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Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die letzten Schritte

Nach meinen Berechnungen fehlen bis zum Ziel in Genf noch knapp 20 Kilometer. Damit wären dann die angepeilten 500 Km erreicht (natürlich ist das ein vollkommen blödsinniges Ziel, es zählt schlussendlich alles andere).

Aber mal sehen, ich bin gespannt, wie sehr sich auch emotional das baldige Ende spüren lässt. Jetzt, am frühen Morgen, während ich mich im leeren Esssaal mit der Putzfrau unterhalte, ist es wie immer – entspannt, voller Vorfreude auf die kommende Etappe. Von Abschiedsblues keine Spur.

Und zum letzten Mal – eine liebgewonnene Tradition beim Frühstück – studiere ich den Travelguide und die Karte, mache mir Gedanken über die kommenden, letzten Kilometer bis zum Jet d’eau in Genf.

Die letzte Etappe hat zwei ganz verschiedene Gesichter: Am Vormittag Natur pur, am Nachmittag Siedlung total. Die Wanderung dem Waldflüsschen Versoix entlang ist ein reines Naturerlebnis und die Ankunft am Quai du Mont-Blanc ein stolzer Augenblick.

 

From Commugny to Geneva

 

Farewell Blues

Ich mache mich auf eine ziemlich öde Etappe auf lauter Strassen und wenig Natur gefasst. Die Karte zeigt eine fast komplett überbaute Region, die sich dem ganzen Genfersee entlang zieht. Nicht das, was ich bevorzuge, aber da muss ich durch.

Die ersten Kilometer entsprechen zu hundert Prozent meinen Befürchtungen, doch dann, ganz und gar unerwartet, befinde ich mich nach einer knappen Stunde in einem Wald.

Es könnte der letzte sein. Ich bleibe stehen, lausche dem Wind in den Ästen, dem Raunen des nahen Baches. Und jetzt überfällt mich aus heiterem Himmel die Erkenntnis, dass meine Reise zu Ende ist, dass sich hier in diesem unscheinbaren Gehölz die Essenz der letzten vier Wochen zusammenballt.

Es dauert einen Augenblick, bis ich mich wieder fasse, denn ich will nicht weitergehen, ich will verweilen, noch ein letztes Mal den Vögeln lauschen, das betörende Aroma der nassen Bäume riechen, den Blick in der Unendlichkeit ruhen lassen. Nun ist sie da, die erwartete und befürchtete Wehmut, die zu jedem Ende gehört.

Ich weiss jetzt schon, dass die nächsten Wochen eine schwere Herausforderung sein könnten.

 

Alone and for the last time in the woods

last glimpses of a soon lost paradise

Path and brook, the way I like it

Even the water is running away from me

 

Die Schönheit verweilt

Doch nach einigen tiefen Atemzügen, das Ende ruft, setzte ich den Pfad fort, niemand kreuzt meine Wege, es macht den Anschein, als gehörten die letzten Kilometer mir ganz allein und nur mir.

Es ist nicht so, dass ausserhalb des Waldes nur noch Hässlichkeit triumphiert. Schmucke kleine Dörfer ziehen sich dem Weg entlang, man erkennt die Liebe zur Schönheit, und wenn es nur ein paar Blumen zur Schmückung eines profanen Dorfbrunnens sind.

Und da, nicht mehr so überraschend, erkenne ich von weitem das Tagesziel, den Jet d’Eau, den Springbrunnen im Hafenbecken von Genf. Nun sind es wirklich nur noch ein paar wenige Kilometer, kaum der Rede wert, aber ich werde jeden Meter, jede Minute geniessen, als wären es meine letzten.

 

fountain decorated with flowers

 

Nach Jerusalem

Der Schritt wird immer langsamer, als müsste ich das wenige, was jetzt noch folgt, mit allen Sinnen auskosten.

Nicht weit vor Genf kommt mir ein junger Mann entgegen, schon von weitem als Weitwanderer zu erkennen. Seine Schritte sind langsam und bedächtig, den kleinen Rucksack lose über die Schulter geschlagen, auf dem Gesicht soviel Ruhe und Frieden, wie man nur haben kann.

