Eine Lektion fürs Leben – man weiss am Morgen nie, was der Tag bringen wird. Ein entspanntes ruhiges Leben zuhause ist gegen Überraschungen gefeit, während auf Reisen alles möglich ist. Alles Schöne oder dessen Gegenteil.
Und genauso ist es heute. Wenn wir gewusst hätten, was uns erwartet, hätte es uns schon am frühen Morgen vor der Abfahrt den Tag versaut. Aber eben, man weiss es nicht.
Der Sandsturm
Nur noch ein paar hundert Kilometer trennen uns vom Meer und der erhofften Wärme. Tagesziel ist je nach Vorwärtskommen Adana oder noch besser eine Stadt am Meer. Nur schon der Gedanke macht glücklich. Der Abschied von Göreme fällt schwerer als andernorts, vielleicht eine Ahnung dessen, was uns an diesem Tag bevorstehen könnte.
Auf jeden Fall begrüsst uns schon kurz nach der Abfahrt der Starkwind, er ist seit vielen Tagen unser ständiger, unwillkommener, verfluchter Begleiter. Wir haben nichts anderes erwartet, wir sind gewöhnt daran er gehört zu dieser Gegend wie die schwarzen Schafe auf der Weide.
Tja, so kann man sich täuschen. Er hat es offenbar auf uns abgesehen. Manchmal hält er für Minuten ein, als wollte er uns eine Verschnaufpause gönnen, um anschliessend mit einem noch wilderen Angriff zu parieren. Nicht mal die schlimmsten Fluchworte noch der ausgestreckte Mittelfinger aus dem Fenster können ihn zur Vernunft bringen. Im Gegenteil – er fegt manchmal so stark über die Strasse, dass wir nur noch im zweiten Gang fahren können.
Kurz – wir bewegen uns also sehr langsam in Richtung Süden. In Nigde, wieder auf der Originalroute Kayseri-Adana, bläst der Sturm zum ultimativen Angriff. Es ist nun kein Orkan im üblichen Sinn mehr, er ist zu einer Art türkischem Chamsin geworden, dem berüchtigten Sandsturm in der Sahara.
Der Angriff erfolgt von allen Seiten, man stellt sich den Windgott Aiolos vor, der von Zeus als Herrscher über die verschiedenen Winde eingesetzte Günstling der Götter, der seine Raserei an uns auslässt.

Er peitscht die umliegenden Sandwüsten zu meterhohen Fontänen auf, er verdunkelt den Himmel, er macht den Tag zur Nacht. Etwas spärliches Licht wirft einen matten Schimmer auf die gelb gefärbte, staub- und sandbedeckte Natur. Es ist längst kein Heulen mehr, es ist ein Brüllen, ein Kreischen, ein Johlen, so stellt man sich den Weltuntergang vor.
Der Staub dringt durch alle Fugen und Ritzen, der Tahir lässt grüssen. Sand und Staub bedecken innerhalb Minuten unsere Kleider, unsere Gesichter, den Tisch, das Bett. Die Blicke, die wir einander zuwerfen, sind eine Mischung von Resignation und verkrampftem Grinsen, während der Wagen sich im Scheinwerferlicht durch die Hölle aus aufgewirbeltem Sand kämpft. Nur manchmal, eine Minute zum Luftholen, hält der Überfall ein, die Sonne scheint für Sekunden durch, doch schon im nächsten Augenblick trifft uns der nächste Überfall, noch stärker, noch aggressiver als zuvor.
Blitz und Donner
Irgendwann, wir haben jegliches Zeitgefühl verloren, ein Pass, der Orkan folgt uns eine Weile, dann bleibt er zurück. Wir atmen kurzzeitig auf, doch bereits bei der Fahrt hinunter ins Tal meldet er sich zurück, in Sekunden herrscht schwarze Nacht um uns herum. Und um dem Spiel noch zusätzliche Dramatik zu verleihen, erhellen Blitze den schwarzen Himmel, Donnerschläge lassen den Wagen erbeben.
