier dicker Schnee liegen, der See mit einer Eisschicht bedeckt sein. Man will es sich bei diesem warmen Wetter gar nicht vorstellen.

 

Lake with Chapel or vice versa

 

Das Wetter holt mich ein

In den Bergen kann sich das Wetter wie aus dem Nichts ändern. Das sollte sich jeder Wanderer, vor allem die Rookies, zu Herzen nehmen. Alles andere ist gefährlich. Genau das geschieht heute.

Ich habe nicht gewusst, dass es in der Schweiz Vulkane gibt. Offenbar doch, denn das, was sich da vor meinen Augen ausbreitet, muss der Verwandte des Eyjafjallajökull sein.

Oder sind es die ersten Vorboten der Wetteränderung, von der ich eben gesprochen habe?

Scheint so zu sein, denn innert Minuten bedeckt sich der Himmel, eine feuchte kalte Brühe lässt mich erschauern, die Sommergefühle verschwinden, da hilft nur noch eine warme Jacke.

Der Weg führt anfangs bergab, macht dann aber unversehens einen Schwenk, und nun geht es aufwärts, der Passhöhe entgegen. Oben angekommen, sucht das Auge nach Anhaltspunkten und findet keine.

Irgendwo Glockengebimmel, doch die dazugehörigen Kühe bleiben unsichtbar.

Das eben noch stolze Brienzer Rothorn hat sich verzogen, man weiss, dass es noch da ist, aber sicher ist man nicht. Eine Art Schrödinger’s Katze?

 

Trees in fog

 

Der letzte Abstieg – eine Zumutung

Giswil liegt im Tag, weit vorne blinkt der Sarnersee, es ist nicht mehr weit.

Nur noch diesen Abhang, diese Wiese, diesen Wald, dann lockt das Tagesziel, ein Bier zu diesem besonderen Tag, denn heute ist Halbzeit. Die Hälfte der Strecke geschafft, Hurra, dreifach.

 

Not far to today's destination

Path through the forest

Doch dann, ganz und gar unerwartet, beginnt der Weg wieder zu steigen. Ja Herrgott nochmal, das kann nicht sein. Doch auch die Karte zeigt keine Alternative, ausser man folgt der Asphaltstrasse.

Ziemlich grummelnd und fluchend ergebe ich mich dem Schicksal und keuche müde aufwärts. Nach einer halben Stunde, eine der längsten bisher, zeigt ein Wegweiser den Wald hinunter, na also. Das, was mich jedoch erwartet, ist alles andere als ein erholsamer letzter Abschnitt dieser Etappe.

Es ist die Hölle, eine einzige vermaledeite Zumutung. Nie habe ich die Planer derart verflucht.

Der Weg ist nicht nur sehr steil, er ist ausserdem glitschig, die Bohlen sind feucht und teilweise vermodert, Stahlstangen zur Sicherung der Stufen ragen gefährlich aus dem Boden. Ein falscher Schritt, ein Ausgleiten würde das Ende der Tour bedeuten. Man hätte keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, man würde ganz einfach den Weg hinunter stürzen.

 

strenuous descent to Giswil

Und der Weg scheint endlos.

Irgendwann jedoch, ich atme auf, ist das Schlimmste überstanden, der Pfad wird flacher, der Wald lichtet sich. Nur noch wenige Kilometer trennen mich vom Ziel, das Hotel Bahnhof in Giswil.

Dort erwartet mich ein erstklassiges Zimmer, ein ebenso opulentes Nachtessen und das ersehnte Bier, das ich zwar nicht wie letztes Jahr im Schein der untergehenden Sonne trinken kann, aber nichtsdestotrotz ein paar stolze Gefühle hervorzurufen vermag.

 

Passender Song:  Earl Scruggs and Friends – Foggy Mountain Breakdown

Und hier geht der Trail weiter … nach Flüehli-Ranft

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die Zerstörungskraft des Wassers

Manchmal wird man sich bewusst, welche Kräfte die Natur entwickeln kann.

Heute ist einer dieser Tage. Ganz überraschend ist es nicht. Aber immer wieder eine Erinnerung daran, wie schnell sich etwas Harmloses zu etwas Bedrohlichem entwickeln kann.

Aber alles fängt wie immer ganz wie erwartet an. Der Blick aus dem Fenster zeigt zwar nasse Strassen, triefende Bäume, kein Wunder nach dem gestrigen Gewitter, aber insgesamt ist eine angenehme Wanderung zu erwarten.

Auch der Travelguide ist guter Dinge:

Wildromantische Wanderroute durchs Tal der jungen Emme. Eindrücklich die Felswände von Hohgant und Schrattenflue, interessant das ehemalige Badehaus in Kemmeriboden-Bad. Die Feuchtbiotope nahe Sörenberg machten das Entlebuch zum Unesco-Biosphärenreservat.

 

 

Die Emme, ganz friedlich

Wie immer in den letzten Tagen folge ich der Emme, sie ist zu einem liebgewordenen Begleiter geworden. Kühe auf der tropfnassen Wiese grüssen mich wieder mal nicht, wie sollten sie auch. Es gibt nichts Langweiligeres als Wanderer.

Ich grüsse sie trotzdem mit einem leisen Muhen und gehe weiter, an wunderbar geschmückten Häusern vorbei. Doch heute noch verlasse ich den Kanton Bern, seit Laupen (so lange her) habe ich ziemlich viele Kilometer auf Berner Boden hinter mich gebracht. Es war schön, aber nun wartet die Innerschweiz. Mal sehen …

 

Cows on wet meadows Typical Bernese House

 

Die Emme, weniger friedlich

Es fängt eigentlich ganz harmlos an. Man bemerkt Holz, Steine, Sträucher an Orten, wo sie nichts zu suchen haben. Oberhalb des Bachbords, auf der Wiese, auf dem Weg, bis das Flussufer, knapp neben dem Pfad, plötzlich und unerwartet brüchig wird.

An einigen Stellen ist der Weg kaum mehr vorhanden. Etwas beängstigend. Man fragt sich, wie es gewesen wäre, hätte man ausgerechnet diesen Tag für die Wanderung erwischt. Böse Vorstellungen. Denn es sieht wahrlich schlimm aus. Man muss aufpassen, dass man nicht abrutscht.

Baumstämme, ineinander verkeilt, zerborsten wie Zündhölzer unter der Kraft des wütenden Wassers. Steine, Felsbrocken, nichts hält der Gewalt stand, mitgerissen als ob es nichts wäre. Ich bin überrascht, kann mich gar nicht erinnern, dass es hier eine Überschwemmung gegeben haben muss.

Es wird bereits emsig gearbeitet. Ein Bagger versucht in gefährlichem Gebiet, die Uferzone zu sichern. Ich beneide den Baggerfahrer nicht.

 

Thunderstorm in the Emmental

Some days after the flood

Trying to fix the river bank

Doch dann verzweigt der Weg in den Wald, dem Themenweg Beat Feuz entlang.

Der berühmte Skirennfahrer stammt ja aus dieser Gegend, ihm wird mittels Themenweg, der seine Karriere abbildet, die Referenz erwiesen.Der kleine Feuz, seiner rundlichen Figur wegen Kugelblitz genannt, hat uns schon viel Freude bereitet, das letzte Mal anlässlich der Olympischen Winterspiele in Peking, wo er Abfahrtsgold gewann.

Weiter so, Kugelblitz!

Nun ja, solange ein Land Sportler und nicht Kriegshelden oder Politiker oder andere überflüssige Personen bejubelt, darf es beneidet werden.

 

Der Kemmeriboden, zerstört

Das Kemmeriboden Bad steht ganz vorne auf meiner täglichen Liste möglicher Orte, wo man geruhsam einen Kaffeehalt einlegen kann. Ich bin also guter Dinge, als ich mich frohgemut dem Restaurant nähere, und merke erst beim Näherkommen, dass an diesem Tag der Kaffeegenuss wegfällt.

Der Kemmeriboden ist nämlich zerstört.

Ich verweise hier auf den Medienbericht, der sich ausführlich mit der Überschwemmung und der Zerstörung des beliebten Ausflugsziels befasst.

Ich zitiere:

Bereits 2014 tobten in der Gegend schwere Gewitter. «Vom Gesamtvolumen her war die Wucht des Hochwassers 2014 grösser. Dennoch ist das Ereignis lokal im Kemmeriboden nun viel schlimmer», sagte Georg Heim, Experte für Naturgefahren, an der Medienkonferenz weiter.

Am Tag nach dem Unwetter ist Reto Invernizzi, Wirt des Hotel-Restaurants Kemmeriboden-Bad, froh, dass keine Personen zu Schaden kommen sind. «Als die Flut kam, blieben uns vier Minuten, um 30 Gäste und Mitarbeitende im Obergeschoss in Sicherheit zu bringen», sagt er vor Ort gegenüber SRF.

Die Wassermassen haben das Gebäude und die Umgebung völlig verwüstet, die Schäden sind immens. Invernizzi und sein Team haben innert Minuten alles verloren: «Unser Zuhause, unser Daheim wurde Opfer der unbeschreiblichen Naturgewalten», so der Gastronom.

 

The Emme at the day of the flood Unbelievable destructiveness of the water

Spielplatz Kemmeriboden Inventar Schaden Landgasthof

Angesichts der Zerstörungskraft der Natur müsste man als kleiner Mensch demütig werden, wenigstens für eine Weile, doch dann vergisst man und glaubt wieder an den Mensch als Krone der Schöpfung.

 

Eine Gruppe fröhlicher Holländer

Ich verlasse den Ort der Verwüstung. Es wird allerdings bereits emsig gearbeitet, die schlimmsten Zerstörungen sind weggeräumt, es soll schon bald wieder aufwärts gehen. Dann wünsche ich der Wirtefamilie alles Gute für die weiteren Wochen und die Wiederaufstehung des Kemmeribodens.

Der Weg führt nun aufwärts, bye bye geliebte Emme, das war’s nun definitiv. Meine Zuneigung hat allerdings etwas gelitten, kein Wunder nach den eben gesehenen Bildern der Zerstörung.

Es ist kühl geworden, ein komischer Nebel zieht auf, gefällt mir ganz und gar nicht.

 

A cold mist disturbs the jolly walking

Das Geräusch von Stimmen und Lachen ist von weitem zu hören. Die dazugehörige Sprache ist leicht zu identifizieren. Wenn das keine Holländer sind, will ich Van Gogh heissen.

Und tatsächlich, sieben ältere Herren im besten Alter kommen mit flinken Schritten auf mich zu, Lachen im Gesicht, bevor wir uns begegnen. Man bleibt stehen, begrüsst sich, woher und wohin, auf englisch natürlich, der Lingua Franca des 21. Jahrhunderts.

Es handelt sich offensichtlich um wichtige Persönlichkeiten, sie erzählen von ihren Jobs in Genf  und ähnlichen Orten. Und heute will man etwas für die alten Knochen machen. Dann viel Spass.

 

Hikers from the Netherlands

 

Die UNESCO Biosphäre Entlebuch

Der weitere Weg lässt erkennen, dass ich nun in eine besondere Welt eingetreten bin. Auf den ersten Blick scheint alles wie immer, grüne Wiesen, sattes Gras, man muss genauer hinsehen, um das Besondere wahrzunehmen.

Es handelt sich hier um geschützte Moore, ein Teil der UNESCO Biosphäre Entlebuch. Tafeln am Wegrand erklären detailliert, welche besondere, ausgesprochen vielfältige Flora und Fauna auf diesem kleinstem Raum gedeiht.

 

UNESCO Biosphere Entlebuch 1 UNESCO Biosphere Entlebuch 2

Ich zitiere wieder mal aus Wikipedia:

Das Entlebuch ist seit 2001 neben dem Schweizer Nationalpark das zweite UNESCO-Biosphärenreservat der Schweiz, jedoch das einzige nach den Sevilla-Kriterien der UNESCO von 1995.

Es ist das erste Biosphärenreservat weltweit, das durch eine Volksabstimmung und unter partizipativer und kooperativer Mitwirkung der lokalen Bevölkerung begründet wurde. Seit 2008 ist die UBE zusätzlich Regionaler Naturpark von nationaler Bedeutung gemäss Pärkeverordnung der Schweiz.

Herausragende naturräumliche Charakteristiken des Entlebuchs sind die ausgiebigen Moore sowie die Karstlandschaft Schrattenflueh.

Mehr als 20 % aller intakten Hochmoore der Schweiz befinden sich im Perimeter der UBE, häufig sind sie in kurzer Distanz zu trockenen Lebensräumen, was zu einer ausgesprochen vielfältigen Flora und Fauna auf kleinstem Raum führt.

Insgesamt sind 135 Flach- und Hochmoore sowie vier Moorlandschaften von nationaler Bedeutung im Biosphärenreservat verzeichnet. Dazu kommen vier Auenlandschaften, einige Amphibienlaichgebiete und Trockenwiesen sowie drei Landschaften von nationaler Bedeutung.

Insgesamt sind mehr als 50 % der gesamten Fläche der UBE unter Schutz gestellt. Neben einigen Bergföhren- und Fichten-Hochmoorwäldern dominieren im Entlebuch Buchen-Tannen-, Tannen-Fichten- und Fichtenwälder.

 

Marbachegg, Seeli, Luzern-Vierwaldstaettersee, Herbst, Berg, Panorama, Naturpark/Reservat, Wiese, Schnee, Wald, Bergsee, Paar, Wandern, Morgenstimmung

 

Die Rossweid … und ein lukullisches 3-Gang-Menü

Der Rest ist schnell erzählt. Da Sörenberg, das eigentliche Etappenziel, keine Zimmer verfügbar hatte, werde ich die Nacht in der Rossweid, einem beliebten Berghotel und Ausflugsort verbringen.

Bei meiner Ankunft verabschieden sich eben die letzten Gäste, ich scheine sozusagen der letzte Mohikaner an diesem kühlen Abend zu sein. Man hat mich jedoch erwartet, es macht den Anschein, als wären Übernachtungsgäste doch eher selten.

Das Zimmer ist klein und gemütlich, der Hunger treibt mich ins riesige Restaurant, wo man mir jedoch mitteilt, dass mein Nachtessen im unteren Stock in der Nähe des Billardzimmers stattfinden wird.

Nun gut, ich bin immer für Überraschungen, denn die junge Dame, die sich als Ungarin aus Budapest entpuppt, erklärt mir das, was mich erwartet. Und so komme ich unverhofft zu einem opulenten 3-Gang-Menü, das nicht nur mundet, sondern diesen Tag in besonderer Weise zur Vollendung bringt.

 

Passender Song:  UB40 – Food for Thought

Und hier geht der Trail weter … nach Giswil

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Der Himmel verdunkelt sich

Gratwanderung an der Westflanke des Pfyffers. Auf dem Wachthubel atemberaubende Sicht auf die Voralpen-Bollwerke Schrattenflue und Hohgant. Im Abstieg stösst man auf schwarze Büffel. Sie haben Schangnau für seinen Mozzarella berühmt gemacht.

Klingt interessant, was der Guide zu erzählen weiss. Mal sehen, ob ich die berühmten Büffel zu sehen kriege. Das letzte Mal dürfte es in Asien gewesen sein.

Und die Anstrengung scheint sich heute in Grenzen zu halten:

Nun gut, wie die Erfahrung zeigt, sind diese Werte in meinem Fall Schall und Rauch. So sehen sie aus:

Länge 14.29 km; Aufstieg | Abstieg 1025 m | 790 m, Wanderzeit 6 h 04 min

Na ja, die unterschiedliche Dauer kann mit meiner Langsamkeit erklärt werden, aber über 200 Meter mehr Aufstieg und Abstieg? Verstehe ich nicht. Ich mache ja keine zusätzlichen Steigungen.

Die Welt ist voller Geheimnisse.

 

From Eggiwil to Schangnau

 

Der wiedergefundene Wirt

Ich bin beinahe überrascht, dass sich beim Frühstück, wider Erwarten sehr opulent, tatsächlich ein Herr zeigt, der sich als der verschwundene Wirt entpuppt. Eine mehr als seltsame Figur, scheint irgendwie noch nicht richtig angekommen zu sein.

Auf jeden Fall hat er alle Mühe, die Kaffeemaschine in Gang zu bringen und benötigt dazu die telefonische Hilfe eines Freundes. Dann setzt er sich an meinen Tisch und beginnt zu erzählen.

Man könnte meinen, irgendjemand hätte einen Knopf gedrückt, und jetzt redet er. Er redet und redet und kann nicht mehr aufhören. Während ich also mehr oder weniger schweigend ein Brot nach dem anderen genussvoll zelebriere (man stellt mir ein ganzes Pfund Butter auf den Tisch), erzählt er mir sein Leben.

Und er weiss alles. Tausend Geschichten. Man möchte ihm stundenlang zuhören. Er kennt nicht nur alles über die Bewohner des Dorfes, sondern – und das ist äusserst interessant – auch über sämtliche Hotels und Gasthäuser der weiteren Umgebung.

Was mich zu einem Nachbarn bringt, nämlich den Krypto-Gasthof in Signau.

Man erinnere sich. Bei der letztjährigen Übernachtung im Rothen Turm in Signau versuchte der Wirt, mir die Segnungen der Kryptowährungen nahe zu bringen, was ihm allerdings nicht gelang.

Es verwundert mich nun nicht, dass es schlechte Neuigkeiten darüber gibt. Der Gasthof ist anscheinend geschlossen, hat sich Bitcoin und Co. doch nicht als die Rettung der Welt herausgestellt? Nun, ich habe den Wirt gewarnt, er wollte partout nicht auf ein paar gut gemeinte sachliche Argumente hören.

Schade um den schönen Gasthof.

 

Kein Mangel an Hügeln

Man kennt sie in der Zwischenzeit, diese hölzernen Brücken aus alter Zeit. Sie sind Zeugen einer Vergangenheit, die längst entschwunden ist. Deshalb liebt man sie. Man erkennt in ihnen etwas, was unsere Vorfahren geprägt haben. Etwas für die Ewigkeit, so sieht es zumindest aus.