Man begrüsst sich, er ist Franzose, knapp 30, schlank und fit, und natürlich fragt er mich nach meinem Weg, und ebenso natürlich gebe ich ihm sehr stolz zu erkennen, dass ich in einer Stunde meinen Weg von 500 Kilometern absolviert hätte.

„Et toi?“

Er lacht und erklärt beinahe verschämt, dass er auf dem Weg nach Jerusalem sei.

Es braucht etwas, bis es mir die Sprache verschlägt, aber das haut mich nun doch aus den Schuhen. Was zählen da schon mickrige 500 km. In Sekundenbruchteilen werde ich auf mein richtiges Niveau zurück gestutzt.

„Jerusalem, wow, c’est loin.“

„Oui, mais j’ai le temps.“

In diesem Augenblick erkenne ich, wie sehr ich ihn beneide, wie gern ich ebenso durch ganz Europa bis nach Vorderasien und in den nahen Osten marschieren würde. Aber das sind Träume, die ich mir für das nächste Leben aufspare.

 

Not far away anymore

Le Jet d'Eau getting close

The last meters to the final destination 1

The last meters to the final goal

 

Geschafft!

Noch etwas unsicher, ob ich den Moment der Wahrheit wirklich erleben will, folge ich dem Uferweg in Richtung des Jet d’Eau, vorbei an Tafeln mit irgendwelchen Sujets und Themen, die mich ganz und gar nicht interessieren, überholt von schwer atmenden Joggern.

Und dann bin ich da, auf dem See rauscht der Springbrunnen, er ruft mich zu sich her, man muss ihm die Aufwartung machen. Also mache ich mich auf den Weg, so wie alle anderen Touristen und Spaziergänger, nur dass ich einen etwas weiteren Weg hinter mir habe, um hier zu sein.

Ich spreche den erstbesten jungen Mann an, bitte ihn, ein Foto von mir und dem Jet d’Eau zu machen und setze mein stolzestes Gesicht auf.

 

I've done it!

Und dann verabschiede ich mich zum letzten Mal vom See, der mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Der Blick auf meine Pulsuhr zeigt mir, dass nur noch wenige Meter bis zur magischen Grenze von 500 Kilometern fehlen, bis zum Bahnhof dürfte es reichen.

Der Verkehr um mich herum scheint mir ohrenbetäubend, die vielen Menschen auf der Strasse erschreckend, die Schaufenster langweilig. Und genau unter dem letzten Wegweiser mit der Zahl 3 und der Bezeichnung „Alpenpanoramaweg“ (oder „Chemin Panorama Alpin“) stoppe ich meine Uhr zum letzten Mal, sie zeigt 501 Kilometer an.

Ich habe es geschafft.

Bevor mich Wehmut und Trauer überwältigen, muss ich sofort etwas unternehmen, also setze ich mich in das erstbeste Restaurant und lasse die letzten vier Wochen Revue passieren.

 

Erkenntnisse einer fabelhaften Tour

Niemals hätte ich mir vor vier Wochen vorstellen können, dass ich heute tatsächlich in Genf stehe, 500 Kilometer in den Knochen und wenn die Schätzung stimmt, irgendwas von 800’000 Schritten hinter mir.

Und doch habe ich es geschafft.

Einen Schritt um den anderen, immer schön dem Panoramaweg entlang, mal rauf, mal runter, mal bei Regen und Sturm, mal bei Hitze und gleissender Sonne. Es war nicht immer ganz einfach, aber niemals, NIEMALS, etwas anderes als eine einzige grossartige wunderbare einmalige Erfahrung.

Ich glaube, dass ich nur sehr selten in meinem langen Leben in derart vollkommener Balance gewesen bin. Wenn einfach alles stimmt, wenn man vergisst, was alles nicht stimmt, wenn sich alles Negative irgendwohin verzogen hat, wo es still und leise wartet, bis die Zeiten wieder schlechter werden.

Kann es sein, dass diese vier Wochen zu den schönsten meines ganzen Lebens gehören? Dass diese lange Wanderung das Beste war, besser als all die wunderbaren Reisen auf den ganzen Welt?