Bei der nächsten Tankstelle halten wir an und drücken uns an ein Gebäude, an die mehr oder weniger windgeschützte Seite. Menschen sind keine zu sehen, schon seit Stunden scheint die Welt zu einem verlassenen Planeten geworden zu sein. Am gegenüber liegenden Gebäude wehrt sich das riesige Namensschild heroisch gegen den anstürmenden Orkan, doch nicht für lange. Eine Zeitlang hängt die Konstruktion in bereits gefährlicher Schräglage, doch dann fliegt sie weg.
Der in Kathmandu installierten Plastik-Notkonstruktion auf dem Dach erleidet ein ähnliches Schicksal. Ein paar Minuten vermag sie dem Ansturm standzuhalten, dann ist nur noch ein verängstigtes Flattern zu hören, ein Zeichen, dass sie zerstört sein dürfte. Und dann, schon beinahe erwartet, fallen die ersten Tropfen aufs Dach. Töne, die man nicht hören will. Vor allem, wenn man weiss, was es für die nächste Nacht bedeutet.
Sehen wir der Realität ins Gesicht: Sicht = null. Fahren = mühsam. Vorwärtskommen = langsam. Aussicht auf die Umgebung = keine. Kälte = grenzwertig. Vergnügen = weit unter null. Stimmung = besser als erwartet.
Alles in allem – abenteuerlich. Ein echter Hippietraum!
Eine ganz und gar üble Nacht
Man könnte meinen, dass wir nun genügend Abbitte geleistet haben, wofür auch immer, aber die folgende Nacht wird mit Abstand die schlimmste dieser Reise, die doch bereits mit allerhand unangenehmen Nächten aufgewartet hat.
Ungehindert durch den nun zerfetzten Plastikschutz auf dem Dach, dringt die Nässe durch und bietet uns alles, was zu einer wirklich miesen Nacht gehört. Wir sind gezwungen, ganz nach hinten zu kriechen, wo es noch einigermassen trocken ist, denn unter der leckenden Dachkonstruktion fallen ganze Sturzbäche auf die wehrlose Matratze. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass uns für einmal jeglicher Spass an der Sache verleidet ist. Wenn wir etwas nicht ausstehen können, dann sind es solche Nächte, nasse Matratzen, kein Platz zum Schlafen, Kälte und anderes mehr.
Es kann eigentlich nur besser werden.
Abgefahrene Reifen
Ganz von vorne an diesem besonderen Tag, an dem wir den Winter hinter uns lassen (wollen). Über die vergangene Nacht wollen wir den Schleier des Vergessens legen, doch das Wetter hat noch ein weiteres As im Ärmel – Schnee. Tatsächlich, um das Mass noch vollzumachen, beginnt es in der Nacht zu schneien.
Da bleibt eigentlich nur noch ein homerisches Lachen.
Aber wir sind ja von Natur aus optimistisch und lassen uns durch die Launen des Seins nicht so schnell aus der Fassung bringen.
Der Blick auf die Vorderreifen bringt uns allerdings aus der Fassung. Sie sind nämlich durch das stundenlange gegen den Wind kämpfen bis auf wenige Millimeter abgefahren. Hä? Man kann es sich kaum vorstellen: Reifen, die bis gestern noch in bestem Zustand waren, sind heute unbrauchbar geworden und müssen ersetzt werden.
Egal, wir wechseln die Reifen und fahren los, nur noch ein einziges Ziel vor Augen – die Mittelmeerküste. Heute würde man die Wetter-App konsultieren und laut jubelnd feststellen, dass nur noch ein paar Kilometer von hier der Frühling Einzug gehalten hat. Das ist unbekannte Zukunft, wir müssen uns mit Hoffnung zufrieden geben.