 

Old wooden bridge over the Emme

Nun , auf jeden Fall folgt der Trail eine kurze Weile der Emme, hier immer mehr zu einem jungfräulichen Flüsschen geworden. Die Quelle liegt irgendwo im Hinterland, nicht allzu weit von hier. Vielleicht werde ich sie finden, vielleicht auch nicht.

Dann aber, wer hätte das gedacht, beginnt die Steigung, nicht überraschend, denn genau das hat der Guide beschrieben. Und noch eine Überraschung, die keine ist: ich bin wieder mal allein auf weiter Flur. Was mir aber sehr gelegen kommt, denn ich habe mich daran gewöhnt und kann mir schon gar nicht mehr etwas anderes vorstellen.

Wie sagt man so schön – der Starke ist allein am stärksten. Oder ähnlich. Vielleicht Bullshit, vielleicht auch nicht.

Anyway, der Weg führt hinauf, immer höher, der Atem geht stossweise, manchmal ist der Weg völlig zugewachsen. Man könnte meinen, dass der letzte Mensch vor hundert Jahren hier durchgekommen ist. Erinnert mich wieder mal an den Alpenpanoramaweg.

 

Uphill, towards the blue sky Is this the path? hard to believe

 

Aufforderung zum Genuss

Wer hätte das gedacht? Es gibt doch tatsächlich ein paar humorvolle Schweizer (obwohl ich nicht wirklich überzeugt bin davon). Da stehen Bänke mitten in der Landschaft mit bester Aussicht natürlich, daneben metallene Hinweistafeln, auf denen eingraviert ist: Gniesse (geniessen) oder Pouse mache (Pause einlegen).

Diesen kategorischen Imperativ lasse ich mir nicht entgehen. Ich setze mich also folgsam auf die Bänke, lasse den Blick schweifen und denke nichts. Oder nicht viel. Aber man fühlt sich gleich entspannt, leicht wie eine Feder. Fehlt nur noch jemand neben mir auf der Bank, mit dem der Genuss geteilt werden kann.

 

Invitation to enjoy Invitation to rest

 

Begleitung mit E-Mountainbike

Manchmal hat man das irritierende Gefühl, dass der Rest der Welt gar nicht existiert. Nur dieser winzige Ausschnitt, ein paar Wiesen, ein paar Wälder, ein Fluss im Tal, Wolken am Himmel. Ennet den Wolken gibt es nichts, doch mit jedem Schritt erweitert sich die Welt, während sie hinter mir verschwindet. Es erinnert mich an einen Film, den ich nicht zuordnen kann, eine Aufgabe für den weiteren Weg.

Doch genau in diesem Moment bricht die Realität ein. Ein keuchender Atem hinter mir lässt mich einhalten. Da ist doch tatsächlich ein nicht mehr ganz junger Mann, der sich mittels e-Mountainbike den Abhang hinauf müht. Der Schweiss trifft von seiner Stirn, offenbar ist die elektrische Unterstützung an ihre Grenzen geraten.

Er scheint froh zu sein, für einen Augenblick durchatmen zu können, wir kommen ins Gespräch, gehen gemeinsam weiter. Natürlich er auf dem Bike, ich zu Fuss. Eine etwas seltsame Kombination. Nun, es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man in tiefgründige Gespräche gerät, sobald die üblichen Floskeln ausgetauscht sind. Und wir erkennen schliesslich sogar, dass wir aus dem selben Kanton stammen, zwei Landsleute also.

Nun, seine Ausfahrt war dem Einkaufen gewidmet, und so verlässt er mich auf dem Pfyffer, dem ersten etwas höheren Hügel, und fährt seinem Ferienhaus entgegen.

Ich aber bleibe stehen, wundere mich einmal mehr über die Aussicht.

 

 

Die Schrattenfluh, diese monströse Wand

Nach dem Pfyffer führt der Weg weiter hügelan, beileibe kein Mangel an atemraubenden (im Sinne des Wortes) Anstiegen. Man fragt sich, wie diese Hügel entstanden sind. Waren sie mal stattliche Berge, geformt durch den Zusammenprall zweier Kontinentalplatten und langsam aber stetig durch die Elemente auf das heutige bescheidene Niveau reduziert?

Man könnte beinahe Mitleid haben, wenn man bedenkt, welchen Abstieg sie hinter sich haben. Aber das ist unsere Welt. Auf- und Abstiege sind das, was sie prägt. Geschieht ja auch im eigenen Leben. Manchmal geht’s hinauf, manchmal runter. What comes up, must go down.

Auf dem Wachthubel (schon wieder so ein Name), der höchsten Erhebung an diesem Tag, breitet sich nach allen Seiten eine Bergpracht aus, die es in sich hat. Im Süden der Hohgant, aber zur Linken die Schrattenfluh, eine wahrhaft furchterregende Wand aus lauter Felsen und sonst nichts.

Ein paar Bilder aus diesbezüglicher Wanderung von einigen Jahren mögen zeigen, wie abweisend und unwirtlich dieser Brocken von einem Berg aussieht.

 

Schrattenfluh - terrifying wall   Schrattenfluh - no pleasure for beginners

Schrattenfluh - view from the Wachthubel

Von hier aus sieht sie ganz manierlich aus, obwohl die dunklen Schatten, die senkrechten Falten in der Wand, der eckige Kopf am Ende, zeigen, wie unwirtlich und abstossend diese Wand ist. Ganz zu schweigen von der anderen Seite, wie obige Bilder zeigen.

Nicht eine meiner schönsten Erinnerungen.

Aber dann, nicht allzu weit vom Tagesziel, beginnt sich der Himmel mit Wolken zu bedecken. Nicht diese zarten, schwebenden weissen Flecken am Firmament, nein, diese zuckenden, flackernden, düsteren Gebilde aus Wasserdampf und Energie, die im Nu bedrohliche Gefühle bewirken.

 

The sky gets darker ... ... and darker

Während in der Ferne erste Regenschlieren die Sicht verdunkeln, eile ich den Weg hinunter, ein Schotterbett, von früherem Regen ausgehölt, sehr mühsam. Meine Knie, diese armen Gelenke, die mich bisher nie im Stich gelassen haben (im Gegensatz zur letztjährigen Wanderung), melden sich mit erbosten Signalen, so nicht, scheint es zu bedeuten. Ich kann es ihnen nicht verdenken.

 

Schangnau - small village along the trail My room in the Löwen - just as I like it

Aber als eben die ersten schweren Tropfen auf den staubigen Boden klatschen, nähert sich Schangnau, das Tagesziel, der Gasthof Löwen, wieder mal das einzige Hotel im Dorf.

Und so bin ich gerettet, wieder einmal im letzten Moment der Traufe entgangen.

Und der Gasthof entpuppt sich als eines dieser Etablissements, die ich so sehr liebe. Mit einer Gaststube, wo die hölzernen Wände lange Geschichten erzählen könnten, wo die Wirtin in ihrem wunderbaren Dialekt den Gast empfängt als wäre er ein König, dabei bin es nur ich. Etwas müde und ausgepumpt, aber glücklich hier zu sein.

Ich weiss jetzt schon, dass ich mich in meinem kleinen Zimmerchen mit den rotweiss karierten Bettanzügen sehr wohl fühlen werde.

Und während draussen der Regen über das Dorf galoppiert, sitze ich in der Gaststube, trinke mein tägliches, wohlverdientes Bier und schaue aus dem Fenster.

 

Passender Song:  Bob Dylan – Rainy Day Woman Nr. 12&35

Und hier geht der Trail weiter – zur Rossweid

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – In Gotthelfs Heimat

Das wird ein langer Tag.

Irgendein Anlass in Lützelflüh, vielleicht eine Gotthelf-Veranstaltung, hat dazu geführt, dass am Sonntag alle Gasthöfe ausgebucht sind. Die freundliche Dame im gewünschten Hotel verweist mich an ein anderes, das allerdings ebenfalls voll ist. Nun denn, so lande ich also  heute Abend in einem winzigen Kaff namens Ranflüh ein paar Kilometer nach Lützelflüh tief im Emmental. Das werden gut und gern 25 Kilometer werden. Aber was soll’s …

Auf jeden Fall erwartet mich bei bewölktem und recht kühlem Wetter eine lange Etappe, die mich ins Emmental und damit mitten ins Herz von Gotthelfs Heimat führen wird.

Oberhalb Worb beginnt das für das Emmental so typische Gelände mit den langgezogenen «Eggen» (Hügeln) und den steilen «Chrächen» (Gräben). Fantastische Ausblicke auf Alpen und Jura. Im älteren Dorfteil von Lützelflüh befindet sich die Gotthelf-Stube.

Und die tatsächlichen Werte gemäss Polaruhr: Länge 25.54 km; Wanderzeit 7 h 51 min

 

From Worb to Ranflüh

 

Wo ist das Schloss?

Eigentlich müsste sich oberhalb Worbs ein Schloss befinden, das ich aber weder gestern (zu müde) noch heute Morgen (dito) entdecken kann. Nun denn, es wird ein Schloss wie ein anderes sein, in Privatbesitz und somit nicht zugänglich, was die Entdeckerfreude massiv beeinträchtigt.

Das Wahrzeichen von Worb ist das um 1130 erstmals erwähnte Schloss, das nach einem Brand 1535 neu aufgebaut wurde. Es ist im Privatbesitz und liegt oberhalb des Dorfes.

Die Luft riecht heute morgen zum ersten Mal nach Herbst, es ist tatsächlich etwas kühler geworden. Das scheint meine geistigen Fähigkeiten zu beeinträchtigen (dazu braucht es offenbar nicht viel), denn ich starte doch tatsächlich ohne Stöcke. Mein Gott Landolt, wenn das so weitergeht.

Es geht aber genauso weiter wie gewohnt, es könnte langweilig werden, wenn es nicht immer wieder so grossartig wäre. Sanfte Anhöhen führen in nordöstlicher Richtung, was eigentlich unverständlich erscheint, zeigt d0ch die allgemeine Richtung gegen Süden. Der Planer hat sich wohl einen Scherz erlaubt. Aber wer kennt die Kerle schon.

Ich bin ziemlich allein auf weiter Flur, wenn es nicht da oder dort eine ebenso einsame Kuh gäbe, die sich gemächlich dem Gras widmet.

 

gentle slopes beneath a cloudy sky

Die Aussicht ist grandios, wären da nicht zwei Damen, die hinter mir auf einer Bank sitzen und sich als Dauerquassler entpuppen. Nun, vielleicht gehört das irgendwie zur Umgebung, ergibt sozusagen eine authentische Sicht auf die Landschaft mit Beiklang.

 

Teerstrassen und Schwingfest

Der Himmel, dieser unzuverlässige Kerl, bedeckt sich noch mehr mit dunklem Gewölk, ich bin etwas enttäuscht, aber nach all den schönen Tagen darf das schon mal sein. Und noch etwas geht mir auf den Wecker: natürlich folgt die Route den vorgegebenen Wanderwegen, allerdings heute sehr häufig auch auf asphaltierten Strassen.

Aber eben, ich habe keine Wahl, und so marschiere ich halt wie ein folgsamer Soldat, vergesse alles Unangenehme und widme mich der fantastischen Aussicht auf die Wiesen und Hügel, die verstreuten Höfe mit den typischen Dächern.

Eidgenössisches sSchwing- und Älplerfest
[Von Martin Abegglen – https://www.flickr.com/photos/twicepix/9642084401, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49079228]
Allerdings ist der Kopf heute Sonntag nicht konzentriert, denn die Gedanken schweifen immer wieder ab zum Grossereignis dieses Tages, dem Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest.

Es findet nur alle vier Jahre statt, dann versammeln sich die starken Männer des Landes und versuchen die Krone zu gewinnen. Der Sieger wird zum Schwingerkönig gekürt, eine Ehre, die nur die besten und stärksten für sich beanspruchen dürfen.

Aber ich bin sozusagen im Exil, kann bestenfalls alle paar Stunden auf dem Handy den Zwischenstand überprüfen, aber da mein Geheimfavorit Giger Samuel nichts mehr mit dem Titel zu tun hat, ist die Euphorie eh ziemlich reduziert. So schade  …

Aber mal sehen, der Schlussgang findet üblicherweise erst nach 17.00 statt, das ergibt doch die Chance, das Ereignis am TV im Hotel mitzuerleben. Ob ich allerdings vor 17.00 Uhr in Ranflüh eintreffen werde, steht auf einem anderen Blatt.

 

Emmental und Gotthelf

Weiter in Richtung Lüüseberg lohnt sich immer mal wieder ein Blick zurück auf das wunderschöne Alpenpanorama. Nach etwas mehr als einer Stunde folgt Aetzrüti. Dabei quert man weitere kleine Hügel, kurze Waldabschnitte und wunderschöne Äcker und Wiesen, die sich harmonisch in die Landschaft einfügen.

Jeremias Gotthelf - famous Swiss writer
Von Johann Friedrich Dietler – http://burgerbib.scopeoais.ch/detail.aspx?id=185017, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=378200

Das Emmental, das ich in Kürze erreiche, und Jeremias Gotthelf, einer der berühmtesten Schweizer Schriftsteller, gehören sozusagen zusammen. Sein Name war eigentlich Albert Bitzius, er war Pfarrer und Lützelflüh, also ein intimer Kenner der damaligen Welt weit abseits.

Ich bin wie die meisten Schweizer meines Alters schon früh mit Gotthelf in Kontakt gekommen. Seine bekanntesten Werke  – Ueli der Knecht, Ueli der Pächter, Annebäbi Jowäger, Die Käserei in der Vehfreude und natürlich die Schwarze Spinne – waren  Schulstoff für jedes Institut, das etwas auf sich hielt (ob das heute immer noch so ist, wage ich zu bezweifeln).

Alle seine Werke wurden verfilmt und werden immer wieder im TV gezeigt. Besonders die beiden Ueli-Filme haben Kultstatus erreicht. In den 50-Jahren verfilmt, schwarzweiss natürlich, Karrierestart für Liselotte Pulver und Hannes Schmidhauser, und auch heute noch ein lohnendes Vergnügen.

Was ich persönlich aber immer noch vorziehen würde, sind die uralten Hörspiele, ebenfalls aus den 50-Jahren stammend, allerdings verschollen oder verschimmelt in den Katakomben des öffentlich-rechtlichen Radios.

Schade, sie waren ein wesentlicher Teil meiner kulturellen Sozialisierung.

Allerdings, das muss ich zugeben, hinterlassen Bücher, Hörspiele und Filme ein zwiespältiges Erbe.

Ist die gezeigte Natur der Menschen charakteristisch für die hiesige Gegend oder sind es generelle Feststellungen, wie der Mensch eben ist, mit all seinen Schwächen, Neid und Gier und Missgunst?

Es hat etwas gedauert, bis ich die Antwort fand und der Emmentaler Bevölkerung die Absolution erteilen durfte.

 

typical Bernese farm house in the Emmental
Das könnte doch glatt die Glungge sein, der Hof, wo Ueli der Knecht sein Vreneli fand

 

 

Kein Restaurant, kein Nachtessen

Der Weg durch das Emmental ist vom Sonntag geprägt. Kaum Menschen auf den Strassen, wenige Autos, wer hätte das gedacht. Nach Lützelflüh, wo ich mir einen Kaffee genehmige und mich bei den Gästen nach dem Stand des Schlussgangs erkundige (noch offen, aber so ganz begeistert bin ich nicht), zweigt der Weg nun wieder nach Süden ab, endlich, folgt nun der Emme, schön geradeaus das Tal hinunter, dem Hauptort Langnau entgegen.

Ich spüre den langen Weg in den Knochen, die 20 Kilometer Marke ist längst erreicht, so tröste ich mich auf den letzten Kilometern mit den Reflexionen der Sonne auf dem manchmal ruhigen, dann wieder schäumenden Wasser der Emme. Ramsei taucht auf, ich verwechsle es mit Ranflüh, mache ein paar hundert Meter zuviel, bis ich den Fehler bemerke, aber egal, das Tagesziel ist nahe.

 

Across the Emme

Ranflüh ist tatsächlich das Kaff hinter den sieben Bergen, ein paar Häuser, verstreute Bauernhöfe, eine Bushaltestelle und ein einziges Hotel, der Bären, wo ich angemeldet bin.

Es ist, wie angekündigt, geschlossen, schliesslich ist heiliger Sonntag, da wird nicht gearbeitet, wo kämen wir denn da hin.

Immerhin schaffe ich es mit Hilfe gemailter Hinweise, den Hotel- und Zimmerschlüssel zu finden. Und oha, das Zimmer ist top, alles da, aber eben, der Magen knurrt, doch ein Restaurant ist nicht zu finden.

Was würden wir bloss ohne Google machen? Irgendjemanden auf der Strasse suchen, der Auskunft geben kann? Wahrscheinlich.

Aber eben, Google weiss alles, auch über allfällige Restaurants in der näheren Umgebung. Zollbrück, das Nachbardorf, scheint meine Rettung zu sein.

Und so setze ich mich in den Bus, der jede Stunde fährt, finde tatsächlich am Bahnhof in Zollbrück einen Takeout, wo türkisch sprechendes Personal mir eine wahrhaft köstliche Pizza zubereitet.

Dann mit dem Bus zurück nach Ranflüh. Das TV Dinner an diesem Abend, Pizza mit Mineralwasser und der Schlussgang im Fernsehen, kann für vieles, nein heute für alles, entschädigen.

Ich scheine langsam mir sehr wenig zufrieden zu sein.

 

Passender Song zum Tag:  TWWO – Cage Fighter

Und hier geht der Trail weiter … nach Eggiwil

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die schöne blaue Aare

Es gibt einen Song von Stiller Has namens Aare, ziemlich bekannt und beliebt beim Publikum. Er wird (obwohl ich kein besonders begeisterter Fan von Stiller Has bin) mich heute der Aare entlang begleiten. Immerhin sind es fast zehn Kilometer, die ich ausschliesslich diesem blauen Wunder entlang wandern werde.