Niemals zuvor bin ich so nahe am Glück gewesen.

Mehr kann man nicht erwarten.

Und damit endet meine Wanderung. Und allen, die mich auf die eine oder andere Weise begleitet haben, sage ich Dankeschön und verabschiede mich mit einem wehmütigen Blick zurück.

 

Und zum letzten Mal der Song zum Thema:  The Rolling Stones – The Last Time

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Van Gogh Country

Nicht das, was du nicht weisst, bringt dich in Schwierigkeiten. Sondern das, was du sicher zu wissen glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist. (Mark Twain)

Auf dieser langen Wanderung ist mir oft aufgegangen, wie wenig ich eigentlich weiss, und wie wenig, was ich zu wissen glaubte, korrekt ist.

Das hat vielleicht mit dem Alter zu tun. Erst in fortgeschrittenen Jahren erkennt man, dass man eigentlich wenig oder gar nichts weiss. Ich finde den Gedanken irgendwie tröstlich … und irritierend zugleich.

Doch das ist ja gerade das Schöne an solchen Wanderungen: man hat endlich Zeit sich über Dinge Gedanken zu machen, für die sonst keine Zeit da ist. Auch darüber, dass man (endlich) die eigene Begrenztheit erkennt.

Aber was soll’s, es geht weiter, Genf entgegen, und jetzt kann ich tatsächlich, noch weit entfernt, das Ende des Sees erkennen, dort, wo Genf im frühmorgentlichen Nebel liegt. Morgen werde ich dort sein.

Soweit ist es aber noch nicht, heute wartet eine anspruchsvolle, ziemlich lange Wanderung auf mich. Natürlich spricht der Travelguide von Dingen, die mich nicht mehr betreffen, denn auch heute ist mein Weg ein anderer.

Von der verkehrsreichen, verbauten Uferzone schwenkt der Wanderweg ins flache Hinterland zwischen Genfersee und Jura mit seinen verträumten Dörfern, alten Schlössern, lauschigen Bächen, lichten Eichenwäldern und kultivierten Feldern.

 

From Gland to Commugny

 

Lärmend durch den Wald

Ich starte am See und bin in wenigen Minuten bereits wieder mitten im Wald, und das wird sich so bald nicht ändern. Manchmal kommt es mir vor, als wären es die gleichen Pfade und Bäume und Gebüsche wie gestern oder vorgestern. Was sie natürlich nicht sind, aber sie sehen auf jeden Fall absolut gleich aus. Sogar die Pfützen und tiefen Gräben erinnern mich an gestern.

Der Weg nach Prangins führt einige Kilometer im Zickzack durch einen dichten Wald und an einem Golfplatz vorbei, wo sich trotz des schlechten Wetters ein paar Unentwegte ihrem geliebten Sport hingeben.

Heute bin ich für einmal nicht allein im Wald, Gruppen junger Leute, begleitet von ihrem Lehrer, lärmen entlang der Wege. Offenbar steht ein Ausflug in die Natur auf der heutigen Tagesordnung. Manchmal bin ich ihnen voraus, dann wieder schliessen sie auf, überholen mich, bis ich wieder die Vorhut übernehme.

 

Eternal similar paths through dense forest Are they the same paths as yesterday?

 

Wildes Wasser

Der See begrüsst mich mit wütendem Rauschen und Toben, als wäre er empört, dass er schon bald allein gelassen wird. Die Wellen preschen gegen das Ufer, nasse eiskalte Böen fallen über die Tische und Stühle des geschlossenen Gartenrestaurants her, es ist niemand da, nur ich. Es verschafft mir die Gelegenheit, eine Pause einzulegen, ein Brötchen zu essen und dem wilden Getue des Sees zuzuschauen.

Meine einsame Kontemplation hat schon bald ein Ende, als die Gruppe junger Leute eintrifft. Man kennt sich in der Zwischenzeit, man grüsst sich, nickt sich freundlich zu, doch die Jugendlichen sind zurückhaltend. Obwohl ich den einen oder anderen neugierigen Blick erhalte, spricht mich keiner an. Welch höfliche Jugend.

