Genauer betrachtet – man hat ja unterwegs viel Zeit für philosophische Überlegungen – ist das Wandern eine höchst einfache Sache.

Es gibt dabei nichts Überflüssiges, nichts Kompliziertes. Man setzt einen Fuss vor den anderen, immer schön gerade aus oder auch Kurven und Steigungen entlang, bis man das Ziel erreicht. Und am nächsten Tag geht es auf die gleiche Weise weiter.

Das macht zumindest einen Teil seiner Faszination aus. Man muss es nicht üben (ausser man ist fünfzig Kilo zu schwer und benützt mit Vorliebe den Lift oder das Auto, dann sieht die Sache etwas anders aus), man kann einfach loslegen. Der Sonne nach, dem Schatten nach, dem eigenen Genuss nach.

Und das Schönste dabei – wenn man das Ziel erreicht hat, vielleicht müde oder erschöpft, vielleicht schmerzt jeder Muskel, dann wird man von einem Gefühl erfasst, das sich mit nichts vergleichen lässt. Man hat gesiegt, über sich selbst, über den Weg, die Berge, die Steigungen, einfach alles. Für eine kurze Zeit hat man die Überzeugung, alles schaffen zu können.

Aber warum nicht mal mit etwas Einfacherem beginnen? Zum Beispiel mit einer Fahrt mit der Luftseilbahn von der Rossweide nach Sörenberg hinunter?

Genau das tue ich.

Schliesslich beginnt die eigentliche Route erst in Sörenberg.

 

By cable car to Sörenberg 1 Cablecar to Sörenberg

 

Joel-Wicki-Hangover

Der Bäcker, bei dem ich in Sörenberg meine Vorräte ergänze, schaut mehr als derangiert aus.

Seine Augen sind klein und ein klein wenig gerötet. Auf meine Frage nach der gestrigen Feier zu Ehren des Schwingerkönigs Joel Wicki antwortet er mit einem leisen Seufzen. Es muss eine tüchtige Party gewesen sein, schliesslich geniesst man als kleines Bergdorf nicht jedes Jahr die Ehre eines Schwingerkönigs.

Und ja, nach dem Ausscheiden meines persönlichen Favoriten Samuel Giger war Joel Wicki meine zweite Wahl. Dieser Kerl besitzt derartige Kräfte, dass man sich nur wundern kann. Und ich bin immer noch überzeugt, dass beim letzten Schwingerfest zu seinen Ungunsten entschieden wurde. Mit seinem diesjährigen Sieg ist die Welt wieder zurechtgerückt.

Wicki misst 183 cm und bringt 110 kg auf die Waage. Er überzeugt im Sägemehl besonders mit seinem explosiven Kurzzug, ist jedoch vielseitig geworden. Er gewinnt auch mit Übersprung, Innerem Haken und mit starker Bodenarbeit. Zudem ist er sehr stark in der Verteidigung.

 

Celebration for the "Schwingerkönig" Joel Wicki

Nun, ich verlasse das Hangover Dorf und mache mich auf, die lange Etappe bis Giswil unter die Füsse zu nehmen.

Lohnende Tour über die Passhöhe Glaubenbielen mit tollen Ausblicken auf Sarnersee und Titlis-Gipfel. Ab und zu trifft man auf die Passstrasse, findet aber auch immer wieder ruhige Abschnitte bei Alpoglen oder dem Pörterwald.

Und meine Werte: Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 995 m | 1665 m; Wanderzeit 8 h 02 min

Da wundert man sich einmal mehr, welche Werte stimmen. Ich muss mal die GPS-Einstellungen meiner Pulsuhr unter die Lupe nehmen.

 

 

Eine Herde weisser Schafe

Je höher man steigt, desto dicker scheint die Nebeldecke zu werden, die zu Füssen der Schrattenfluh liegt. Sie wabert und keucht, Nebelfetzen galoppieren wie eine Herde weisser Schafe.

Da kommt mir doch gleich ein Abschnitt aus einem Roman in den Sinn, der eine ähnliche Situation beschreibt.