Auch der Wanderführer sieht es positiv:

Reizvolle Wanderung entlang der Aare, zunächst durch Stadtgebiet, dann durch eine der schönsten Flusslandschaften der Schweiz. Einen besonderen Gewinn stellen die renaturierten Ufer dar. Das Worber Schloss ist von weitem sichtbar, aber nicht zugänglich.

Könnte schön werden …

 

From Bern to Worb

 

Bye Bye Bundeshauptstadt

Ich nehme also Abschied von Bern, ein bisschen wehmütig, denn die Stimmung und Atmosphäre in dieser alten Stadt ist einmalig. Ich könnte es nicht besser formulieren wie der Wanderführer, ich stimme den Elogen vollumfänglich zu.

Bern versprüht mit seinen vielen Brunnen, Gassen, historischen Türmen und Arkaden ein einmaliges mittelalterliches Flair. Den wohl schönsten Ausblick über die von der Aare umflossene Unesco-Altstadt bietet der erhöhte Rosengarten über dem Bärengraben oder die Plattform des 101 Meter hohen Münsterturms. Beim Bärengraben beginnt auch die tierreiche Wanderung nach Worb. Der Bärenpark bietet dem Tier, welches auch das Stadtwappen ziert, ein 6000 m2 grosses Aussengehege.

 

The beautiful blue Aare, Bern's beloved river with its old houses and bridges

Im Rückspiegel bleibt die Stadt zurück, grüsst herüber mit Kirchenturm und Bundeshaus. Das Sinnbild verschmilzt mit der Wirklichkeit, wenn ich, Bewunderer schöner Bilder, ins Wasser und seine Umgebung blicke, die vor hundert Jahren genauso ausgesehen haben muss.

So sieht Beständigkeit aus, man bewahrt das Gute und Schöne, appliziert Neues, wo es passt, und vervollständigt das Bild, macht es zu einem Gesamtkunstwerk. Ich lese aus diesen Bildern viel heraus, vielleicht viel zu viel, um es wirklich beschreiben zu können.

Machen Bilder die Menschen? Oder ist es umgekehrt? Wie sehr bildet eine Stadt ihre Bewohner ab? Fragen über Fragen, die man nicht mit dem Verstand beurteilen kann.

 

Bern - a last greeting

Eine Kathedrale, ein Kirchturm, Häuserreihen wie Festungswälle, da und dort ein spitzes Türmchen, schüchtern und beinahe versteckt ein paar Bäume, davor das Wasser, das Ufer und das Raunen der Stadt im Hintergrund.

Das ist Bern.

 

And the Bundeshaus - political center of Switzerland

 

Ursina und das Bundeshaus

Das Bundeshaus in seinen vermeintlich wuchtigen Ausdehnungen, die gar nicht so wuchtig sind, wenn man an Paris und London und deren Paläste denkt, winkt herüber. Hier wird Politik gemacht, manchmal gut, manchmal erstaunlich, oft schlecht und rückwärts gerichtet.

Aber so ist Politik, immer ein wenig zu weit weg von allem, was zählt. Man tut, als ob man wichtig wäre, dabei läuft die Gegenwart an anderen Orten ab.

Sei es wie es ist, ich lasse die Politik und wende mich den schönen Dingen des Lebens zu.

Ursina - Bern's favorite BearBeispielsweise dem Bärengraben mit dem Liebling der Stadt, der Bärin Ursina.

Sie wirft ihren vielen Bewunderern, die sich oberhalb des Grabens versammelt haben, einen eher gelangweilten Blick zu. Jeden verdammten Tag die gleichen dummen Gesichter, ich kann es ihr nachfühlen.

Der Weg führt nun dem Dählhölzli Tierpark entlang, rechts die Aare, die schöne blaue Aare, links allerhand Getier in allen Formen und Farben der Evolution, man kann sich sattsehen.

Man müsste mehr Zeit haben (das ewige unlösbare Problem), sich auf eine Bank setzen und einfach zusehen, wie sich die weissen Vögel (deren Namen ich doch prompt vergessen habe) ihr Gefieder putzen oder die jungen Schweine auf der Suche nach Nahrung im Boden wühlen.

Aber eben, es muss weitergehen …

 

Birds at the Dählhölzli Park ... and young pigs looking for food

 

Jogger und andere Läufer

Es ist Samstag, ein wunderbarer warmer Vormittag, perfekt für eine Joggingrunde der Aare entlang oder einfach einem Spaziergang ganz ohne Hast und Eile, einfach geniessen. Wenn ich hier wohnen würde, könnte man mich im Pulk der Läufer erkennen, vielleicht nicht ganz so schnell, aber voller Lust an der Bewegung.

Man kommt nicht umhin, immer wieder mal stehen zu bleiben, dem Gurgeln des Flusses zu lauschen, die sich dauernd verändernden Farbtöne des Wassers zu bewundern. Wolken am Himmel, ein Kontrast, den ich nicht brauche, schönes Wetter ist angesagt, also was soll das?

 

The Aare - sometimes greenish, then ... ... blue again or is it light black?

Und so schreite ich voran, der Rucksack scheint leichter als sonst, eine Illusion, die sich durch das Gefühl vollkommener Entspannung ergibt? Egal, ich grüsse rechts, ich grüsse links, man nickt mir zu, man antwortet mit einem freundlichen Grüessech (was nicht wörtlich zu übersetzen ist, aber Guten Tag auf Berndeutsch bedeutet; es ist wie vieles andere in dieser Region ein willkommener Begleiter, man fühlt sich sonderbar aufgenommen).

Die alten Holzbrücken sind wie immer eine Augenweide, aber nicht nur. Sie stellen etwas dar, eine Kostprobe einheimischer Handwerkskunst, Qualität, die dauerhaft ist, die nicht, wie viele moderne Errungenschaften nach kurzer Zeit ersetzt werden muss.

Diese Balken sind fest verankert, sie zeigen das Alter, Risse längs und quer, aber sie bleiben standhaft, widerstehen den Angriffen des Alters.

Ich ziehe den Hut.

Die mit Holz bedeckte Auguetbrücke wurde 1836 gebaut und stand bis 1974 in Hunziken. Da dort die Brücke für die Verbindung Rubigen – Belp mit einer Betonbrücke ersetzt wurde, konnte die Brücke als Verbindung zwischen Muri und Belp genutzt werden. Und so wurde die ehemalige Hunzikenbrücke zur beliebten Auguetbrücke.

 

Wooden bridge over the Aare

Manchmal bin ich plötzlich allein, ganz unerwartet, mitten im Wald, aber nicht für lange, da taucht der nächste Jogger auf, oder eine junge Frau mit Kinderwagen, ich wage einen Blick auf das rosige Gesicht des Babys und erhalte einen erstaunten Blick zurück.

Die Mutter nickt mir stolz zu, sie hat allen Grund dazu.

 

Sometimes alone in the forest, but not for long

 

Aare, es war schön mit dir

Doch irgendwann biegt der Weg vom Fluss ab, ich werfe ihm einen letzten Blick, der heissen soll, es war schön mit dir, aber ich muss weiter, immer weiter, die Füsse streben von selbst vorwärts, eine Gewohnheit, die sich automatisch ergeben hat. Gut so.

Die neue Umgebung hat ebenso viel zu bieten. Manchmal ein einsamer Baum, eingewickelt in zartweisse Wolken, als ob sie ihn umarmen wollten, nur er allein, sonst nichts, nur Gras und blauer Himmel und Wolken. Wie muss er sich fühlen, so allein und trotzdem so umschwärmt?

 

Lonely tree surrounded by clouds

 

Ein unwillkommener Umweg

Das alte Sprichwort (ist es eines?), dass man im Alter nicht gescheiter wird (dafür weiser, wer weiss das schon), bewahrheitet sich mal wieder auf unwillkommene Weise. Die Gegend ist voll von Wanderwegen, sie kreuzen sich überall und führen dadurch immer mal wieder zu orientierungsmässigen Fehlleistungen.

So auch heute, wen wundert’s.

Der Wegweiser, der mich entlang eines langgezogenen Maisfeldes führt, sieht zwar nicht aus wie meiner, aber ohne zu denken und ohne die Karte oder Google Maps zu konsultieren, folge ich ihm. Es ist halt einfach so – viele dumme Entscheidungen werden erst richtig dumm, wenn man sie erkennt. Vorher sind sie das, was mir eben geschieht. Etwas Heiteres, Schönes, denn die Umgebung ist traumhaft, nicht zu heiss, ein blau lachender Himmel, der sich wahrscheinlich darauf freut, wenn ich meinen Irrtum erkenne.

Was denn auch geschieht, nach knapp fünf zusätzlichen Kilometern und den netten Bauernleuten, die laut lachen, als ich sie nach dem Weg frage.

Alles andere bleibt ungesagt.

Aber eben, die Häuser sind schmuck (ein echtes Berner Bauernhaus, fast wie aus dem Katalog), der Himmel weit und beinahe blau, die Wolken wie immer nicht ganz so dräuend wie sie aussehen. Am Schluss muss ich sagen, der Umweg hat sich gelohnt (oder versuche ich damit, etwas besser zu machen als es ist?).

 

Ich bin dankbar für die letzten Kilometer durch den Wald, er begrüsst mich mit steinerner Miene (oder eher hölzerner).

Und tatsächlich – leistungsmässig (als ob mich das interessieren würde) kein epochaler Tag. Plus 5 Kilometer und beinahe 3 Stunden. Aber es hat sich gelohnt, die zwanzig Kilometer sind etwas vom Schönsten gewesen, was ich bisher abgewandert bin. Ach ja, die schöne blaue Aare …

 

 

Wieder mal zurück in Indien

Die Nähe von Worb kündet sich schon früh an. Ich erreiche das Dorf etwas oberhalb auf einem Hügel, der an einem Bauernhof vorbei hinunter führt. Kühe muhen mich an, ich muhe zurück, vom Dorf herauf klingen Rufe, Kinderstimmen, irgendwas ist los.

Interessiert mich wenig, ich suche den Gasthof Löwen, bin wenig überrascht, dass er wieder einmal geschlossen aussieht, bis mich ein sehr indisch aussehender junger Mann (der sich als Tamile aus Sri Lanka entpuppt) in herzlichen Empfang nimmt und mich durch verwinkelte Korridore zu meinem Zimmer führt. Immerhin ist es mit allem bestückt, was man gerne hat nach einer langen Wanderung, ob ich allerdings den Weg durch das Labyrinth nach draussen wieder finde, ist eine andere Frage.

Das spätere Essen in der Gartenwirtschaft (hervorragende Tagliatelle) ist entspannt und gelöst und wieder einmal sehr sehr glücklich …

 

Passender Song:  Massive Attack – Safe from Harm

Und hier geht der Trail weiter … nach Ranflüh

 

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die wiegenden Bäume

Knapp einem grandiosen Hangover entgangen, der Kopf ist einigermassen klar und bereit für die nächste Etappe. Ich schleiche durch die Korridore, es duftet nach uraltem Holz, nach abgetragenen Teppichen, nach Staub. Es kommt mir vor wie das Eintauchen in die Vergangenheit. Aber mir gefallen diese alten Gemäuer, sie hätten sicher viel zu erzählen.

Ich wäre gerne noch ein Weilchen geblieben, in meinem winzigen Zimmerchen, umgeben von soviel Vergangenheit. Aber ob dieser Gasthof noch eine Zukunft vor sich hat, wage ich zu bezweifeln.

Aber ich muss weiter, Bern entgegen.

 

Letzte Grüsse

Immer sind es irgendwelche Türme oder Kirchen oder Burgen, die mir letzte Grüsse zuwerfen. Ich nehme sie nur noch knapp wahr, denn ich bin schon weg, auf dem Weg zum nächsten Turm, zur nächsten Kirche, zur nächsten Burg. Und heute ist der Weg weit.

 

Last greeting of Laupen

Was meint der Guide zur heutigen Etappe?

Die Route folgt der Sense, windet sich dann zu aussichtsreichen Höhen mit Sicht auf die Gipfel der Alpen. Stolze Bauernhöfe in Mengestorf kontrastieren mit den vorstädtischen Wohnsiedlungen von Bern; dessen Altstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe.

Etwas lang, aber flach und vor allem der Sense entlang. Der Weg entlang eines Flusses ist mehr als ein Vergnügen, es ist eine Meditation.

 

From Laupen to Berne

Nachdem die Geräusche des Städtchens hinter mir verstummt sind, herrscht mit einem Mal völlige Stille, sieht man vom leisen Gurgeln der Sense ab. Und ja, ein paar Vögel glauben auch, ihren Gesang beitragen zu müssen. Die Bäume wiegen sich im Morgenwind, flüstern von Baumgeschichten, nur für sie bestimmt.

 

The SEnse river

Es scheint, als wäre hier die Natur noch intakt, eine Illusion, die mir hilft, mich auf das Schöne zu konzentrieren. Vielleicht ist dieser Fluss in ein paar Jahren oder Jahrzehnten vertrocknet, die Fische tot, ebenso alle anderen Kreaturen, die sich heute noch darin tummeln.

«Alarmismus ist angebracht, aber Weltuntergangs­narrative bringen nichts»

Vielleicht kann man sich Trost holen beim vielleicht berühmtesten Philosophen, Fernando Pessoa, oder auch nicht. Seine Vorstellungen sind dunkel und mitleidlos.

„Es herrscht keine Ruhe, und ich habe, weh mir!, nicht einmal das Bedürfnis, sie zu finden.“

Na gut, nach soviel schlechter Laune muss die Schönheit, die existierende Schönheit, wieder die Oberhand kriegen. Es fällt mir nicht schwer, denn das, was sich um mich herum abspielt oder eben auch nicht, ist voller Wunder, manchmal menschgemacht wie die alte Holzbrücke, manchmal gratis von der Natur zur Verfügung gestellt.

 

Old wooden bridge over the Sense

Es ist ein Spaziergang, gut drei Stunden lang, was die ausgedehnten Picknick Pausen beinhaltet. Es darf nicht sein, dass man derart schöne Abschnitte nicht geniesst. Aber dann, bei Sensematt, zweigt der Weg endgültig vom Flussufer weg.

Ein schmaler Pfad führt gemächlich den Hang hinauf, Schafe strecken mir gemeinsam den Hintern entgegen. Haben die was gegen mich?

 

Perfect path uphill, the way I like it

Unfriendly sheep pointing their asses at me

Bei Sensenmatt verlässt man den Flusslauf und folgt dem Scherlibach. Dann folgt ein kurzer Aufstieg zum Mängistorfberg. Mit etwas Glück sieht man von hier aus die Alpengipfel.

Ein kurzer Abstieg und schon befindet man sich in der Agglomeration von Bern. Vorbei an Wohnquartieren folgt der Weg dem Waldrand des Chünzibergwaldes nach Liebefeld und zum Fischermätteli in der Nähe von Bern Bümpliz.

In der Hauptstadt der Schweiz endet die Wanderung.

 

Bern im strömenden Regen

Die dunklen Wolken haben mich für einmal nicht getäuscht. Kaum habe ich die Stadtgrenze erreicht, klatschen die ersten Tropfen schwer auf den aufgeheizten Boden. Eine ältere Dame weist mir den Weg zur nächsten Bushaltestelle, und da bin ich nun, umgeben von schnatternden Kindern (einmal mehr mit einem Blick, der alles aussagt) und warte auf den Bus.

Der Unterschied könnte nicht grösser sein. Ich bin sozusagen in die Zivilisation zurückgeworfen worden. Aber sie hat auch Vorzüge, bringt mich in Windeseile ins Stadtzentrum von Bern, Lärm und Menschen und Autos und Lichter, ich bin gefangen, doch eigentlich ganz glücklich.

Die Berner Altstadt gehört zu den UNESCO-Weltkulturgütern und besitzt mit 6 Kilometern Arkaden, den sogenannten Lauben, eine der längsten wettergeschützten Einkaufspromenaden Europas.

So folge ich also den Lauben, die mich hinunter in das Zentrum der Altstadt führen. Kurz vor meiner Destination, nicht einmal 200 Meter entfernt, prescht ein stattlicher Wolkenbruch vom Himmel. Wie unzählige andere Touristen oder Spaziergänger oder Angestellte auf dem Weg nach Hause bleibe ich im Schutz der Lauben und hoffe auf ein baldiges Ende der Wetterkapriolen.

Es dauert eine ganze Weile, bis man es wagen kann, den Schutz zu verlassen. Die Leute strömen wie eine aufgeschreckte Herde Schafe über die Strasse, ihren jeweiligen Zielen zu, ich zum Backpackers Hotel Glocke an der Rathausgasse gelegen. Ich komme mir nach kurzer Zeit vor wie damals in Südamerika oder Asien, umgeben von jungen Backpackern aus aller Welt.

Beinahe ein bisschen wie zuhause.

 

The famous Zytglogge tower in Berne
Der Zytgloogeturm, Wahrzeichen der Stadt

 

Eine besondere Stadt

Jeder Schweizer kennt die Stadt. Sie besitzt etwas Besonderes, eine Mischung aus alter Tradition und dezenter Modernität. Man fühlt sich seltsam geborgen in dem anheimelnden Dialekt, der so gar nicht dem rasenden Rhythmus der heutigen Welt entspricht.

 

Bern - Switzerland's capital at night

Die Berner werden als langsam bezeichnet, auch dies mag mit dem langsamen melodischen Singsang ihrer Mundart zusammenhängen, aber nicht nur. Hier ist verpönt, gelegentlich auch mit neidischen Augen betrachtet, wie ihr Gegensatz Zürich voller Dynamik funktioniert. Bern ist eher eine Beamtenstadt, hier werden Gesetze gemacht oder auch nicht. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, aber auch das mag eine falsche Vorstellung sein.

 

Passender Song:  Mick Jagger – Strange Game (aus „Slow Horses“)

Und hier geht der Trail weiter … nach Worb

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Nomadische Gene

Man ist gut beraten, bei der Planung kürzere Etappen vorzusehen. Der Körper braucht Intervalle, in denen er nicht ans Limit gehen muss (was ich eh nicht mache), wo er sich erholen kann, den Akku aufladen darf. Wer diese einfache Wahrheit vergisst, wird es bereuen.