 

Bad weather at the lake

 

Abgründe

Prangins und Nyon sind zusammengewachsen, ich laufe ohne grosse Begeisterung durch die lauten Strassen, ohne zu wissen, ob ich noch in Prangins oder bereits in Nyon bin.

Am Bahnhof in Nyon habe ich endlich Gelegenheit, meine Vorräte aufzufrischen, viel brauche ich nicht mehr bis morgen Abend. Ich setze mich auf eine Bank, trinke, esse, beobachtet von einer älteren, verloren aussehenden Frau. Auch hier hat das Paradies Grenzen, man ist wie meistens blind für die Abgründe, die sich unweit auftun.

Kurz nach Nyon zweigt der Weg wieder ab, er folgt zuerst der Eisenbahn, dann wieder dem Wald, über schmale Brücken, morastigem Boden, bis endlich wieder Wiesen entlang, so wie ich es gern habe. Abwechslungsreich, auf jeden Fall wird einem nicht langweilig.

 

Along the train tracks

... over bridges ...

... and very dirty paths ...

... but then again along the forest on beautiful paths

 

Van Gogh Country

Da steht man nun und wundert sich. Hat man sich irrtümlich in ein Bild von Vincent Van Gogh verirrt? Oder bin ich nicht mehr in der Nähe des Genfersees sondern irgendwo in der Provence?

Bei einem kleinen schnuckligen Häuschen mit Turm zweigt der Weg in eine Wunderwelt aus gelben Weizenfeldern ab. Nicht erstaunlich, dass ich mich vom ersten Augenblick an wie in einem Bild von Van Gogh glaube. Fehlen eigentlich nur noch die Zypressen, oder – in einem anderen berühmten Bild – die Rabenschwärme am Himmel.

 

Is it a small castle or just a house with small tower?

Dark sky above a wheat field

Van Gogh Wheatfield

It's Van Gogh country - sky and yellow fields

Der Rest der Etappe ist schnell erzählt. Irgendwann wird der Weg aufgesogen durch Dörfer und Weiler, er führt durch dichtbesiedeltes Gebiet, entlang ziemlich mühsamer Asphaltstrassen, bis endlich Commugny auftaucht, und da ist auch schon mein Hotel, und es sieht genauso geschlossen aus wie dasjenige in Etoy.

Immerhin zeigt sich nach kurzer Zeit eine junge Dame am Fenster, sie ist sozusagen die Hüterin des Lichts an diesem Tag und öffnet mir die Tür. Es wäre schade gewesen, wenn ich auch bei der letzten Übernachtung Probleme gehabt hätte. Aber alles gut, das Zimmer ist erstklassig, und zum letzten Mal strecke ich meine müden Glieder aus.

Aber meinen Füssen, die bis jetzt bravourös durchgehalten haben, scheint die Lust an noch mehr Kilometern definitiv vergangen zu sein. Vor allem die Zehen an meinem rechten Fuss sehen irgendwie seltsam aus. Sie sind geschwollen und schmerzen, vor allem am Morgen und nach den Pausen. Manchmal werde ich angesprochen, wenn ich wie ein uralter Mann vorbeihumple. Aber eben, liebe Füsse, es ist nicht mehr weit.

 

Song zum Thema:  Mule and Man – 10k Types of Tortures

Und hier geht die Tour dem Ende entgegen … nach Genf

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der zerbrechliche Mensch

Das Hotel Chez Yann weist heute Morgen tatsächlich eine menschliche Komponente in Gestalt einer jungen Dame auf, die mir freundlich das Frühstück serviert. Mit etwas Mühe setze ich trotzdem mein grimmigstes Gesicht auf. „C’etait pas tres drole hier soir“.

Ich kann gar nicht anders als ebenfalls grinsen, denn ein Grinsen ist alles, was ich als Antwort erhalte. Offenbar ist der Herr und Meister des Hotels bekannt dafür, dass er schon mal vergisst, das Eintrittsprozedere bekanntzugeben.