Und dann wird alles besser
Und dann, als ob unsere sehnlichsten Wünsche erfüllt würden, ändert sich mit einem Mal die Landschaft. Eben noch kahl und öd und braun, legt sie sich ein Frühlingskleid über. Wiesen zu beiden Seiten der Strasse in einem geradezu kitschigen Grün, Bäume, Sträucher, Gestrüpp in allen möglichen und unmöglichen Farben, das Braun und Grau der vergangenen Tage und Wochen macht endlich Platz für eine andere Welt, die Welt des Frühlings.
Wir öffnen unwillkürlich die Fenster, die hereinströmende Luft ist warm und voller Aromen des Paradieses, so scheint es uns. Innert weniger Kilometer hat sich die Welt verändert, hat zu einem Zustand zurückgefunden, den wir fast vergessen hatten. Man möchte sich ins Gras werfen, die Sonne im Gesicht spüren, den Kopf ins spriessende Gras drücken.
Und dann der Moment, auf den wir sehnlichst gewartet haben, das Meer! Wir begrüssen es wie einen alten, wiedergefundenen Freund und geniessen jeden Meter entlang der Küste, entlang des vom Wind aufgepeitschten Wassers.
In Silifke finden wir ein Mocamp und beschliessen, uns dort in aller Ruhe von den Strapezen der vergangenen Tage zu erholen.
Silifke
Wir sind nun also in Silifke, ein zu diesen Zeiten noch nicht vom Virus des Massentourismus befallenes mittelgrosses Städtchen, das durch eine auf einem Hügel sitzende Festung bewacht wird. Das Meer ist nahe, einfach so, wie man es sich vorstellt, ganz blau und ganz gross.
Silifke wurde im 3. Jh. v.Chr von Seleukos I. Nikator, einem Nachfolger Alexander des Großen, gegründet. Von den Ruinen aus damaliger Zeit ist allerdings nicht mehr viel erhalten. Die byzantinische Festung, über der Stadt gelegen, wäre einen Ausflug wert, aber wir sind von einem ganz anderen Virus befallen, dem Virus des süssen Nichtstuns.

Dabei befindet sich am Fuße der Burg ein römischer Friedhof, eine Zisterne und ein Aquädukt. Auch die Brücke über den Göksu ist römischen Ursprungs.
Trotz soviel imposanter Vergangenheit bleibt der Besuch im Konjunktiv, wir widmen uns der Erholung, dem süssen Nichtstun. Wir legen die nasse Matratze an die Sonne, versuchen mehr oder weniger erfolgreich, das Wageninnere von Staub und Dreck zu befreien.


Tratsch und Klatsch
Der Tag nach einer endlich wieder mal angenehmen Nacht verscheucht die Mühen und Frustrationen der vergangenen Wochen mit einem geradezu prächtigen Morgen, mit Wärme und dem Versprechen auf Besserung. So kommen wir, man erinnere sich an die griechische Küste, doch noch zu unserem Frühstück am Meer und fühlen uns so fröhlich wie lange nicht mehr, so als würden wir uns gar nicht mehr an die düsteren Erlebnisse erinnern.

Es braucht wenig Überzeugung, um uns noch einen Tag hier zu behalten. Ausserdem benötigt unser armer, alter, angeschlagener Bus den notwendigen Service, wahrscheinlich den letzten. Und einen ebenso dringenden Service brauchen auch hier.
Langweilig wird es nicht. Es haben sich die vergangenen Monate so viele Geschichten angesammelt, dass man damit Bücher füllen könnte. Und so ist es nicht verwunderlich, dass man Leute trifft, deren Neugier über das, was ihnen bevorsteht, wir gerne befriedigen.
Es wird eine lange Nacht. Allerdings sind wir nur anfangs die Erzähler, denn die beiden Traveller aus Bern haben ihrerseits viel zu berichten. Es ist tatsächlich 3 Uhr morgens, als wir endlich das Licht löschen.
Passender Song: The Beatles – Here comes the Sun
Und hier geht der Trail weiter … der türkischen Küste entlang