Heute ist eine dieser Etappen. Auf- und Abstieg sind harmlos, die Distanz genau richtig.

Das findet auch der Travelguide:

Gemächlich geht es über die sanften Hügelzüge des Freiburger Mittellandes. Schattige Abschnitte im Wald und offene asphaltierte Abschnitte in Dörfern lösen sich ab. Ein Naturerlebnis ist der Zusammenfluss von Saane und Sense.

Allerdings wage ich die angegebene Dauer in meinem Fall zu bezweifeln. Ich rechne mit 6 oder mehr Stunden. Mal sehen …

 

From Murten to Laupen

 

Multi-Options-Welt

Wie auch immer, das Hotel Bahnhof bleibt zurück in Murten, ein letzter Blick auf das Städtchen, ich werde irgendwann zurückkommen, mit mehr Zeit und Musse. Aber werde ich das?

Es passt doch alles – wir leben in einer Multioptionszeit. Es sind immer und überall und natürlich gleichzeitig eine unendliche Anzahl von Optionen da. Ich könnte anstelle Murtens auch wieder mal ins Engadin oder nach Basel oder wohin auch immer reisen. Ich könnte auch etwas komplett Anderes unternehmen. Reisen. Musik hören (aber was?). Lesen (aber was?).

Vieles bleibt ein frommer Wunsch.

Wir sind Kinder im Spielzimmer, die vor lauter Spielsachen nicht mehr imstande sind, eine Wahl zu treffen. Die Eisenbahn oder doch lieber das angefangene Puzzle? Mit Barbie und Ken spielen oder das neue Hallowin-Kostüm anprobieren?

Wie aiuch immer, der Turm winkt mir zu (vielleicht hat er meine Zweifel erkannt), ich winke zurück. Dahinter der Jura, der Mont Vully, auch sie grüsse ich ein letztes Mal, es war schön bei euch.

 

Last glimpse on Murten, Mont Vully, Jura

Aber dann führt der Weg hügelaufwärts, entlang saftiger Wiesen. Mit wenig Mühe und leichtem Kopf schreite ich voran, vorbei an hässlichen Industriegebäuden, dann wieder am Rand eines dunkelgrünen Abhangs.

Gelegentlich braust eine Gruppe e-Bike bewehrter Herren vorbei. Ihr Tenü sitzt tadellos, farbig und modisch, gar nicht dem eher fortgeschrittenen Alter entsprechend. Sie nicken mir zu, fast mitleidig wie mir scheint, soviel Überheblichkeit in einem einzigen Blick.

Etwas weiter vorne gewahren sie endlich doch noch die Schönheit der Landschaft, man springt wendig vom Rad, ein schnelles Bild oder zwei, dann muss es schnell weitergehen. Irgendein unbekanntes Ziel muss auf sie warten, vielleicht aber – und das wäre schön für sie – ist auch bei ihnen der Weg das Ziel.

So wie bei mir.

 

Just beauty and calm

 

Nomaden-Gen

Manchmal, am Morgen vor dem Abmarsch, wenn ich voller Vorfreude auf die kommenden Stunden und Kilometer schaue, frage ich mich, was den Reiz ausmacht, den ich auch heute wieder verspüre. Dieses Verlangen, immer weiter zu gehen, Stunde um Stunde, Kilometer um Kilometer. während die Welt gelassen vorbeizieht. So stelle ich mir unsere Vorfahren vor, auf dem Weg nach irgendwo/nirgendwo, den Tieren hinterher, kein Heim, kein fester Ort, nur den endlose Weg vor sich, sonst nichts.

Vielleicht ist es etwas Uraltes, ein nomadisches Überbleibsel dieser Urahnen, das die Jahrtausende überlebt hat und nun bei mir etwas aktiviert hat, was still vor sich hingeschlummert hat.

Früher zogen Völker den Wildtieren hinterher, um sie jagen zu können oder wanderten von einem Ort zum nächsten, wenn das Essen knapp wurde. Der Nomadismus ist eine traditionelle Lebens- und Wirtschaftsform, in der Menschengruppen als Wandervölker zusammenleben. Sie sind nicht sesshaft und verweilen mindestens wenige Tage, aber höchstens 20 Jahre an einem Ort. (aus Study Smarter)

Gibt es sowas wie ein Nomaden-Gen?

Ich wäre dankbar dafür.

Along forests ...

Ein Traktor wühlt die eh schon malträtierte Erde auf, der Staub wirbelt, der Motor dröhnt, der Fahrer zieht stoisch seine Geraden, ich bleibe stehen. Was wird hier dem Boden beigegeben? Man ist im Verlauf der letzten Jahre misstrauisch geworden. Sind es Pestizide oder andere giftige Zugaben?

Man fragt sich und will es eigentlich gar nicht wissen.

 

Hard work on the fields

Die Natur kennt kein Erbarmen. Leben und Tod sind nahe beisammen. Der ewige Kreislauf. Werden und vergehen. So wie bei den Bäumen. Die einen überleben, andere, vielleicht die Nachbarn, sterben.

Man weiss es und ist trotzdem seltsam traurig, wenn man die verdorrten Überreste eines einstmalig stolzen Baumes sieht. Sie scheinen sich zuzuwinken, der tote Baum neigt sich dem noch lebenden zu, als wollte er er an sein zukünftiges Schicksal erinnern.

 

Dead tree greets living one

 

Unter dem Apfelbaum

Der Tag ist heiss und wolkenlos. Ich erreiche Liebisdorf, freue mich auf einen Kaffee im lokalen Restaurant, doch es ist geschlossen.

Die Architektur der Häuser und Ställe entspricht nun mehr und mehr dem bekannten Berner Stil. Sie strahlen etwas aus, etwas Gemütliches, Warmes, sowas wie ein Hauch Geborgenheit in dieser kalten Welt.

Beim Emmentaler-Haus  überdeckt ein breites, aufgefächertes Dach den Wohnbereich, die Tenne und den Stall. Das weitausladene Vordach (Ründe) schützt zwar die Fassade, lässt aber im Obergeschoss kaum Licht zu den Zimmern. Der oft zentrale Eingang führt an zwei Stuben vorbei zur Küche. Diese Längsteilung ermöglicht es, von zwei Familien bewohnt zu werden. Der Haustyp im Emmental ist ein Ständerbau, der vorwiegend aus Holz gebaut wird. Das Haus ist ein Vielzweckbau. [aus „Regionaltypische Gebäude in der Schweiz“]

 

Typical Bernese architekture

Das Dorf scheint ausgestorben zu sein, niemand weit und breit, ein Geisterdorf.

Wo sind die Einwohner? Handelt es sich um ein typisches Schlafdorf, wo man eben nur schläft und den Rest des Tages auswärts verbringt? Es macht den Anschein. Diese Dörfer gehören definitiv nicht zu meinen Lieblingen. Alles, was ein Dorf lebenswert macht, fehlt hier, und seien es nur Kinderstimmen, Teenager auf getunten Mofas, Läden oder Restaurants und Spaziergänger auf der Strasse. Schwatzende Frauen an der Haustür.

So stelle ich mir eine leblose Geisterstadt vor, wie Consonno in der Lombardei.

Since a landslide buried the only access road in 1976, Consonno has been abandoned.
Seitdem 1976 ein Erdrutsch die einzige Zufahrtsstrasse verschüttete, ist Consonno verlassen (copyright Tagesanzeiger).

Kein Mäuerchen, keine Sitzbank am Strassenrand, kein Brunnen zu sehen, ich bin aber trotzdem hungrig und möchte irgendwo im Schatten mein wohlverdientes Mittagessen einnehmen. Ein Apfelbaum, noch voll von reifen Früchten, erregt meine Aufmerksamkeit. Ich räume ein Stück Boden frei von verfaulenden Früchten und setze mich ins Gras.

Immerhin bin ich nicht ganz allein unter meinem Apfelbaum, in der Nähe haben sich ein paar Kühe in den Schatten gelegt, während sie gelassen und entspannt zum x-ten Mal ihr Gras wiederkauen. Ich fühle mich ihnen nahe, schon beinahe verwandt, und sei es nur durch das gemeinsame Ziel, in aller Ruhe im Schatten zu sitzen oder zu liegen und etwas zu essen.

 

Cows in the shade

 

Das Naturschutzgebiet Auried

Manchmal erlebt man Überraschungen. Eine davon ist das berühmte Naturschutzgebiet Auried.

Auf dem Weg nach Laupen, das schnell näher kommt, stehe ich unvermittelt an einer Hecke, die ein besonderes Bijou verdeckt. Es muss sich um ein Schutzgebiet handeln, doch erst die Recherche im Internet gibt Auskunft.

Immer wenn ich sowas sehe, bin ich seltsam gerührt. Allein die Tatsache, dass die Kommunen oder der Kanton oder der Staat Geld ausgibt, viel Geld, um ein Stück Natur zu erhalten, produziert Glücksgefühle und für einen Augenblick die Überzeugung, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren ist. Solange sich jemand verantwortlich dafür fühlt, Fröschen und anderem Getier eine Heimat zu verschaffen, kann es Hoffnung geben.

 

Nature reserve Auried 1

Nature reserve Auried 2

Mit Einbruch der Dämmerung versammeln sich an den Weihern des Aurieds ganze Horden kleiner, grüner Quaker. Es sind Laubfrosch-Männchen, die im Frühling – bis gegen Mitternacht – mit geblähter Schallblase lauthals nach paarungswilligen Weibchen rufen.

Eine der grössten Laubfrosch-Populationen der Schweiz hat im Auried sein Zuhause. Die heute sehr selten gewordene Froschart schätzt die gut besonnten Gewässer im ehemaligen Kiesabbaugebiet als Laichplätze. Die Feuchtwiesen mit Einzelbäumen dienen ihnen als Sommerlebensraum. Aber auch andere Amphibien, Watvögel, Libellen und weitere Wirbellose fühlen sich in der strukturreichen Landschaft rundum wohl. Damit dies in Zukunft so bleibt, lässt Pro Natura gegen die Verbuschung Schottische Hochlandrinder weiden. Zudem werden die Flächen mit zusätzlichen Pflegemassnahmen offen gehalten.

 

The Saane shortly before Laupen

Unweit des Aurieds, bereits in der Nähe von Laupen, vereinigen sich Saane und Sense, die arme Sense hört auf zu existieren. Beim Zusammenfluss spielen Kinder, geniessen das heisse Spätsommerwetter.

Der Gasthof Bären in Laupen scheint aus einer anderen Epoche zu stammen, einer längst vergangenen, und wenn es einen Beweis dazu braucht, genügt ein Blick auf mein Zimmer. Es könnte durchaus im letzten oder vorletzten Jahrhundert gewesen sein, draussen fahren Pferdekutschen vorbei, die Männer tragen steife Hüte, die Frauen lange Röcke. Es ist winzig, besitzt weder Toilette noch Dusche noch Lavabo. Egal.

Aber was soll’s – es gefällt mir trotzdem.

 

Am Stammtisch

Vor dem Nachtessen genehmige ich mir das übliche hochverdiente Bier. Die Dame des Hauses setzt mich an einen runden Tisch im Gartenrestaurant, doch kaum habe ich den ersten Schluck genommen, steht eine Dame in den besten Jahren vor dem Tisch und fragt, ob sie sich setzen darf.

Es ergibt sich in kurzer Zeit eine herzliche Unterhaltung, die lediglich unterbrochen wird durch weitere ältere Herrschaften, die sich ebenfalls zu uns setzen. Upps, bin ich hier an einem Stammtisch gelandet? Meine diskrete Frage danach wird positiv beantwortet. Es handelt sich tatsächlich um den Stammtisch dieser Leute, die sich jeden Donnerstag hier treffen. Meine schüchterne Frage, ob ich den Platz räumen soll, wird lachend abgelehnt. Vielleicht bringt der komische fremde Kerl etwas Abwechslung in die Runde.

Cracker barrrel in Laupen

Und so wird der Abend erstens lustig und zweitens mit mehr Alkohol unterstützt, als mir lieb ist. Morgen steht eine lange Etappe bevor, ein Kater ist das letzte, was mir fehlt.

Aber wie gesagt, Abwechslung tut not, ich werde bereitwillig in den trauten Kreis aufgenommen und nach knapp einer Stunde mit dem ersten Kupplungsversuch konfrontiert. Ausserdem überlegt man sich, ob man die letzte Etappe im Tessin nicht gemeinsam absolvieren könnte.

Na denn, was kann mir da noch passieren?

Auf jeden Fall ist es stockdunkel, als ich endlich zu meinem Dinner komme, und es fällt, der Dunkelheit oder meiner Betrunkenheit geschuldet, ziemlich schwer, das Essen zu erkennen. Aber es mundet auf jeden Fall, was immer es gewesen sein könnte …

 

Passender Song: Inspiral Carpets – Two Worlds collide

Und hier geht der Trail weiter … nach Bern, in die Bunderhauptstadt

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die Vollkommenheit des Tages

Man würde meinen, dass ein chinesisches Frühstück aus Reissuppe oder Nudelsuppe besteht, vielleicht noch aus Jiaozi mit Hackfleisch und Chinakohl gefüllt. Oder auch Baozi oder Youtiao. Das hätte mir gefallen.

Aber nichts dergleichen. Man hat sich an die lokalen Essgewohnheiten angepasst und serviert Brot mit Butter und Marmelade und Käse und Schinken. Das Brot allerdings, das muss gesagt werden, ist das beste, was ich seit Monaten gegessen habe. Und das in einem chinesischen Hotel.

Die Wege des Herrn sind wirklich unergründlich.

Anyway, um 9.50 fährt das Schiff ab, ich kann mir Zeit nehmen, würde liebend gerne mit dem Personal auf Mandarin die letzten Gerüchte und Neuigkeiten diskutieren, aber eben, mein Chinesisch beschränkt sich auf Danke und sonst nichts. Schade.

Das Schiff scheint bereit zu sein für die Abfahrt, ich steige ein, freue mich auf die Überfahrt, während mein Herz etwas schwer wird beim Gedanken an den Abschied von Neuenburg, das mir so sehr gefallen hat.

Aber dann geht’s los. Das Schiffshorn tutet und kräftige Dieselmotoren bringen das Schiff in Bewegung.

Ich bin zwar weiss Gott keine Wasserratte, aber solche Überfahrten sind schon eine besondere Freude. Und da, ein riesiger Vogelschwarm, den ich leider nicht einer bestimmten Art zuordnen kann, zieht pfeilschnell knapp über das Wasser der Stadt zu. Sind es Zugvögel, die sich hier sammeln? Keine Ahnung.

 

Bye bye Neuchatel

Last glimpse on the Chaumont

Neuchatel stays behind

 

 

Zwischen Wäldern und Wasser

Auf mich wartet offenbar wieder mal eine grossartige Etappe, gemäss meinem Lieblingsautor und -wanderer Patrick Leigh Fermor ein Weg zwischen Wäldern und Wasser.

Auch der Guide ist begeistert:

Der Neuenburgersee wird mit dem Schiff überquert. Von weitem grüsst der imposante Mont Vully. Der Aufstieg ist steil, aber kurz. Oben wartet eine tolle Rundsicht. Durch den prächtigen Uferwald Le Chablais geht es ins mittelalterliche Städtchen Murten.

 

From Neuchâtel to Murten

Weder Guide noch Fermor haben sich getäuscht – sobald man in Cudrefin das Schiff verlässt, findet man sich auf einem traumhaften Pfad wieder, der mal durch dichten Wald, dann wieder entlang dem See führt.

Es gilt wieder einmal, die Momente auszukosten, langsam zu gehen, der Schönheit ihren Platz und ihre Zeit zu geben. Fernando Pessoa würde von der strahlenden Vollkommenheit des Tages reden. Ich muss ihm zustimmen. Jawohl.

Und so geht der Weg weiter, immer weiter, der Sonne und den Schatten nach, der Vollkommenheit des Tages.

Danach folgt das Naturschutzgebiet des Grand Caricaie. Das Gebiet ist ein wichtiges Zwischenziel für die Vögel auf dem Weg von den nordischen Steppen zu den Küsten Europas und Afrikas. Nirgends in der Schweiz leben mehr Vogelarten als hier.

 

It's just a path, but as every one still a miracle

And then the lake again, with all its splendor

The trees bow to each other (Aragorn to the Hobbits: you bow to noone)

Hanging branches or are they beards of dwarfs?

Und da, mitten im Gehölz, ein besonderer Leckerbissen für Spechte. Für sie muss es wie eine Art Tafelschmaus für Ritter und Prinzessinnen sein. Ich höre in Gedanken das rhythmische Klopfen der scharfen Schnäbel auf das wehrlose Holz. TOK TOK TOK.

Tok tok tok ….

 

A tidbit for woodpeckers

 

Befestigungen, Findlinge und Nüsslisalat

Etwas später verlässt der Weg den Neuenburgersee und zweigt nach Osten ab, von jetzt an dem Broyekanal (Canal de la Broye) folgend. Er verbindet den Murtensee mit dem Neuenburgersee.

Dieser letzte Abschnitt zwischen Murten- und Neuenburgersee wird auch Broyekanal (frz.: Canal de la Broye) genannt. Ein Kanal mit ähnlichem Verlauf wurde schon von den Römern verwendet, unter anderem für den Fernhandel sowie für die Materialbeschaffung zum Bau von Aventicum (Steinbrüche im Jura).

Alle paar Minuten wird die Stille durch das Röhren von kräftigen Aussenbordmotoren durchbrochen. Man wähnt sich irgendwo an der Côte d’Azur, wo sich Millionäre und russische Oligarchen tummeln. Hier sind es wahrscheinlich aber nur ein paar Möchtegern Millionäre, die Boote sind zwar laut und schnell, aber klein und unbedeutend. Alles ist relativ.

 

Roaring boats on the Broye Canal

Noch weiter dem Kanal entlang findet man sich plötzlich vor einer überdimensionierten offenen Halle, in der bei näherer Untersuchung Nüsslisalat angebaut wird. Man könnte meinen, dass die halbe Schweiz damit versorgt werden könnte.