Bei der heutigen Etappe ist es wie erwartet – man muss nun die Natur, nicht so wie die letzten Wochen, suchen. Manchmal ist es fast ein bisschen zuviel Zivilisation. Lange Reihen von Häusern, eher langweilig, dann wieder Asphaltstrassen. Aber das wusste ich ja, meine geliebten Berge und Hügel und Wiesen sind verschwunden, dafür jede Menge moderner Welt.

Der Travelguide findet:

Ein aussichtsreicher Vormittag durch die Rebberge und Weindörfer der Waadtländer La Côte und ein schattiger Nachmittag entlang des Toblerone-Wegs am Serine-Bach (ehemalige Panzersperre).

Da der Original Panoramaweg andere Routen nimmt, werde ich von jetzt an nur noch meine eigenen Werte anzeigen.

 

From Etoy to Gland

 

Das ewig Gleiche – oder doch nicht?

Eine Strasse führt in Richtung des Sees, ich durchquere ein weiteres Dorf und zahlreiche hässliche Industriegebäude, die mich schneller gehen lassen. Es wird in ein paar Tagen früh genug sein, um diese Anblicke wieder ertragen zu müssen.

Doch nach einer halben Stunde liegt das Gröbste hinter mir, ein schmaler Weg entlang Weizenfeldern führt mich geradewegs in einen Wald, wo ich nach kurzer Zeit auf den Fluss Aubonne treffe. Das ist wieder mehr nach meinem Geschmack.

Auf den ersten Blick sieht alles genau gleich aus wie gestern – alte knorrige Bäume, die sich über den Weg neigen, eine grüne Welt rechts und links des Weges, manchmal ein Bach, diesmal die Aubonne.

Und doch ist es anders – und gleich. Auch ich bin nicht der gleiche wie gestern, und doch gleich. Auch die Eindrücke sind anders – und doch irgendwie gleich. Aber so muss es sein. So ist das Leben. Alles gleicht sich und ist trotzdem anders. Es erinnert mich daran, dass 99% der Gedanken, die man im Verlauf eines Tages denkt, die gleichen sind wie an allen Tagen zuvor. Irgendwie beschämend.

 

Path along woods and meadows

And then again a creek, this time the Aubonne

The paths seem to be similar and yet different

The thunderstorm has left its traces

 

Der zerbrechliche Mensch

Es ist ein permanentes Hin und Her zwischen Wald und Wiesen und See. Die Aubonne hat ihren eigenen Weg zum See genommen, ich nehme einen anderen, doch auch dieser endet irgendwann am Ufer.

Heute spielt das Wetter eine untergeordnete Rolle, Wolkenschlieren verschaffen dem See ein kränkelndes Grau, nicht eben das, was man sich wünscht. Es ist niemand zu sehen, wahrscheinlich, heute ist ja Montag, sind alle am Arbeiten. Viel Spass!

Ich parkiere meinen Rucksack und setze mich ans Ufer. Das heisere Geschrei der Möwen ist das einzige Geräusch, vielleicht noch alle paar Sekunden begleitet durch das sanfte Plätschern der Wellen.

Die letzten Tage ist mir aufgefallen, dass ich eine merkwürdige Wehmut empfinde. Mein Blick liegt zwar nach wie vor auf der Umgebung, aber in einer Art Trance, als hätte ein inneres Auge die Kontrolle übernommen. Es ist so, wie wenn man lange, unfokussiert, ohne zu blinzeln, in die Ferne blickt.

Was hat dies zu bedeuten? Ist es das baldige Ende der Tour, oder hat es andere Gründe?

Natürlich stolpert man bei einer derart langen Wanderung früher oder später über jedes Thema, auch die unangenehmen, die lieber stumm bleiben wollen. Aber es ist unausweichlich, und ich realisiere langsam, dass in den letzten knapp vier Wochen einiges an Verdrängtem aufgebrochen worden ist. Es kommt mir vor, als hätten sich lang vergrabene Gefühle und Schmerzen an die Oberfläche gedrängt. Soviel, was nicht gedacht, nicht gesagt, nicht getan wurde. Oder umgekehrt.

In diesen Momenten wird man sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewusst.