Der Nebel war überall. Durch die weiße Brandung schimmerte, wie ein runder kraftloser Klecks, die Sonne. Nur einige Felstürme leuchteten am Horizont, und in der Ferne ragte das Gebirgsmassiv empor, hell und wuchtig in der Morgensonne glänzend.

Von der Stadt war nichts zu erkennen; sie schien versunken zu sein, hatte vielleicht nie existiert, und das wäre wohl auch besser gewesen. Eine Bö zerzauste die weißen und grauen, sich unablässig bewegenden und zerfließenden Schwaden, trieb sie vor sich her wie eine Herde weißer Schafe.

Aus dem Nebel stachen, versunkenen Galeeren gleich, die Umrisse der obersten Häuser, und dazwischen, hell und spitz, der Kirchturm, daneben der Friedhof, der sich an die Kirchenmauern klammerte. [Ausschnitt aus „Eine Schlange in der Dunkelheit“]

 

Fog beneath the Schrattenfluh

 

Das seltsame kurze Leben der Kühe

Habe ich schon erwähnt, dass ich Kühe liebe?

Oh ja. Jedes Mal, wenn ich ihnen begegne, schwöre ich, kein einziges Mal mehr Fleisch zu essen (was natürlich ein aussichtsloser Schwur ist). Aber wenn man in diese wunderbaren Gesichter sieht, diese Hipsterfrisuren, dieses gutmütige Schauen, als ob es nichts Böses gäbe, dann ist man doch ergriffen und fragt sich zum tausendsten Mal, wie wir diesen wunderbaren Geschöpfen soviel Böses antun.

Sie leben ein kurzes (meistens), seltsames, einfaches Leben, sie fressen, wiederkäuen, scheissen, pissen, schlafen, bringen Kälber zur Welt, werden geschlachtet. Das ist alles.

 

Black cow Hipster Cow

 

Einfach nur Natur

Nach einer gewissen Zeit unterwegs lernt man automatisch, die  Natur zu lesen. Nicht gerade wie ein Bauer, der den kommenden Winter an vielerlei Anzeichen erkennen kann. Natürlich bin ich kein Muotataler Wetterschmöker, aber an gewissen Färbungen des Himmels kann auch ein Laie erkennen, dass etwas in der Luft liegt.

Manchmal scheint das Gras feuchter als am Tag zuvor zu sein, obwohl es nicht geregnet hat. Und sind diese Vögel, die sich über der Gruppe Fichten versammelt haben, nicht die ersten Vorzeichen des kommenden Herbstes? Wahrscheinlich bilde ich mir was ein.

Sei’s drum, auf jeden Fall hat sich das Bergpanorama rings um mich herum wieder mal in die Sonntagstracht gestürzt. Ich erwarte natürlich nicht weniger als das.

Herrlich ist die Aussicht auf das Brienzer Rothorn und die Schrattenfluh, eines der grössten zusammenhängenden Karrenfelder der Schweiz. Die rund 6 km lange Bergkette unterscheidet sich deutlich vom lieblichen Emmental und dem Napfgebiet. Die meist vegetationslosen Karren (Rinnen) des Schrattenkalks weisen zahlreiche, weit verzweigte Höhlen auf. Durch die lückige Oberfläche versickert das Wasser direkt in die Tiefen.

 

Awesome mountain panorama

Gibt es etwas Typischeres für unsere Gegend als ein paar Kühe, die unter einem blauweiss gestreiften Himmel grasen? Oder das Holzhäuschen, das doch tatsächlich für müde Wanderbeine installiert wurde, genau im richtigen Moment und am richtigen Ort? Ich bin begeistert und lasse mir den Spass nicht nehmen, mein Mittagessen in gebührender gedeckter Umgebung einzunehmen.

Es gibt diese Momente, die man nicht beschreiben kann. Dies ist einer davon. Man sitzt einfach da, ohne Gedanken, nur Wahrnehmung der Welt, die sich da in voller Pracht ausbreitet.

 

Cows beneath a blue sky

Just for the tired hiker - a roofed hut

Wenn es noch Beweise für die Schönheit der Schweizer Berge braucht, hier sind sie.

Unversehens taucht nämlich ein kleiner See auf, auf dem sich die Bergketten spiegeln, unweit davon eine Kapelle, die zum Gebet einlädt.