 

Lamb's lettuce for half of Switzerland

Aber der Weg hat weitere Leckerbissen zu bieten.

Beispielsweise, versteckt hinter Gebüsch und Bäumen, ein riesiger Findling, vom Rhonegletscher von der Furka bis hierher transportiert. Er hat eine lange Reise hinter sich, der alte Stein.

Was könnte er uns wohl erzählen? Seit der letzten Eiszeit vor gut 20’000 Jahren ist viel Zeit vergangen. Eigentlich alles Wichtige, was die Entwicklung des Homo Sapiens betrifft, ist in diesen Jahren (ein Augenzwinkern gemessen an der Zeit seit dem Big Bang) geschehen. Was sind wir doch für Wichtigtuer.

Wie gesagt, alles ist relativ.

 

A boulder, originating from far awaym transported here by a glacier

 

Der Mont Vuilly

Doch dann beginnt der Aufstieg zum Mont Vuilly.

Nach knapp eineinhalb Stunden steht man vor dem Mont Vully und verlässt das Naturschutzgebiet. Der kleine Hügel besticht durch seine aussergewöhnlich schöne Lage zwischen dem Neuenburger-, Bieler- und Murtensee. Ein kurzer Aufstieg und man befindet sich bereits oben auf den riesigen Ackerflächen. Im Frühling blüht hier der Raps in leuchtendem Gelb. Der Abstieg erfolgt auf der Südseite. Statt Raps stehen hier in Reih und Glied die berühmten Weinberge des Mont Vully. Chasselas und Pinot Noir sind die wichtigsten Rebsorten des Gebiets. Aber auch Merlot, Chardonnay oder Gamaret werden hier gekeltert. Der Panoramablick über die Ebene und die Alpen im Hintergrund sucht seinesgleichen.

Der Pfad ist manchmal steil und anstrengend, dann wieder leicht und luftig durch schattige Wälder. Und die Aussicht auf den Murtensee ist phantastisch.

 

Up to the Mont Vuilly

Fabtastic view on the Lake of Murten

 

Helvetische Befestigungsruinen

Aber dann. ganz unerwartet (die Geschichte der Helvetier, notabene unsere gemeinsamen Vorfahren, hat sich längst aus meinem Gedächtnis verflüchtigt), eine uralte Befestigungsanlage der Helvetier. Auch nach hunderten von Jahren noch gut erhalten und zeigt, was die damaligen Baukünstler zu bieten hatten.

Ich zitiere aus mehreren Artikeln:

Dort gibt es neben der Aussicht und allerlei Kunst auch ein helvetisches oppidum zu entdecken. Von der befestigten Stadt, die in den letzten zwei vorchristlichen Jahrhunderten rund 50 Hektaren umfasste, ist ausser einer rekonstruierten Wehrmauer aber nichts mehr zu sehen: Die Helvetier hatten ihre Stadt 58 v. Chr. selber zerstort, bevor sie unter dem greisen Fuhrer Divico gegen Casars Legionen zogen und bei Bibracte in Burgund unterlagen.

Der Mont Vully beherbergt ein reiches historisches Erbe. Auf seinem flachen Rücken bestand wahrscheinlich bis zur Auswanderung der keltischen Helvetier um 58 v. Chr. ein Oppidum, dessen Festungswall noch heute gut sichtbar ist. Nach der durch Gaius Iulius Caesar erzwungenen Rückkehr der Helvetier wurde jedoch anstelle des Oppidums auf dem Mont Vully ein neues in der Nähe von Avenches errichtet (im Bois de Châtel).

 

Man steht ein bisschen ehrfürchtig vor den uralten Bauten und versucht sich vorzustellen, wie die damalige Welt ausgesehen haben muss. Eine gewalttätilge Welt (beinahe wie heute), eine Welt, in der nichts sicher war. Wo alles zerbrechlich, gefährdet, bedroht war. Wo der Feind um die nächste Ecke lauerte. In diesem Fall der alte Julius Cäsar und seine römischen Kohorten.

Lange her.

Aber auf der anderen Seite wartet die Gegenwart in Form von weitflächigen Rebbergen.

Der Weinberg von Vully hat eine Gesamtfläche von 152 ha (102 ha im Kanton Freiburg und 46 ha im Kanton Waadt). Die Hauptrebsorten des Vully sind Chasselas (mit 60 % der Produktion) und Pinot Noir (25 %). Der Hauptmarkt für Vully-Weine ist die deutschsprachige Schweiz mit rund 80 % des Verbrauchs, der Rest wird hauptsächlich im Kanton Freiburg verkauft.

Keine Ahnung, ob die diesjährige Trochenperiode Schaden angerichtet hat. Die Trauben sehen auf den ersten Blick gut aus, aber ich bin ja kein Experte.

 

Vineyards at Mont Vuilly

Seems like a good vintage

 

Erinnerungen an die Expo 2002

Nach Sugier folgt der Weg dem Murtensee entlang. Er ist lang, sehr lang, immerhin belohnt er mit immer wieder phantastischen Ausblicke auf den sich im Wind kräuselnden See. Dann wieder versteckt sich der Pfad in dichtem Wald, manchmal ist keine Menschenseele zu sehen, dann wieder ganze Gruppen, die sich offenbar für die reichhaltige Vogelwelt interessieren.

 

Across the Murten lake Lake Murten

Ich bleibe aber erst stehen, als mir ein kleines Gebäude am Ufer ins Auge fällt.

Es erinnert an die Expo 2002, die Schweizer Landesausstellung, die mir immer noch im Gedächtnis geblieben ist. Neben all den wunderbaren Exponaten in Biel und Neuenburg erinnere ich mich vor allem an den verrosteten Monolith, der genau an diesem Platz im See draussen stand.

Ein Anblick für die Götter.

Allen Anstrengungen zum Trotz konnte keine Lösung gefunden werden, den Monolith im Murtensee zu erhalten oder ihn zumindest an einem anderen Ort aufzustellen.

Sehr schade.

 

Expo.02 was the 6th Swiss national exposition - the Monolith

 

Endlich Murten

Jedes Kind kennt diesen Spruch:

Karl der Kühne verlor bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut.

Ob sich die Geschichte genau so abgespielt hat, bleibt dahingestellt. Aber dass das Städtchen Murten historisch gesehen eine Rolle gespielt hat, ist unbestritten.

Ich bin froh, das heutige Tagesziel erreicht zu haben. Ich bin mal wieder fast zwei Stunden länger unterwegs gewesen als im Guide angegeben. Immerhin erwische ich noch den einen oder anderen Blick auf das alte Städtchen mit seiner reichhaltigen Geschichte.

 

Ascent to the center of town

Old towers face darkness and night

Aber dann genug der Wälder und Wässer und Burgen und Findlinge, alles was mein Herz begehrt, kann mit einer heissen Dusche und einem kühlen Bier gedeckt werden.

 

Passender Song:  Noir Désir – Le Vent nous portera

Und hier geht der Trail weiter … nach Laupen tief im Bernbiet

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Zurück in Jinghong

Als Wanderer ist man per se jemand, der die Umwelt schützt, der das Klima schont, keine Parkplätze braucht und auch sonst – mein eigener Beitrag zu dieser Theorie – ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist.

Zu meinem Erstaunen findet der Patron des Hotels genau das gleiche und gewährt mir doch gleich einen Rabatt von 10 Franken für meinen grossherzigen Beitrag zur Erhaltung der Welt. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber für einmal komme ich mir doch glatt vor wie ein Held und stolziere mit geschwellter Brust aus dem Hotel, dem heutigen Etappenziel Neuenburg (oder Neuchatel auf gut französisch) entgegen.

Der Patron gibt mir noch einen Tipp: nicht die übliche Route gemäss Trans Swiss Trail nehmen, sondern den Weg über den Chaumont.

Gut, werde ich mir merken.

Der Guide weiss natürlich nichts davon und erzählt zur Etappe folgendes:

Das Val de Ruz entpuppt sich als ideales Wandergebiet. Auffallend die vielen Dorfbrunnen und massiven Kirchtürme. In Engollon befinden sich die einzigen Wandmalereien des Kantons Neuenburg aus der Zeit vor der Reformation. Aussichtsreicher Abstieg nach Neuchâtel.

Das klingt ja alles wunderbar, aber der Chaumont besitzt eindeutig mehr Überzeugungskraft, also wende ich mich kurz nach Dombresson dem alternativen Weg zu. Und meine tatsächlichen Werte sehen dementsprechend etwas anders aus:

Länge 16.10 km; Wanderzeit 6 h 16 min

 

From Dombresson to Neuchatel

 

Alleen und Schweine und der Chaumont

Der Patron hat nicht zu viel versprochen. Der Weg über die weite Ebene des Val de Ruiz ist ein einziges Vergnügen, auch wenn es meistens entlang Asphaltstrassen geht. Die Umgebung ist aber derart bezaubernd, dass dies zur Nebensache wird.

Und so werde ich einmal mehr zum wandelnden Meditationskünstler, tief in Gedanken versunken, auch wenn alle Sinne offen und empfänglich sind für alles, was mich umgibt.

 

Across shady alleys to Savagnier

Nur ein paar zarte Wolken sind die Garnitur zum blauen Himmel, und sonst – nichts, nur Sonne und Wärme und ein Windchen, das mir sachte ums Gesicht weht, ein Gruss vom Himmel. Manchmal gehen mir die Superlative aus, bei so viel Schönheit muss sogar die Poesie schweigen.

 

Sheep and ... ... lovely pigs

Zur Abwechslung grunzen und blöken mir ein paar niedliche Tiere entgegen, man möchte sie am liebsten mitnehmen. Ob der Wirt im Hotel in Neuenburg Freude daran hätte, ist allerdings eine andere Frage.

Das Schaf findet den seltsamen Kerl für knapp zwei Sekunden interessant, dann widmet es sich wieder der Suche nach Essbarem. Das Schwein hingegen, mit ziemlichem Hängebauch (handelt es sich um ein Hängebauchschwein?), ignoriert mich mit leisem Grunzen. Dem sage ich Desinteresse. Ich kann es ihm nicht verdenken.

 

Just blue and green and some trees Just a few clouds on the azure sky

Man bekommt unwillkürlich den Eindruck, dass dieser blaue Himmel, diese beinahe religiöse Stille rings herum, diese sich im Wind wiegenden Bäume, nur für mich gemacht sind. Für wen denn sonst, denn es ist niemand da, keine lebende Seele, nicht mal ein Auto oder ein Traktor oder sonstwas.

Also labe ich mich in diesem erhabenen Gefühl, für einmal der einzige Mensch auf Erden zu sein. Na ja, nicht ganz, da scheint doch tatsächlich jemand auf dem Acker zu stehen, ein Bauer? Auf jeden Fall zerstört er meine salbungsvollen Gedanken. Was auch sein Gutes hat …

 

Aufwärts – dem Chaumont entgegen

In Savagnier, kurz bevor der Aufstieg zum Chaumont beginnt, quatsche ich einen freundlichen älteren Mann an, man will ja gelegentlich sein Französisch anbringen. Er entpuppt sich aber als waschechter Berner, und so ist wieder nichts mit meinen Sprachbemühungen.

Auf jeden Fall findet er die Idee, über den Chaumont nach Neuchatel zu wandern, grossartig und schwärmt von der Schönheit des Hügels, der im übrigen eine topographische Fortsetzung des Chasseral bildet.

Diese Auskünfte versüssen mir natürlich den Aufstieg, auch wenn ich mich nach einer dreiviertel Stunde frage, wann denn dieser steile Weg endlich ein Ende hat. Denn er geht eigentlich in die komplett falsche Richtung, aber was soll’s, die Wegweiser werden es wohl wissen.

 

Upwards to the Chaumont

Und so wandere ich, langsam und mit geblähten Nüstern, aufwärts, bis doch tatsächlich das Ende des schnurgeraden Wanderweges auftaucht.

Er mündet allerdings in eine befestigte Strasse, an der heftig gebaut wird. Baumaschinen rattern, Arbeiter wuseln herum, man will der Strasse offenbar neuen Glanz verleihen. Zum Glück zweigt der Wanderweg von der Strasse weg, der Lärm der Baumaschienen verklingt zwischen den Bäumen.

 

Back in the woods
Nichts gefällt mir mehr als diese Waldwege …
A short break in the forest
… und natürlich die Pausen im lautlosen Wald …

 

Nicht mehr allein

Eine ganze Weile bin ich noch allein, der Wald riecht nach Sommer, nach Feuchtigkeit, nach verstecktem Leben. Ich setze mich auf einen Baumstrunk, esse geruhsam, lausche den Geräuschen des Waldes und bin wieder mal sehr glücklich.

Eigentlich habe ich auf dem beliebten Ausflugshügel massenweise Leute erwartet, aber die sind offenbar alle am Arbeiten oder was auch immer. Aber kaum gedacht, schon ändert sich alles, denn eine Schulklasse lärmt den Weg entlang, es wird laut, aber irgendwie auch schön, die Kinder und Jugendlichen in fröhlicher Stimmung zu sehen. Der Dialekt weist auf die Ostschweiz hin, ein Schulausflug zu den Welschen, wie’s aussieht.

Man wirft mir ein paar neugierige Blicke zu, denkt sich vermutlich, wie man sich freiwillig sowas antun kann.

Egal, der Weg führt nun bergab, es ist viel weiter als gedacht, immerhin blinkt ein blauer Gruss zwischen den Bäumen hindurch. Der See ist nicht mehr weit, so scheint es, aber wie immer wird man an der Nase herumgeführt. Es ist nämlich noch weit, sehr weit.

 

First glimpse of the lake

Immerhin gibt es nahe am Weg ein Restaurant, die Aussicht auf den See und die malerische Umgebung ist perfekt. Ich genehmige mir einen Kaffee, strecke die Beine aus, lausche den Gespräche der zahlreichen Gäste. Es ist wie immer eine Wohltat, allein zu sitzen, sich nicht zugehörig zu fühlen und trotzdem ein Teil davon zu sein.

Ein Teil wovon? Keine Ahnung …

Anyway, der endlos scheinende Weg trifft irgendwann auf den Trans Swiss Trail, back on track, die Stadt kommt näher, saugt mich in Blitzesschnelle auf. Verkehr, Gehupe, Nervosität, alles, was zu einer modernen Stadt gehört. Während ich etwas irritiert durch die lärmige Umgebung stadtabwärts dem See zustrebe, erreicht mich ein SMS eines alten Freundes, der eben auf einem Ausflugsschiff in den Hafen einfährt. Ich eile zwar, nur nützt es nicht viel, denn die Passagiere bleiben auf dem Schiff. Also bleibt nur ein langer Blick, und schon verschwindet das Schiff wieder.

 

Jinghong revisited

Eigentlich verrückt – ich bin mehrere Male in dieser Stadt gewesen und kenne sie doch nicht. Vom Bahnhof mit dem Bus zum Kunden und am Abend wieder zurück. Keine Zeit für Sightseeing, keine Chance, ausserhalb des Jobs etwas kennenzulernen.

Eine Schande, wie ich jetzt feststelle.

Denn die Stadt hat mich innerhalb Minuten mit ihrem Charme, ihrer Offenheit, ihrer Freundlichkeit überwältigt. Mein Hotel liegt überraschenderweise direkt am zentralen Platz in der Altstadt. Also langweilig wird es mir hier nicht werden.

Und noch überraschender ist die Tatsache, dass das Hotel du Marché von Chinesen geführt wird. Ich trete hinein und fühle mich gleich an Jinghong erinnert. Eine Gruppe chinesisch sprechenden Personen mit sehr chinesisch aussehenden Gesichtern sitzt um einen Tisch herum und mustert den komischen Kerl mit den verdreckten Wanderschuhen. Ich vernehme leises Lachen, was mich wiederum an China bzw. Hongkong erinnert.

In Jinghong wurde ich schwupps in den Kreis einer mehrköpfigen Familie mit Baby aufgenommen, nachdem ich ihr meinen Tisch im Restaurant zur Verfügung gestellt hatte. Und in Hongkong merkte ich erst nach einer Weile, dass ich das ungewollte Objekt grosser Belustigung wurde, weil man meine äusserst untalentierten Versuche, mit Stäbchen zu essen, am Nebentisch beobachtet hatte.

Wie auch immer, die Dame des Hauses schaut zwar etwas verblüfft, doch dann nickt sie, und ich nehme stolz meinen einzigen Ausdruck auf chinesisch hervor und bedanke mich. 谢谢你 (Danke, Deepl Translate, ich hoffe, es stimmt).

 

Neuchâtel – unbekannte Stadt

Der Gang durch die Feierabend Stadt erinnert mich einmal mehr daran, was man alles verpassen kann, weil man vermeintlich keine Zeit hat. Ich muss es wiederholen: diese Stadt ist ein Besuch wert.

Der Guide meint dazu:

Neuchâtel hat einen mittelalterlichen Stadtkern mit vielen Cafés und Restaurants, Museen und Theatern. Die Uhrenindustrie spielt auch hier eine wichtige Rolle. Das Observatorium im Forschungszentrum zeigt die Schweizer Zeit auf Sekundenbruchteile genau an. Am Hafen endet die sechste Etappe des Trans Swiss Trail. Von Porrentruy bis Neuenburg konnte man den ganzen Weg über knapp 100 Kilometer zu Fuss zurücklegen. Die Etappe sieben beginnt dann mit der Schifffahrt nach Cudrefin.

Am Ufer des Sees, der in allen Nuancen von blau den späten Nachmittag beleuchtet, stehen still und wahrscheinlich seit Ewigkeiten Gestalten, denen ich aber keine Namen zuweisen kann. Vielleicht handelt es sich um den anonymen Bürger namens Jeanneret (der häufigste Name in der Stadt), oder eine Dame mit Namen Madame Huguenin. Möglicherweise sind es historische Einwohner der Stadt, denen man hier ein Denkmal gesetzt hat.

Auf jeden Fall sind sie sehr beliebt bei jedem Fotographen und dienen ausserdem als wunderbare Sujets für die unausweichlichen Selfies.