Der Leser verzeihe mir, wenn ich hier nicht weiter in die Tiefe schweife. Gewisse Dinge müssen ungesagt bleiben.

 

Back at the lake Gray in gray

 

Rolle

Nach einem erneuten Ausflug in die Natur empfängt mich Rolle, eine Kleinstadt am See, wunderschön gelegen, wie sich schon bald zeigen wird.

Offenbar entspricht das Stadtbild einem mittelalterlichen Muster. Es gibt nur eine einzige Hauptstrasse, an der entlang die Häuser stehen. Es gibt eine reformierte Pfarrkirche, deren Glockenturm noch aus dem Mittelalter stammt.

Das Schloss von Rolle steht direkt am Seeufer, ich bleibe stehen, lese seine Geschichte nach und bin beeindruckt. Es sieht aus, als könnte es noch heute jeder Bedrohung widerstehen, allerdings erfahre ich, dass es im 16. Jahrhundert von den Eidgenossen niedergebrannt wurde. Also doch nicht so trutzig wie erwartet.

 

The Rolle Castle

Old and inspiring

Eine kleine Insel, die Ile de la Harpe, liegt einen Steinwurf weit im See draussen, das Schiff auf dem Weg zur französischen Seite nimmt eben Fahrt auf.

 

Ship leaving Rolle

Die Seepromenade ist einmal mehr eine Augenweide. Der ganz normale Steg zur Anlegestelle ist mit roten und violetten und gelben Blumen geschmückt, ein überlebensgrosses Modell einer Biene, mit Blumen bedeckt, steht in einem Blumenbeet, als würde sie den Nektar schlürfen.

Man kann gar nicht anders als glücklich zu sein.

 

a larger than life artificial bee

Flowers everywhere

 

Lange Wege nach Gland

Irgendwie ein seltsamer Weg heute. Er scheint sich nicht entschliessen zu können, ob er eher dem See entlang oder doch lieber im Landesinneren durchgehen soll. Nach Rolle geht es erstmal wieder ins Grüne, endlos scheinende Pfade den dunklen Wolken entgegen, der Himmel hängt tief und bedrohlich. Es würde mich nicht wundern, wenn ich auch heute Nachmittag mit einem feuchten Gruss beschenkt werde.

Es ist noch früh, wenn ich in diesem Tempo weitergehe, bin ich hoffentlich noch vor dem erwarteten Gewitter im Hotel. Wenn ich mir allerdings den Himmel ansehe, wird mir etwas unbehaglich. Der Blick geht nun häufiger zur Karte, man schätzt die Entfernung ab, beruhigt sich für den Moment, um sogleich wieder das verstörende Gefühl vor einem nahenden Gewitter zu verspüren. Wenn ich etwas hasse, dann auf einem flachen Feld einem Gewitter ausgesetzt zu sein.

Immerhin, ich werde bis wenige Kilometer vor dem Tagesziel verschont, um dann doch noch verregnet zu werden. Die letzten Kilometer führen entlang einer stark befahrenen Strasse, nicht unbedingt meine bevorzugte Fortbewegung. Neben mir donnern die Autos und Lastwagen vorbei, aus denen mir der eine oder andere spöttische Blick zugeworfen wird.

Aber schliesslich bin ich da, ich werde bereits erwartet, welche Ehre, und man führt mich gemessenen Schrittes zu meinen Gemächern, für heute allerdings lediglich in Form eines ziemlich kleinen Zimmers, aber was brauche ich mehr.

 

Long way to Gland

It seems endless and threatening

And at the end even along a road

 

Ein Fussball-Krimi am späten Abend

Das Abendessen im Hotel Restaurant de la Plage fällt aus, heute ist das Restaurant geschlossen, und ich bin wieder mal angeschmiert. Das Etablissement befindet sich zwar an schönster Lage direkt am See, allerdings weitab von jeglichen anderen Restaurants oder Einkaufsläden.

Die Dame des Hauses sieht meinen enttäuschten Blick und sucht nach einer Lösung. Sie beauftragt ihren Mann, einen Herrn trés distingué in den besten Jahren, mich zu einer Pizzeria zu fahren, die nicht allzu weit entfernt liegt.