Warum es hier oben eine Kapelle gibt, ist schleierhaft, andererseits ist klar, dass wir nun in der katholischen Zentralschweiz gelandet sind. In ein paar Wochen wird hier dicker Schnee liegen, der See mit einer Eisschicht bedeckt sein. Man will es sich bei diesem warmen Wetter gar nicht vorstellen.

 

Lake with Chapel or vice versa

 

Das Wetter holt mich ein

In den Bergen kann sich das Wetter wie aus dem Nichts ändern. Das sollte sich jeder Wanderer, vor allem die Rookies, zu Herzen nehmen. Alles andere ist gefährlich. Genau das geschieht heute.

Ich habe nicht gewusst, dass es in der Schweiz Vulkane gibt. Offenbar doch, denn das, was sich da vor meinen Augen ausbreitet, muss der Verwandte des Eyjafjallajökull sein.

Oder sind es die ersten Vorboten der Wetteränderung, von der ich eben gesprochen habe?

Scheint so zu sein, denn innert Minuten bedeckt sich der Himmel, eine feuchte kalte Brühe lässt mich erschauern, die Sommergefühle verschwinden, da hilft nur noch eine warme Jacke.

Der Weg führt anfangs bergab, macht dann aber unversehens einen Schwenk, und nun geht es aufwärts, der Passhöhe entgegen. Oben angekommen, sucht das Auge nach Anhaltspunkten und findet keine.

Irgendwo Glockengebimmel, doch die dazugehörigen Kühe bleiben unsichtbar.

Das eben noch stolze Brienzer Rothorn hat sich verzogen, man weiss, dass es noch da ist, aber sicher ist man nicht. Eine Art Schrödinger’s Katze?

 

Trees in fog

 

Der letzte Abstieg – eine Zumutung

Giswil liegt im Tag, weit vorne blinkt der Sarnersee, es ist nicht mehr weit.

Nur noch diesen Abhang, diese Wiese, diesen Wald, dann lockt das Tagesziel, ein Bier zu diesem besonderen Tag, denn heute ist Halbzeit. Die Hälfte der Strecke geschafft, Hurra, dreifach.

 

Not far to today's destination

Path through the forest

Doch dann, ganz und gar unerwartet, beginnt der Weg wieder zu steigen. Ja Herrgott nochmal, das kann nicht sein. Doch auch die Karte zeigt keine Alternative, ausser man folgt der Asphaltstrasse.

Ziemlich grummelnd und fluchend ergebe ich mich dem Schicksal und keuche müde aufwärts. Nach einer halben Stunde, eine der längsten bisher, zeigt ein Wegweiser den Wald hinunter, na also. Das, was mich jedoch erwartet, ist alles andere als ein erholsamer letzter Abschnitt dieser Etappe.

Es ist die Hölle, eine einzige vermaledeite Zumutung. Nie habe ich die Planer derart verflucht.

Der Weg ist nicht nur sehr steil, er ist ausserdem glitschig, die Bohlen sind feucht und teilweise vermodert, Stahlstangen zur Sicherung der Stufen ragen gefährlich aus dem Boden. Ein falscher Schritt, ein Ausgleiten würde das Ende der Tour bedeuten. Man hätte keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, man würde ganz einfach den Weg hinunter stürzen.

 

strenuous descent to Giswil

Und der Weg scheint endlos.

Irgendwann jedoch, ich atme auf, ist das Schlimmste überstanden, der Pfad wird flacher, der Wald lichtet sich. Nur noch wenige Kilometer trennen mich vom Ziel, das Hotel Bahnhof in Giswil.

Dort erwartet mich ein erstklassiges Zimmer, ein ebenso opulentes Nachtessen und das ersehnte Bier, das ich zwar nicht wie letztes Jahr im Schein der untergehenden Sonne trinken kann, aber nichtsdestotrotz ein paar stolze Gefühle hervorzurufen vermag.

 

Passender Song:  Earl Scruggs and Friends – Foggy Mountain Breakdown

Und hier geht der Trail weiter … nach Flüehli-Ranft

 

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