 

Monsier Jeanneret und ...

... and Madame Huguenin

Der Abend und die Nacht fallen langsam und unausweichlich über die Stadt mit seinen den Feierabend geniessenden Bürgern, zu denen ich mich heute ausnahmsweise auch zähle. Ich setze mich inmitten der fröhlich schwatzenden Gesellschaft an einen Tisch und trinke langsam und genussvoll mein Bier.

Das gleiche Gefühl wie letztes Jahr in Vevey – hier könnte ich leben. Mehr Gutes kann man über einen Ort nicht sagen.

 

A well-earned beer in Neuchatel

 

Passender Song:  Bob Seger – Fire Lake

Und hier geht der Trail weiter – nach Murten und bye bye la Suisse française

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Düstere Gedanken an einem schönen Tag

Manchmal, glücklicherweise nicht allzu oft, gibt es Tage, die alles andere als eine Wohltat sind. Mit anderen Worten, Scheisstage.

Der Scheisstag beginnt schon früh, eigentlich hört der gestrige Tag gar nie wirklich auf. Er verschafft mir trotz angenehmer Umgebung und weichem Bett eine beinahe schlaflose Nacht, wie immer schwierig zu erklären. Zu grosse Pizza? Zuviel Bier? Allergie?

Anyway, morgens um halb sechs falle ich zwar endlich in einen unruhigen Dämmerzustand, kaum als Schlaf zu bezeichnen, und kurz nach sieben erwache ich bereits wieder. Keine gute Voraussetzung für einen Wandertag.

Das opulente Frühstück in der Küche der Wohnung vermag aber meine müden Geister aufzuhellen. Die Wohnungsinhaber, ein freundliches Paar in den besten Jahren, setzt sich dazu und bringt mir die Geheimnisse von St. Imier näher.

 

St. Imier

Das Städtchen hat offenbar eine lange Geschichte, und diese geht vor allem auf eine lange und erfolgreiche Uhrmachertradition zurück. Ich zitiere Wikipedia:

Saint-Imier war bis Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich von der Landwirtschaft geprägt. Danach entwickelte sich im Ort die Uhrmacherei, zuerst teilweise in Heimarbeit und in kleinen Werkstätten, später auch in Fabriken.

1866 wurde die Compagnie des Montres Longines Francillon SA gegründet. Breitling, Blancpain, Chopard und TAG Heuer stammen ebenfalls ursprünglich aus Saint-Imier.[10] Mit der Uhrenindustrie setzte ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung ein und die Bevölkerung wuchs von 2632 Einwohnern (1856) auf 7557 Einwohner (1888).

Saint-Imier wurde zum Zentrum der Uhrenherstellung im Vallon de Saint-Imier und erlebte nach 1880 eine Blütezeit, in der zahlreiche grosse Industriebauten erstellt wurden. Durch die Krise in der Uhrenherstellung ab 1970 hat der Ort schwer gelitten. Hunderte von Arbeitsplätzen gingen verloren und die Bevölkerungsabnahme verstärkte sich.

Heute hat sich die Gemeinde auf die Mikromechanik und die Produktion von Präzisionsgeräten spezialisiert. Weitere Arbeitsplätze gibt es auch in der Herstellung von Uhrengehäusen. 

 

St. Imier

Der Niedergang ist spürbar, wenn man durch die Strassen geht. Die Stadt sieht wenig belebt aus, obwohl die typische welsche Lebensfreude doch da und dort noch zu spüren ist. Wenn man bedenkt, dass das Städtchen in seinen besten Jahren beinahe doppelt soviele Einwohner hatte, dann wundert man sich nicht.

Wie auch immer, ich verabschiede mich von meinen temporären Gastgebern und mache mich auf in Richtung Dombresson.

 

Topform

Überraschenderweise fühle ich mich trotz Schlafmangel in Topform, der Weg ausserhalb der Stadt macht es mir einfach. Wenn das so weitergeht, bin ich ganz zufrieden.

 

The path stays pleasant

Der Travelguide macht Lust auf eine einfache, relativ kurze Etappe :

Vom Uhrmacherstädtchen in die Kornkammer des Neuenburgerlandes. Dabei geht es durch eine Klus, wie sie für das Kalkgestein der Jurakette typisch ist. Abstieg ins Val de Ruz durch einen schattigen Wald. Überragt wird die Ebene vom Chasseral mit seiner grossen Antenne.

St. Martin hat offenbar vergessen, vernünftige Unterkünfte bereitzustellen, und so bin ich gezwungen gewesen, ein Hotel in Dombresson zu suchen. Es gilt also, die richtige Abzweigung zu finden.

 

From St. Imier to Dombresson

Und tatsächlich, die ersten Kilometer führen entlang Wiesen und Wälder, man erklimmt leichten Schrittes sanfte Hügel, der Himmel, manchmal stahlblau und wolkenlos, dann wieder überzogen mit weissem Geflecht.

Die Schönheit der Gegend bringt einem aus dem Gleichgewicht, man möchte sich niedersetzen und nur noch staunen über die Welt, die hier noch seltsam intakt scheint, beinahe unberührt durch die Eingriffe des Homo Sapiens.

 

Green and blue - that's all I need

 

Düstere Gedanken

Der Gegensatz zwischen dem, was Auge und Herz entzückt, und dem, was der Kopf für die Zukunft des Planeten befürchtet, könnte nicht grösser sein.

Hier grünes saftiges Gras, Wälder mit (auf den ersten Blick) gesunden kräftigen Bäumen, angenehme Temperaturen. Und dort, vielleicht zu weit weg, um sich grosse Sorgen zu machen (so tickt der Mensch), verbrannte Erde, unertragliche Hitze, verhungernde verdurstende Tiere auf toten Weiden.

Und so kann ich die seltsamen düsteren Gedanken, die immer dann auftauchen, wenn sich die Welt in aller Pracht darbietet, nicht verdrängen. Wir alle sind uns bewusst, was es geschlagen hat. Die Uhr tickt, TICK TICK TICK, unser wunderbarer Planet geht einer heissen, unbewohnbaren Zeit entgegen. Punkt.

Die Menschheit zieht es vor, in einer seltsam apathischen Ruhe zu verbleiben, in der Hoffnung, dass unsere technologischen Entwicklungen den Armageddon verhindern werden.

Ich, als geborener Optimist, habe in den letzten Jahren jede Hoffnung auf das Veränderungspotential des Menschen aufgegeben. Sind wir zu dumm, zu schwach, um unser Verhalten zu ändern? Man macht einfach weiter, so wie immer, und hofft darauf, dass es nicht allzu schlimm werden wird.

Düstere Gedanken an einem derart schönen Tag.

Dabei bin ich eben daran, die Wiesen zu verlassen und mit ihnen das Vallon de St. Imier, und zwischen die Bäume einzutauchen.

 

Entrance to the forest kingdom

Der Himmel verschwindet immer wieder zwischen den Ästen, nur gelegentlich erweisen ihm die Bäume einen kurzen Gruss. Der Gang ist leicht, die bösen Gedanken krakelen nicht mehr herum, verschwinden vorübergehend im Unterbewusstsein.

 

These are the prefered paths, covered by trees

Ich geniesse die Abschnitte durch den Wald, es geht eine Weile aufwärts, ein einsamer Baum, liebevoll eingerahmt durch dunkle Wolken, weist mir den Weg.

 

A tree points the way upwards

 

Unfreiwillig auf Teerstrassen

Leider hat das Vergnügen schon bald ein Ende.

Der Rest der Etappe findet mehrheitlich auf Teerstrassen statt. Nicht das, was ich mir wünsche, aber manchmal kommt die beste Routenplanung an ihre Grenzen, weil es einfach keine anderen Möglichkeiten gibt.

Und so trampe ich vor mich her, ein bisschen verärgert, wir immer, wenn das, was ist, nicht dem entspricht, was man gerne hätte. Eine Weisheit, die für das ganze Leben gilt.

Aber immerhin, nach einigen Kilometern erwische ich die richtige Abzweigung nach Dombresson, es geht abwärts, ich bin nun im Val de Ruz.

Das Hotel scheint geschlossen, also setze ich mich in die Gartenwirtschaft, strecke die Beine aus und fühle mich so wie immer, wenn ein Ziel erreicht ist.

Auf angenehme Weise müde, zufrieden und vollkommen im Gleichgewicht.

Das ist das, was man sucht, nicht nur auf Wanderungen.

Das Gleichgewicht.

 

Passender Song:  Soundgarden – Fell on black Days

Und hier geht der Trail weiter … nach Neuchatel

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Energie für die Zukunft

Eigentlich liegt mein enttäuschtes Auge auf dem mickrigen Frühstück, doch ich komme nicht umhin, dem Gespräch am Nebentisch zu lauschen.

Ein Paar ist in intensiven Diskussionen vertieft, doch ich benutze eine kleine Pause, um auf den tiefblauen Himmel hinzuweisen (das Wetter ist ein beliebter und meistens erfolgreicher Trick, ein Gespräch zu beginnen).

Daraus ergibt sich ein lebhaftes Gespräch, die Dame stammt offenbar aus Zürich, hat heute Geburtstag (many happy Returns!), ihr Mann ist englischer Abstammung und schweigt meistens, obwohl wir das Gespräch auf englisch führen.

Warum ich das erwähne? Beim Thema Wandern sagt die Dame etwas Besonderes. Sie behauptet, dass das Alleinwandern das beste Rezept gegen jede Art von Melancholie, Verzweiflung, Depression ist. Ich muss ihr beipflichten.

Natürlich vergesse ich dabei die Zeit, und so bin ich wieder einmal (nicht das erste und wohl nicht das letzte Mal) sehr spät beim Aufbruch.

 

Ein Morgen aus dem Bilderbuch

Es ist ein Morgen, der zum Sonntag passt.

Das tiefe Blau umarmt das Gebäude mit den beiden Türmen, verpasst ihnen kitschige Farben. Man könnte glauben, dass es ein spezieller Gruss zur Wiedergutmachung der gestrigen Turbulenzen sein könnte (was es natürlich nicht ist).

 

Saignelégier - this is the place where tje famous Marché Concours takes place

Auf diesem Platz vor diese, imposanten Gebäude findet jeweils der berühmte Marché Concours statt, das jährliche Pferdefest für, tausende von Zuschauern.

The famous Marché ConcoursDer Marché-Concours in Saignelégier zieht jedes Jahr mehr als 40’000 Besucher an, die sich ein Wochenende lang von einem vielfältigen Programm rund ums Pferd begeistern lassen: Reitvorführungen, Fohlenschauen und unzählige Pferde- und Wagenrennen, eine Vorführung des Ehrengastes sowie eine riesige Parade mit mehr als 400 Pferden.

Man kann es sich vorstellen. Die Wiese voller prachtvoller Wesen (die Pferde, nicht die Zuschauer), die jemand mal als Gottes liebste Geschöpfe bezeichnet hat.

 

Vom gleichen Stamm

Wenn es einen Beweis braucht, dass die ersten Kilometer meistens die schönsten sind (nicht immer), dann ist das dieser Morgen. Im Moment stören höchstens ein paar kaum sichtbare Wolkenschlieren die Perfektion des Bildes.

Die Beine bewegen sich von selbst, die gestrige Müdigkeit ist im Café du Soleil zurückgeblieben. Der Kopf ist leicht, die Gedanken fliegen, die Luft kühl und voller Hoffnungen. Die Landschaften sind schöner als das Leben (ich zitiere wieder mal Fernando Pessoa). Es ist still, nur ganz leise und weit entfernt das Schnauben eines Pferdes. Man müsste ewig verweilen können.

Jogger überholen mich leicht atmend, an diesem Morgen gibt es keine Anstrengung. Man nickt sich zu, man gehört zum gleichen Stamm, ist sich nicht mehr fremd. Sogar die ewigen Biker empfangen zur Abwechslung einen aufmunternden Blick.

 

Sunday morning coming down

Der Travelguide hat auch nur Gutes zu berichten:

Über saftige Matten, zwischen mächtigen Tannen zum «Energieberg» mit den von weitem sichtbaren rotierenden Propeller des Windkraftwerkes und den Solarzellen-Paneelen: die grösste Anlage für erneuerbare Energien in der Schweiz! Steiler Abstieg nach St-Imier.

Meine Werte: 20.97 km, 7 h 21 min

 

From Saignelégier to St. Imier

 

All die schönen Pferde

Man glaubt sich in der amerikanischen Prärie, fehlen bloss noch ein paar Indianer.

Manchmal bleibe ich stehen, ganz still, beobachte diese Geschöpfe des Himmels. Es ist die Perfektion der Natur, kein anderes Tier erreicht diese übernatürliche Schönheit (ich entschuldige mich beim Sibirientiger, beim Eisvogel, beim Rotaugenlaubfrosch und all den anderen Schönen dieser Erde).

Sie stehen nahe beisammen, als würden sie die gegenseitige Nähe suchen. Es gibt keine Zäune, keine Abschrankungen, ich bin für ein paar Minuten sozusagen ein Teil der Herde. Eines der mutigeren Pferde, eine Stute natürlich, sieht mich, kommt auf mich zu, ich halte den Atem an, dann drückt sie einen Augenblick lang ihren warmen Kopf an meine Brust und geht weiter.

Ein magischer Augenblick.

 

All the beautiful horses

Ich gehe entlang flacher Wiesen und verstreuten Bäumen Les Breuleux zu, das Dorf scheint ausgestorben, Sonntagmorgen. Man schläft aus (trotz des schönen Wetters), man bruncht, man nimmt sich Zeit, man sitzt an der Sonne.

 

Der Himmel bewölkt sich

Doch kurze Zeit später findet der Wettergott, dass es nun genug sei mit Sonne und blauem Himmel und schickt ein paar dunkle Wolken. In der Ferne, umrandet von eben diesen Wolken, sind die ersten Windräder erkennbar, schmale Silhoutten gegen den Himmel.

 

Sunday morning cow's rest
Sonntagmorgen Ruhe bei den Kühen

Weder Kühe noch Wanderer interessieren sich für die Vorgänge am Himmel, und so nähere ich mich dem Wald, passiere eine lärmige Gruppe von Sonntagsausflüglern, die hier ihr Picknick abhalten.

 

Noisy people celebrating Sunday morning

 

Der Wald und die Ruhe

Gott, wie ich diese Wege durch den Wald liebe.

Aller Lärm ist verstummt, manchmal der Schrei eines Vogels, weit weg, die Antwort seiner Geliebten.

Ich nehme mir Zeit, diese Abschnitte sind die schönsten. Einfach ein kaum sichtbarer Pfad quer durch eine Wiese, links und rechts hoch in den Himmel ragende Tannen, manchmal dicht beieinander stehend, darunter, mein Wegweiser. Dann wieder Hobbitland, die Bäume stehen so dicht beieinander wie im Düsterwald, ich erwarte aber auch heute keine räuberischen Spinnen.

Mitten im Wald befindet sich doch glatt ein Picknickplatz, Bänke, Tische, Feuerstelle, alles da, doch ich bin der einzige, der diese Vorzüge benutzt. Während ich versonnen esse und trinke, geht mein Blick in die Ferne, nach Süden, wo das Endziel liegt. So weit ist der Weg noch, ich habe erst ein paar kümmerliche Kilometer geschafft.

 

Just a peaceful path along meadows

Glad not having to cross it

Hobbitcountry - just like Mirkwood

 

Le Mont Soleil – Wind und Sonne

Unbemerkt überschreitet man die Grenze zum Kanton Neuenburg, von Ferne grüsst der Mont Soleil.

Dort erwarte ich, die Zukunft der Energieerzeugung in der Schweiz zu sehen. Nicht nur ein paar verstreute Windräder, sondern ganze Farmen davon. Je näher man kommt, desto mehr ist man beeindruckt.

Ganze Hügelkämme sind voll von ihnen, die dreirädrigen Turbinen drehen sich lautlos im Wind, verschaffen dabei unserem Land noch wenige, aber zukunftsträchtige Terrawattstunden. Das wird sich, muss sich in den nächsten Jahren ändern.

 

The sky darkens, far away wind turbines
Der Himmel wird dunkel, in der Ferne die ersten Windräder
The closer I get the more impressing they seem
Je näher, je eindrücklicher

Aber der wahre Höhepunkt befindet sich auf dem Mont Soleil selbst. Wiki meint dazu:

Internationale Bekanntheit erlangte der Mont Soleil wegen seiner Photovoltaikanlage. Auf einem 20’000 m² grossen Feld wurde 1992 das damals grösste photovoltaische Sonnenkraftwerk Europas zu Forschungs- und Demonstrationszwecken errichtet. Es hat eine Leistung von 560 kW. Die Gesamtfläche der Solarzellen beträgt 4’575 m². Damit werden jährlich rund 550 MWh Strom erzeugt.

Die Anlage kann auch besichtigt werden. Ein rund 4,5 km langer Erlebnispfad führt vom Mont Soleil nach Nordosten zum Windkraftwerk Mont Crosin.

 

Solar plant from above
Von Mike Lehmann. Pilot: Catherine Nussbaumer, Heliswis

Impressive solar plant

Biggest solar plant in Switzerland

 

Und dann St. Imier – die Uhrenstadt

Der Abstieg vom Mont Soleil ist steil und anstrengend und gelegentlich überraschend, vor allem dann, wenn man sich durch umgestürzte Bäume kämpfen muss. Der Sturm muss heftig gewesen sein, die Bäume sehen aus wie schwachbrüstige Streichhölzer, die der Wind eben mal kurz niedergeschmettert hat.

Man ist für einen Augenblick erstaunt, beeindruckt, man möchte dem Sturm auf die Schulter klopfen, gut gemacht!

Aber dann, endlich nach vielen Stunden, die Häuser von St. Imier, ich habe tollkühn auf die Bahn hinunter verzichtet (ich frage mich manchmal, wie lange dieser seltsame Machismo anhält).

Das Bed & Breakfast Le petit Tilleul ist nicht einfach zu finden, die Eigentümer sind abwesend, doch der Schlüssel ist einfach zu finden, und so ende ich heute in einer stattlichen Wohnung mit allem Drum und Dran.