Und so lande ich nach kurzer Fahrt in der besagten Pizzeria, wo ich erstens eine grossartige Pizza und zweitens einen Logenplatz vor dem TV erhalte. Die damit verbunden Diskussionen zum Fussball-Match machen mich in kurzer Zeit zu einem engen Freund der Belegschaft.

Um 21 Uhr findet der entscheidende Achtelfinal zwischen Frankreich und der Schweiz statt. Allerdings hat der Glaube an unsere Nationalmannschaft stark gelitten (und nicht mal das gute Spiel gegen die Türkei hat meine Zweifel reduzieren können). Gegen Frankreich, immerhin den amtierenden Weltmeister hat unser Team keinen Stich.

Nach dem 1:3 ist jegliche Hoffnung erloschen, ich habe genug und lege mich schlafen. Allerdings werde ich kurze Zeit später durch seltsame Geräusche von draussen geweckt. Doch etwas neugierig geworden, schalte ich den TV wieder ein, oh, neues Resultat 3:3. Wow!

Es geht in die Verlängerung, aber vor dem entscheidenden Penaltyschiessen erinnere ich mit Schaudern an 2006 und schalte wieder ab, um nach gut zehn Minuten durch ein paar euphorische SMS geweckt zu werden. Was niemand erwartet hat, ist passiert: die Schweiz hat Frankreich nach Hause geschickt. Und ich armer Tor habe das meiste verpasst!

 

Song zum Thema: Lana Del Rey – Summertime Sadness

Und hier geht der Weg weiter … nach Commugny

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Ein Weg für Träumer

Es geht dem Ende entgegen.

Manchmal glaube ich, in der Ferne Genf zu sehen, was natürlich nicht sein kann. Es sind immerhin noch vier harte Etappen und viele Kilometer zu bewältigen, heute nach Etoy, einem kleinen Dorf im Landesinneren.

Aber was soll’s, auch die heutige Tour verspricht eine ganze Menge:

Ohne die geringste Steigung und dennoch mit wunderbarer Aussicht auf die Savoyer Alpen spaziert man vom Lausanner Hafen Ouchy auf einem breiten Uferweg ins alte Städtchen Morges mit seinem imposanten Schloss und dem ehemaligen Kriegshafen der Berner.

Tatsächliche Werte: Länge: 23.5 km, Aufstieg | Abstieg: 725 m | 650 m, Wanderzeit: 7 h 42 min

Es ist also tatsächlich eine recht lange Etappe geworden, aber meistens dem Ufer entlang, durch Wälder und Wiesen. So wie man sich’s vorstellt.

 

From Lausanne to Etoy

 

Das Leben am See

Während ich gemütlichen Schrittes dem See entlang laufe – bis Morges bleibt ja alles flach, keine Steigungen – beobachte ich das Leben am See. Es ist Sonntag, das Wetter fühlt sich zwar schlecht gelaunt an, aber die Seeufer sind bevölkert, Mamis und Papis mit Kinderwagen, alte Leute, die Hand in Hand am Uferweg flanieren, Jogger, Biker, Badende im See und im Pool, bloss kein einziger Wanderer. Aber zum ersten Mal überhaupt stellt sich eine merkwürdige Erkenntnis ein, unerwartet und überraschend.

Ich könnte mir vorstellen, hier zu leben.

Es ist nicht nur der See, das Lavaux, die milde Luft, die Atmosphäre, nein, es sind vor allem die Menschen, die mich mit Freundlichkeit und Herzlichkeit und Charme empfangen. Nicht dieses manchmal dumpfe, schwere, verschlossene Verhalten der Deutschschweizer, das auf ihre Abstammung hinweist. Bergler, Bauern, misstrauisch gegen alles Fremde, gegen alles von oben, gegen alles, was sie nicht kennen. Ein Menschenschlag, der Jahrhunderte lang das Überleben kannte und nichts anderes.

Ich will ihnen nichts vorwerfen, ich gehöre ja selbst dazu, aber wenn man sie besser kennt (was lange dauern kann), sind sie ganz angenehm (nicht immer).