 

Passender Song: Express and Company – Out by the Trees

Und hier geht der Trail weiter … nach Dombresson

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Ein Paradies für Pferde

Durchs Fenster scheint eine blasse Sonne, verdeckt durch schnell vorübereilende Wolken, doch alle paar Augenblicke durchlaufen sie eine neuerliche Transition von hell zu dunkel und wieder zurück zu hell.

Ein sehr willkommener Morgengruss.

 

Sun pushing through

 

Zu den Pferden

Auf den heutigen Tag freue ich mich ganz besonders, denn die Etappe führt hinauf auf die Freiberge, les Franches Montagnes, dem Paradies für Pferde.

Der Guide ist der gleichen Meinung (obwohl ich den Angaben über Distanz und Dauer nicht so recht zu glauben vermag; die gestrige Etappe war doch tatsächlich fast 3 Kilometer länger).

Nach dem Aufstieg aufs Hochplateau der Franches Montagnes betritt man ein stilles Land mit dunklen Wäldern und verstreuten Bauernhöfen, umgeben von Pferden, Kühen und Schafen. Dazwischen Dörfer mit senfgelben Häusern. Saigneléger ist das regionale Zentrum.

Da mir die Angaben im Guide immer weniger zuverlässig erscheinen, gebe ich ab jetzt wieder meine eigenen Werte bekannt; sie weichen einmal mehr ziemlich stark ab. Die Dauer ist klar, aber die Abweichung bei den Distanzen ist schon etwas fragwürdig.

Länge 15.34 km; Wanderzeit 6 h 29 min

 

From Soubey to Saignelegier

Wieder einmal bleibt ein kleines unscheinbares Dorf hinter mir zurück, wie immer möchte man verweilen, die Ruhe geniessen, durchatmen.

Aber eben, der Plan lässt keine Ausnahmen zu, schon gar keine ungeplanten Ruhetage, und so schaue ich noch ein einziges Mal zurück, auf Soubey. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wiederkehre, ist sehr klein. Bye bye, kleines herziges Dorf.

 

Bye bye Soubey

Es scheint ein Gesetz meiner mangelhaften Orientierungskünste zu sein, dass ich schon nach wenigen Kilometern von der Route abweiche (oder mich verirre). Das Wandern entlang des wunderbaren Flusses ist aber auch zu verlockend, um es zu unterbrechen, um einen unwichtigen Hügel zu überqueren, um dann etwas später den gleichen Ort zu erreichen.

Man fragt sich, ob dieser trockene Sommer ohne Einfluss auf diese Gegend geblieben ist. Die Wiesen sind saftig grün, die Maisfelder in bester Verfassung, man könnte meinen, der Klimawandel seien Trump’sche Fake News. Aber, ich bin überzeugt, ich werde im Verlauf der Wanderung quer durch die Schweiz andere Gegenden durchqueren, gelbe, verbrannte Gegenden, Sahara bei uns.

 

lush green meadows and fields

Der Doubs gurgelt noch eine Weile neben mir, dieser verträumte Fluss wie aus einer anderen Zeit, es könnte im Hobbit-Land sein, wo die Natur noch intakt ist. Ich folge ihm langsamen Schrittes, denn nicht mehr weit von hier, werde ich ihn endgültig verlassen, er wird noch ein paar Bögen auf Schweizerboden machen, um sich dann endgültig nach Frankreich abzusetzen.

 

Sweet littler River - the Doubs The Doubs - in the midst of a green green world

Nur selten trifft man auf Häuser oder Ställe oder andere Zeugnisse menschlicher Zivilisation. Und natürlich dürfen auch Zwerge und andere Gräuel vor den Gartenhäuschen nicht fehlen, nur Schneewittchen fehlt, sie schläft.

 

Dwarfs and other atrocities

 

Das Land der Mehlschwalben

Man müsste viel mehr Zeit haben, um sich um die ausserordentliche Flora und Fauna der Gegend zu kümmern. So bleibt nur ein gelegentlicher Blick auf am Wegrand angebrachte Informationstafeln.

Offenbar gibt es hier Mehlschwalben, ich zitiere aus Wikipedia:

Window SwallowDas Verbreitungsgebiet der Mehlschwalbe erstreckt sich über fast ganz Europa und das außertropische Asien. Trotz dieses großen Verbreitungsgebietes werden lediglich zwei Unterarten unterschieden. Mehlschwalben sind ausgeprägte Zugvögel. Die westeurasischen Brutvögel überwintern in der Regel in Afrika in einem Gebiet, das sich von der Südgrenze der Sahara bis zur Kapprovinz erstreckt.

Auch ein Weitwanderer oder eher Weitflieger. Sie hat natürlich meine ganze Sympathie.

Man stelle sich vor – sie fliegt aus unseren Gegenden bis zur Sahara, was schon mal ein ziemliches Stück ist, aber nein, sie fliegt gelegentlich sogar bis nach Südafrika, wenn sie Lust hat.

Da sieht man mal wieder, welche Vorteile die Kunst des Fliegens bringt. Nicht 500 mühsame Kilometer zu Fuss, nein, 5000 oder noch viel mehr Kilometer in der Luft, getragen von den Strömungen, leicht wie eine Feder und trotzdem kräftig und mutig, überqueren sie Meere und ganze Kontinente.

Ich ziehe nicht nur den Hut, ich verneige mich.

Übrigens, um nicht zu vergessen, Europa allein hat während der letzten Jahre 600 Millionen Vögel verloren. Siehe Artikel.

 

Aufwärts mit Gewitter

Bei einer Mühle am Fluss (Le Moulin Jeannottat), längst ausser Betrieb, mache ich auf dem einzigen trockenen Platz eine kurze Pause, lausche zum letzten Mal dem verzaubernden Gurgeln des Flusses, der in kurzer Zeit meine ganze Liebe gefunden hat. Hier zweigt der Weg ab.

Den Doubs im Rücken folgt nun der teils steile Aufstieg durch urwaldähnliche Waldabschnitte und über verträumte Weiden. Bis nach Les Pommerats sind es etwa 400 Höhenmeter. Auf dem Hochplateau der Freiberge angekommen, betritt man stilles Land mit dunklen Wäldern, offenen Weiden, alten Baumbeständen und verstreuten Bauernhöfen, umgeben von Pferden, Kühen und Schafen.

Es geht nun tatsächlich steil aufwärts, schon nach kurzer Zeit hört man mein Schnaufen und Prusten weitherum. Ich taste mich langsam bergauf, durch eine grüne Welt, tatsächlich eine Art Urwald, in dem man sich fremd vorkommt, ein ungebetener Gast.

 

Up the hill, sweating

A jungle, might be in Hobbit country

Dead trees and the path

Mitten im Urwald, gerade noch so still wie ein Urwald eben ist, überfallen mich aus dem Nichts schwere Regentropfen, die Prognose ist für einmal leider zutreffend. Also zügig die Regenmontur überziehen, was sich bei meinem neuen Rucksack als gröberes Problem herausstellt. Auf jeden Fall bin ich immer noch am Fluchen, als der Regen genauso plötzlich aufhört, wie er begonnen hat.

Allerdings bin ich nun gewarnt, das nächste Mal lasse ich mich nicht mehr so leicht überraschen.

 

It gets easier - a bit Les Pommerats - the next village

 

Einsam und verlassen

Immerhin erreiche ich irgendwann eine ebene Wiese, atme kurz durch, denn das ist erst Les Pommerats. Der Weg wird angenehmer, nach einer Viertelstunde kreuze ich ein abgelegenes Haus, offenbar verlassen und einsam.

 

Abandoned farm house - sad

Haustür und Fenster sind überwachsen, es macht den Anschein, als wäre eine Ewigkeit niemand mehr hier gewesen. Eine Satellitenschüssel hängt noch beim Eingang, die letzten Signale sind längst verstummt.

Verlassene Häuser machen mich traurig, sie entbehren jetzt alles, was sie früher zum Leben gebraucht haben.

ripe grapes ready for picking

Vielleicht ist es eine gute Idee, ihm wenigstens für ein paar Minuten eine menschliche Anwesenheit zu schenken. Ich kämpfe mich durch das hohe Gras zum Hauseingang und setze mich auf die Treppe. Neben mir, sozusagen auf Mundhöhe, wachsen die herrlichsten reifen Trauben, die nur darauf warten, gepflückt und gegessen zu werden.

Man müsste sie den Kindern zum Naschen geben oder süssen Traubensaft daraus machen. Doch sie hängen einfach da, vielleicht wenigstens ein Festmahl für Vögel und Insekten.

Dirty all overWährend ich trüben Gedanken über Vergehen und Verlassenwerden nachhänge, betrachte ich meine Beine und Füsse, was meine Stimmung auch nicht wesentlich zu verbessern vermag.

Keine Ahnung, wie ich das Zeug wieder in einen sauberen Zustand zurückbringe. Und meine Schuhe tun mir leid; inzwischen nähern wir uns gemeinsam der 1000 Kilometer Marke. Und der Hersteller Mammut hat sie bereits aus dem Sortiment genommen. Idioten!

Gemäss Wetterprognose müsste sich das Wetter ab morgen bessern, also Sonne, Wärme, blauer Himmel.

Wir werden sehen.

 

 

Eine letzte Treppe zum Himmel

Es muss so sein – mindestens einmal pro Tag bestraft mich der Herr des Wanderns (der heilige Christoporus?) mit einer steilen mühsamen Treppe, um mir damit für eine Weile jede gute Laune zu vertreiben.

Steep stair upwards, to heaven

Dann aber, aus heiterem  Himmel, der nächste feuchte Gruss.

Doch diesmal habe ich nicht die geringste Lust, mich ein weiteres Mal mit meinem blöden Regenschutz  rumzuplagen und suche Schutz unter den ausladenden Ästen einer Tanne.

So sieht es aus, wenn ein Gewitter dich ärgern will.

Ich muss mich allerdings sehr eng an den Baumstamm drücken, manchmal dreht der Wind und bläst mir seine nassen Grüsse mitten ins Gesicht.

Aber wie schon beim ersten Mal – nach ein paar Minuten geht der Spuk vorbei.

Ich traue der Geschichte nicht, und wie sich später zeigen wird, hat sich mein Bauchgefühl nicht geirrt.

 

 

Der Himmel öffnet sich

Kurz danach ist das Schlimmste überstanden, der Himmel öffnet sich, ich bin auf der Hochebene von Saignelegier und atme tief durch.

Der Regen hat sich irgendwohin verzogen, möge er dort bleiben. Ein tiefes Blau liegt versonnen über der Hochebene, ein Wolkenkragen umrahmt das Gemälde.

 

Und dann sind da endlich die Pferde. Eine alte Rasse, die Freiberger, aber eine Wohltat fürs Auge. Wenn man bedenkt, dass sie die letzte Schweizer Pferderasse sind, wird einem schon etwas traurig zumute. Aber eben, der Gang der Welt, der Lauf der Zeit …

 

The Freiberger Horses - famous race

Ich versuche zwar jede Art von Annäherung, ohne Erfolg. Verständlich, wenn man jedem dahergelaufenen Wanderer einen Blick gönnen würde, wo käme man da hin?

Wie auch immer, das Tagesziel Saignelegier nähert sich nun rasch, die ersten Häuser blicken durch die Bäume.

 

Finally arrived in Saignelegier

Der Empfang ist allerdings nicht so, wie erhofft, denn zweihundert Meter vor dem Hotel werde ich von einem neuerlichen Gewitter überrascht, und diesmal ist es ein veritabler Wolkenbruch.

Ich drücke mich zwar eng an einen Garageneingang, mit wenig Erfolg allerdings, und so erreiche ich eine Viertelstunde später mein Hotel, ziemlich nass und verärgert, aber eben, die Natur findet nun einmal im Freien statt.

 

Ein seltsames Zimmer

Mein Hotel, das Café du Soleil, im Moment eher das Café de la Pluie, scheint so eine Art Hippieunterkunft zu sein. Nichts dagegen, die Zimmer sind sehr eigen, man könnte meinen, der hohe Preis wäre durch die künstlerischen Verzierungen in den Zimmern festgelegt worden.

 

Hotel room in Saignelegier - very special

Everyone can put his own drawings on the wall

All of them French artists

Aber dann eine weitere unangenehme Überraschung. Beim Duschen entdecke ich eine Zecke, die sich in meinem Oberschenkel gegraben hat, aber bereits ihre obere Hälfte verloren hat. Ich versuche, den Rest mittels Pinzette herauszuziehen, aber auch die Hilfe des Messers bringt höchstens eine maximale Menge Blut zum Fliessen.

Den restlichen Ablauf der Operation inklusive Suche nach geeigneten Werkzeugen und Desinfektionsmitteln überlasse ich der Phantasie der Leser. Letztendlich hat mich mein Glück und mein tapferes Immunsystem einmal mehr nicht im Stich gelassen (aber auch jetzt, anderthalb Monate später, ist immer noch eine seltsame Narbe zurückgeblieben, mein einziges Souvenir an Saignelegier, dem Paradies für Pferde).

 

Passender Song:  AC/DC – Thunderstruck

Und hier geht der Trip weiter … nach St. Imier, einstige Hochburg der Schweizer Uhrenindustrie

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Rain Songs

Es gibt nichts Öderes auf einer Wanderung, wenn es schon am Morgen früh aus allen Rohren pisst, und es gibt nichts Schöneres, als zuhause in der warmen Stube zu sitzen, wenn der Regen an die Fensterscheiben klatscht.

Nun, heute morgen trifft ersteres zu – es regnet in Strömen. Der Himmel zeigt sein unangenehmes Gesicht, grau wie ein alter Mann.

 

Bad start for today's stage

Das erinnert mich doch gleich an ein grossartiges Lied der immer noch grossartigen Beatles, die es wieder einmal auf den Punkt gebracht haben. Der Song heisst, nicht überraschend, RAIN.

If the rain comes
They run and hide their heads
They might as well be dead
If the rain comes
If the rain comes

When the sun shines
They slip into the shade
(When the sun shines down)
And sip their lemonade
(When the sun shines down)
When the sun shines
When the sun shines

Natürlich gibt es jede Menge weiterer wunderbarer Regenlieder. Hier ein paar Beispiele.

Bruce Ruffin – Rain

The Cult – Rain

Ann Peebles – I can’t stand the rain

Guns ’n‘ Roses – November Rain

Creedence Clearwater Revival – Who’ll stop the Rain

Der letzte Song trifft ins Schwarze. Wer zum Teufel stoppt diesen Regen, der in dichten Schleiern vor meinem Fenster niederprasselt?

 

Der Regengott erhört mein Flehen

Irgendwas in meiner inneren Uhr scheint defekt zu sein. Auf jeden Fall stehe ich mit müdem Kopf und ebensolchen Beinen Punkt acht auf, obwohl doch die Uhr erst sieben anzeigt. Ich habe also eine ganze Stunde Zeit (das Frühstück ist erst um acht bereit), mich über das blöde Wetter zu ärgern.

Kann es sein, dass ich bereits am zweiten Tag in voller Regenmontur losmarschieren muss?

Nicht, dass es mich beunruhigt, ich habe auf der letztjährigen Wanderung eine ganze Anzahl schlimmster Regentage erlebt und überstanden. Aber eben …

Keine Ahnung, ob der Wettergott meine Bitten erhört hat, auf jeden Fall hört der Regen Punkt neun auf. Ich stehe also da mit meinem Rucksack und wundere mich.

Der Weg führt heute den ganzen Tag dem Doubs entlang bis zu einem kleinen Dorf namens Soubey.

Und wie immer die launigen Worte des Guides zur heutigen Etappe:

Der Doubs ist ein launisches, faszinierendes Gewässer. Auf dem linksufrigen Abschnitt zwischen St-Ursanne und La Charbonnière wandert man fast immer auf Naturpfaden in unmittelbarer Nähe des blaugrün schimmernden Flusses. Am Ufer leben zahlreiche Libellen und Vögel.

Keine grosse Sache.

 

Trans Swiss Trail stage 2

 

Das Rauschen des Wassers

Auf jeden Fall gibt es heute keine schweisstreibenden Aufstiege zu bewältigen. Wenn ich der Karte glauben soll, führt der Weg ausschliesslich dem Fluss entlang, manchmal ein bisschen aufwärts, aber wirklich nur ein bisschen.

Finde ich gut, genau richtig für den zweiten Tag, der immer etwas ein Pièce de Resistance darstellt.

Und tatsächlich, der Weg ist grossartig (ein Adjektiv, das ich wohl noch viele Male benutzen werde). Aber zunächst gilt es, sich von der Stadt zu verabschieden. Der Aufenthalt war kurz, aber eindrücklich, ein Versprechen, irgendwann mit mehr Zeit zurückzukehren.

Der Dorfheilige verabschiedet mich auf der Brücke über den Doubs, ich hoffe, dass er mir für die nächsten Woche alles Gute wünscht.

Das Dorf bleibt hinter mir zurück, bye bye.

 

The Doubs at St. Ursanne

Die Geräusche der Zivilisation verstummen schliesslich ganz, alles was bleibt, ist das monotone Rauschen des Flusses. Manchmal ein entfernter Ruf eines Vogels, das Krächzen eines Raben. Und das gleichmässige Aufsetzen der Füsse auf den klatschnassen Boden.

Der Fluss mäandriert ruhig zwischen den Ufern, wird manchmal zu einem stillen kleinen See unter einem violetten Himmel. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, glaubte ich an ein koloriertes Bild eines übergeschnappten Künstlers.

 

The river below a violet sky

 

Madame Waldgeist begrüsst mich

Irgendwann, nicht lange nach dem Start, werde ich von einem freundlichen Mädchengesicht begrüsst. Sein Gesicht lächelt, wenn auch verschmitzt, oder ist es am Ende spöttisch? Blickt es jedem Wanderer tief ins Auge, bevor es ihm die Erlaubnis gibt, weiterzugehen?

 

Welcome face to the forest

Die Wege zeugen vom nächtlichen Regenüberfall. Manchmal muss man sich die trockenen Stellen suchen, um ohne nasse Füsse durchzukommen.

Aber einmal mehr – mir gefallen diese Tage, wenn die Bäume noch lange nach dem Regen tropfen, wenn die Luft schwer ist von der Feuchtigkeit, wenn das Boden unter den Füssen schmatzende Geräusche von sich gibt.

 

Wet and wetter

Wieder einmal scheine ich die einzige lebende Seele weit und breit zu sein. Alle paar Minuten bleibe ich stehen und lausche. Es ist mucksmäuschenstill, sogar das Raunen des Flusses ist verstummt.

Manchmal hege ich den Verdacht, dass es genau diese Moment sind, die das Allein-Wandern so kostbar machen. Habe ich nicht von der Balance erzählt, die mir auf dem Alpenpanoramaweg begegnet ist?

Natürlich, ich erinnere mich. Es ist nicht nur ein Gefühl, es ist vielmehr eine Art Traum, eine Trance, ein Zustand ohne Zweifel.

Man muss ihn erleben, ganz langsam und zärtlich, bis er vergeht und Platz macht für die täglichen Mühsale.

Doch dann wird man in die Realität zurückgerufen.

Beim Anblick eines sterbenden Schmetterling, der sich auf dem steinigen Boden zur letzten Ruhe gesetzt hat.

 

A dying buttefly

 

Einfach nur schön

Es ist eine Wohltat, den flachen Wegen entlang zu gehen, ohne Hast, ganz langsam und aufmerksam, die Sinne offen für alles, das Viele, das trotz der Stille ringsherum geschieht.

Manchmal begegnet man einem Zeichen der Zivilisation, einem Stall, einer Maschine, weit weg Strommasten, doch niemand ist da.

Man könnte ewig so weitergehen.

 

Long long path

Und dann dringt man wieder ins Unterholz ein, in den Wald, doch das Grün ist nicht von dieser Welt, es spiegelt die Gegend durch eine grüne Linse, die jemand verstellt haben muss.

 

Le Doubs Le Doubs ... and flowers wet path again all is wet and wetter

 

Die Fähre

Nach einiger Zeit erkennt man auf der anderen Flussseite den Campingplatz mit dem dazugehörigen Restaurant de Tariche. Hier könnte aus eigener Kraft der Doubs mittels Seilwinde und Barke überqueren.

Allerdings würde ich einen richtigen Fährmann vorziehen, der mich zwar nicht in die Unterwelt, aber zumindest auf die andere Seite bringen könnte. Denn so wie’s aussieht, funktioniert die Seilwinde nur in einer Richtung, sie ist auf meiner Seite ausgehängt bzw. gerissen, was die Rückfahrt doch etwas kompliziert werden lässt.

Ich lasse es lieber sein und bereite mir am Flussufer mein Mittagessen zu, wie gewohnt ein eher spartanisches Mahl.

Soll ich erwähnen, dass mich jede Fähre an einen Roman erinnert, der in einer Schublade schlummert und auf eine Auferstehung hofft? Ich lasse es lieber bleiben ….

 

Ferry across the river

Aber dann nähert sich das Ziel Soubey, ein paar weisse Kühe werfen mir zum Abschied gelangweilte Blicke zu. Ich kann sie verstehen. Das Leben hier verschafft nicht viel Abwechslung, und auch die Schönheit der Gegend nutzt sich (zumindest für Kühe) irgendwann ab.

 

White cows - bored cows

Kurz darauf erreiche ich Soubey, das heutige Tagesziel, melde mich beim einzigen Hotel vor Ort, dem Hotel du Cerf (Hirsch), werde vom Patron ziemlich unwirsch empfangen, offenbar habe ich ihn bei einer wichtigen Sache unterbrochen. „WLan? Wifi“

„Pas du tout!“, antwortet er mir kurz angebunden und führt mich in ein kleines herziges Zimmerchen, in dem ich mich sehr wohl fühlen werde.

Erst am nächsten Tag in Saignelegier werde ich verwundert herausfinden, dass die Ausdrücke WLan oder Wifi auf englisch ausgesprochen unbekannt sind. WIFI muss eben nicht auf englisch sondern auf französisch ausgesprochen werden. WIFI. Voilà!

 

Soubey - today's destination

 

Passender Song: Etta James – Wet Match

Und hier geht der Trip weiter … nach Saignelegier, wo die schönen Pferde hausen

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – On the Road again

Nicht immer beginnt eine Weitwanderung von über 500 Kilometern mit den besten Voraussetzungen.

Der Tag hat früh begonnen, beinahe Nacht beim Aufstehen, der Herbst naht. Die Fahrt via Basel nach Pruntrut findet zwar recht entspannt, aber gleichzeitig müde und gestresst statt. Der Blick durchs Fenster zeigt nicht das, was man gerne hätte – blauen Himmel, lachende Sonne, sondern ganz und gar nicht willkommene Wolken, tief hängend, irgendwie traurig.

Aber – und das ist alles, was zählt – kein Regen. Herzlichen Dank den Wetterprognostikern, sie haben wieder einmal in die falsche Kiste gegriffen.

Anders als im letzten Jahr fühle ich mich aber sicher, sicher, die ganze Wanderung bewältigen zu können. Es bleibt natürlich ein Quentchen Zweifel. Soviel kann geschehen. Ein falscher unvorsichtiger Schritt, eine Erkältung, Magenprobleme. Und vieles, was ich in meiner Phantasie schon gar nicht ausmalen will.

Wir werden sehen. Das bleibt auch auf diesem Trail mein tägliches Mantra.

Pruntrut und der neue Wegweiser

Vor einem guten Jahr bin ich auf einer Reise durch den Jura genau an dieser Stelle gestanden, am Bahnhof in Pruntrut (französisch Porrentruy), unter dem Wegweiser mit der Nummer 2 und der verheissungsvollen Anschrift „Trans Swiss Trail“.

Ich vermute, dass in jenem Augenblick die Idee zu einer weiteren Weitwanderung (nach dem Alpenpanoramaweg) entstand, ein kleiner Haken, der sich irgendwo im Unterbewusstsein eingenistet hat. Nun gut, wie auch immer, hier stehe ich nun, der Wegweiser zeigt in die Richtung, die es zu nehmen gilt, es ist alles da, alles bereit für ein weiteres Abenteuer auf den Höhen und Tiefen der Schweiz.

Der Tag ist nicht zu unterschätzen. Es geht ziemlich hoch und runter über 17 Kilometer und geschätzten knapp 5 Stunden, was nach meinen Erfahrungen über 6 Stunden bedeutet.

Aber alles gut, ich genehmige mir vor dem Start einen Kaffee im Gartenrestaurant und bereite mich seelisch auf die nächsten 500 Kilometer vor.

Es sieht gut aus

Dann aber die ersten Schritte von wiederum geschätzten 800’000 bis 900’000. Das sind eine ganze Menge für meine kleinen Füsse, meine angeschlagenen Waden, meine Zehen, die nach der letzten Wanderung aussahen, als wollten sie jeglichen weiteren Spass am Wandern für immer verbieten.

Natürlich ist der Travelguide mein permanenter Begleiter, entweder in Buchform oder digital auf der entsprechenden Plattform schweizmobil.

Er klärt mich über das zu erwartende Stück Wanderung auf:

Nach der sehenswerten Altstadt von Porrentruy über Felder zum bewaldeten Jurakamm. Dann Abstieg in die tiefe Falte, die der Doubs in den Karstfelsen gezogen hat. St-Ursanne ist ein Bijou. Im Kreuzgang des Klosters geht der Atem einer anderen Zeit.

From Porrentruy to St. Ursanne

Ein etwas fehlgeleiteter Start

Eigentlich müsste ich in der Zwischenzeit wissen, dass meine Orientierungstalente nicht wesentlich besser geworden sind. Es kommt also wie es kommen muss.

Frohgemut mache ich mich auf, folge den Wegweisern mit der grünen Nummer 2, absolut überzeugt, dass zumindest hier in Pruntrut, auf den ersten Kilometern, nicht allzu viel passieren kann. Die kleine Stadt erfreut mich durch ihre freundliche Ausstrahlung, ihre steinbesetzten Gassen entlang alter Häuser und Villen.

Pruntrut roads

Pruntrut - or Porrentruy in French

Irgendwo im Süden der Stadt stehe ich etwas verständnislos vor einem meiner Wegweiser und bin etwas verwirrt, dass er in die andere Richtung zeigt als diejenige, die ich mir im Kopf zurechtgelegt habe.

Nun gut, die Verantwortlichen werden wohl wissen, was sie tun. Obwohl, nach einiger Zeit erscheint mir die Sache doch etwas suspekt, also checke ich die digitale Karte und bin noch mehr verwirrt. Spätestens, als ich an der gleichen Stelle stehe wie vor einer Viertelstunde, dämmert es mir, dass ich im Kreis gegangen bin. Zwei nette ältere Herren, in lautstarker Diskussion vertieft, eignen sich doch perfekt, um erstens den richtigen Weg zu erkunden, und zweitens mein verbessertes Französisch anzubringen.

Die beiden schauen mich etwas ungehalten an, verstehen zwar meine Frage, aber haben keine Ahnung, wo es hier einen Trans Swiss Trail geben soll. Ausserdem haben beide ihre Lunettes zuhause vergessen und sind so ausserstande, die Karte auf meinem Handy zu begutachten.

Endlich freies Land

Ich bin zwar immer noch nicht sicher, warum an der besagten Stelle der Wegweiser in die falsche Richtung zeigt, aber was soll’s, irgendwann finde ich die richtige Abzweigung und verlasse das Städtchen ohne grosse Emotionen.

Leaving Pruntrut

Es begrüssen mich ein grauer Himmel, der alles andere als erfreut scheint über meine Anwesenheit, sattgrüne Wiesen mit ein paar Kühen, im Hintergrund ein Hügelzug und noch weiter hinten der Jura in seiner ganzen Pracht. Er wird mich nun die nächsten Tage begleiten, er wird mich erfreuen oder ärgern, mir den Schnauf nehmen oder grossartige Gefühle vermitteln.

Und nun, sehnlichst erwartet, stellt sich jenes Gefühl ein, das ich vom letzten Jahr her kenne. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit, von jener Unbekümmertheit, die man nur beim Wandern hat. Das Blut scheint schneller durch die Adern zu pulsieren, das Herz schlägt im Takt meiner Wanderstöcke und sogar meine Beine und Füsse und Zehen scheinen sich auf das kommende Abenteuer, das eben begonnen hat, zu freuen.

Ich muss hier noch anfügen, dass ich die Lehren aus letztjähriger Wanderung gezogen habe. Der Rucksack ist nur noch halb so schwer (eine neue Entwicklung, die aus Amerika kommt und offenbar vor allem für Trailrunner gedacht ist, also sozusagen auch für mich). Für meine Füsse und Waden stehen Crèmes und eine kleine Faszienrolle bereit, und das Allerwichtigste, ich werde die Regel Nummer zwei beim Weitwandern beherzigen, nämlich laaaangsam zu gehen.

Der erste Stop dient auch dazu festzustellen, ob ich nun tatsächlich nicht mehr den Rucksack ablegen muss, um Wasser zu trinken, sondern direkt auf zur Flasche, die nun auf den Trägern befestigt ist, greifen kann.

Klappt ausgezeichnet, es geht munter weiter über eine weite Ebene, dann hinein in den Wald, die erste Steigung und …?? Verdammt, wo sind meine Stöcke?

Es ist also tatsächlich so, dass ich zwei Komponenten, die beinahe zu einem zusätzlichen Körperteil geworden sind, schon auf den ersten paar Kilometern vergessen habe. Ich vermeide nun, näher auf die Fluchwörter hinzuweisen, die nun lautstark durch den leeren Wald dröhnen. Also gut zwei Kilometer zurück in der Hoffnung, dass die vergessenen Stöcke immer noch an der gleichen Stelle sind.

Sie sind es, aufatmen, schwören, in Zukunft den Kopf zu benutzen.

Grauer Himmel, grüner Dschungel

Der Himmel, immer noch verdächtig nach Regen ausschauend, bleibt zwar grau und missgelaunt, aber immerhin scheint er mir gnädig gestimmt zu sein. Nach der Überquerung der weiten Ebene südlich von Pruntrut, empfängt mich ein dichter Wald, den ich für die nächsten Stunden kaum mehr verlassen werde.

Die Luft ist schwer vom Geruch der nassen Bäume, die Feuchtigkeit (eine willkommene Abwechslung nach dem trockenen Sommer) hängt wie ein schweres Tuch über dem Wald.

Die Etappe ist so wie vorgestellt – nicht besonders spektakulär, genau richtig, um die Wanderung zu beginnen. Wie sagt es der Guide:

Etwas mehr als eine Stunde unterwegs taucht der Weg in den Wald hinein. Bei Les Chainions überquert er die Grenze zum Naturpark Doubs. Der gleichnamige Fluss bildet auf weiten Strecken die natürliche Grenze zu Frankreich. Er fliesst dabei durch eine grossartige, teils canyonartige Schlucht mit steilen Felswänden und Wäldern. Manchmal wild und dann wieder sanft schlängelt sich der Doubs durch die faszinierenden Natur- und Kulturlandschaften des Tals. In Seleute sind schon über drei Stunden vergangen. Weidende Pferde und Kühe – dieses Bild ist im Kanton Jura oft anzutreffen.

Dense forest with wet path Then again steep way beneath trees

Manchmal erinnert mich der Himmel daran, wer der Herr im Hause ist, und lässt ein paar drohende Tropfen auf mein schweissnasses Gesicht fallen, um aber gleich wieder die bessere Laune hervorzunehmen und zu schweigen. Ich habe mich mental auf Regen eingestellt, also kann mich eigentlich nichts überraschen, aber natürlich, falls es trocken bleibt, bin ich auch zufrieden.

Ein unscheinbares Dorf namens Seleute

Eigentlich komme ich gut vorwärts, auch wenn meine Füsse zu brennen beginnen (aller Anfang ist schwer) und auf heftigen Steigungen mein Puls höher steigt als mir lieb ist. Aber das wird sich geben, ich bin überzeugt, dass er sich schon in den nächsten Tagen auf einem Niveau einpendelt, das zu einem Dreissigjährigen gehören könnte.

Ich bin also ganz froh, als sich nach ein paar Stunden das erste kleine Dorf zeigt, Seleute, nie gehört, was bei seiner Lage im Nirgendwo auch verständlich ist.

Mein Körper seht sich nach Aufputsch, ein Kaffee wäre das höchste der Gefühle.

Und tatsächlich, vor einem unscheinbaren Haus stehen ein paar Holztische, es brennt Licht, die Hoffnung steigt, und ich setze mich erwartungsvoll hin. Nach einer halben Minute zeigt sich ein junger freundlicher Herr, ich bestelle Kaffee und bin schon nach dem ersten Schluck in einem Zustand, der in der Drogenszene als High bezeichnet wird. Ganz ohne Heroin.

Der junge Mann erkundigt sich nach Woher und Wohin, und zum ersten Mal erzähle ich stolz von meiner geplanten Weitwanderung nach Mendrisio im Tessin.

„Mendrisio? Dans … dans le Ticino?“

„Oui.“

„Ah, ça c’est fou. C’est tres loin.“

Der weitere Weg zum Tagesziel ist ehrlich gesagt mehr als mühsam, auch wenn die Bewunderung des jungen Mannes noch eine Weile den Schritt leicht macht. Der Weg geht nun hinunter ins Tals des Doubs, viele Steine und Felsen auf dem Pfad, alles andere als angenehm für den ersten Tag.

Das erste Tagesziel – St. Ursanne

Aber irgendwann bin ich da, in St. Ursanne, es ist bald fünf Uhr, meine Uhr zeigt knapp 20 Kilometer und über 6 Stunden Wanderzeit. Nicht schlecht für den ersten Tag.

Das Hotel de la Couronne ist an diesem Tag geschlossen, ein Anruf bringt Klarheit, wo der Schlüssel gefunden werden kann. Nach Dusche und Umziehen der Gang durch das alte Städtchen, das viel zu bieten hat.

Das historische Städtchen, mit kaum 700 Einwohnern, erstreckt sich im engen Tal des Doubs, am rechten Flussufer, zwischen den Juraketten des Lomont oder Mont Terri im Norden und des Clos du Doubs im Süden. Sie ist nach Delémont und Porrentruy die dritte historische Stadt im Kanton Jura, sie hat ein mittelalterliches Stadtbild, welches durch Bürgerhäuser aus dem 14. bis 16. Jahrhundert geprägt wird.

Die Stiftskirche, eine romanische Pfeilerbasilika mit einer Krypta unter dem Chor, stammt aus dem 12. bis 14. Jahrhundert. Von der Abtei des 11. Jahrhunderts wurden Kapitelle und Teile des Nordportals in den Bau einbezogen. Das Südportal (um 1200) im Stil der burgundischen Romanik gehört zu den bedeutendsten Portalen dieser Stilrichtung in der Schweiz. Das etwas später entstandene Kirchenschiff zeigt bereits Merkmale der Gotik, und die Innenausstattung stammt im Wesentlichen aus dem 18. Jahrhundert. Das Erdbeben von 1356 beschädigte den Kirchturm des Klosters so stark, dass er später einstürzte. Erst 1462 bis 1464 wurden die Schäden wieder beseitigt. (Wikipedia)

St. Ursanne - the first destination

Church in St. Ursanne

Famous entrance

Meine Beine fühlen sich etwas schwer an, also beschränke ich meine kulturelle Neugier auf einen kurzen Gang durch die Strassen, bewundere die Stiftskirche und setze mich in ein Strassencafé in der Hoffnung, etwas zu essen zu kriegen. Das Mahl ist bescheiden, aber es stillt den Hunger, während die Kälte langsam meine blossen Beine hochkriecht und mich daran erinnert, dass der Abend kühl, die Luft feucht ist und es Zeit ist, sich ins warme Hotelzimmer zu verkriechen.

 

Song zum Thema:  The Cure – A Forest

Und hier geht es weiter … nach Soubey, dem Doubs entlang