Aber zurück zum Weg.

 

Boats at the shore of Lake Geneva

Deserted Pool, the clouds are guilty

Manchmal führt der Trail mitten durch eine öffentliche Badeanstalt, doch die Pools sind an diesem düsteren Tag leer, nur ein paar Unentwegte wagen den Sprung ins kalte Wasser.

Der Himmel ist mir (und all den anderen) heute nicht wohlwollend gesinnt, dunkle Wolken ziehen lautlos über das ebenso graue Wasser, doch nach den vergangenen Hitzetagen tut der Schatten und die angenehme Wärme gut.

Der Weg führt einmal mehr am Ufer entlang, der Lärm hinter mir verstummt, ich bin ganz allein, nur ein paar Ruderboote draussen im See versuchen offenbar die lokalen Rekorde zu brechen. Ein Mädchen, vorne sitzend, gibt den Ton an, die muskulösen Männer geben ihr Bestes.

 

Gray sky, gray water

Again alone along the shore

 

Allein auf weiter Flur

Ich bin allein unterwegs, wie meistens auf dieser Wanderung. Schätzungsweise 80-90 % der Zeit verbringe ich in meiner eigenen Blase, ungestört durch den Lärm der Welt, die Sinne offen und empfänglich für alles. Ich sehe, ich höre, ich rieche, ich fühle.

Wenn ich mich nicht irre, steht in Folge 5 von „Damengambit“ der Satz, der dazu passt: „Die stärkste Person ist diejenige, die keine Angst hat, allein zu sein.“

By the way, eine der besten Netflix Serien ever. Unbedingt reinsehen. Hier meine absolute Lieblingsszene am Schluss, wenn sie nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft die alten Schachspieler in einem Moskauer Park trifft:

 

Hape Kerkeling hat auf dem Jakobsweg Erleuchtung gesucht oder zumindest ein paar Antworten zu drängenden Fragen. Ob er sie gefunden hat, weiss ich nicht, aber ich denke, dass dieser Aspekt einen wichtigen Anteil am Riesenerfolg seines Buchs gehabt hat.

Ich suche zwar keine Erleuchtung, sollte sich aber etwas in dieser Richtung einstellen, bin ich durchaus empfänglich dafür.

Die langen Stunden durch strömenden Regen, weit und breit kein lebendes Wesen ausser den gelegentlichen Kühen auf der Wiese, oder unter sengender Sonne, während sich ringsherum eine Welt voller Schönheit öffnet, verschaffen mir so etwas wie Erleuchtung. Schon heute, ein paar wenige Tage vor dem Ende, spüre ich Emotionen, die mir bewusst machen, dass mir etwas sehr Kostbares geschenkt worden ist.

Wenn ich von der Wanderung und meinen Erlebnissen berichte, ist die erste Frage meistens „Allein?“ Auf die Antwort folgt in den meisten Fällen ein verständnisloses „Aha“, begleitet von Fragezeichen, die sich hinter gerunzelten Stirnen verstecken.

Es sind nicht die gestellten Fragen, es sind die nicht gestellten.

 

Ein Weg für Träumer

Wie oft muss ich noch wiederholen, wie sehr mir diese Wege gefallen? Wie verbunden ich mich fühle mit allem, was mich umgibt?

Manchmal folgt der Weg wieder dem See, mit einem einzigen Satz könnte man ins Wasser springen, dann wieder zweigt er ab, Sträucher und dichtes Gebüsch neigt sich über den Weg. Einmal, zweimal, je nach Lust und Laune, setze ich mich irgendwo hin, meistens am Wasser, starre hinaus auf die hellblaue Fläche, folge den Bewegungen der Wolken, sie sind meine Freunde geworden.

 

Path along the Lake Geneva

... and a path across dense nature

Sometimes just looking out to the gray lake

And always water and trees and clouds

some steadfast rowers

Path along a tunnel of trees and bushes

And then again through a forest, dirty and wet

 

Morges

Nach knapp vier Stunden erreiche ich Morges, gemäss Führer das heutige Tagesziel.

Das Savoyer Städtchen mit seiner breiten Uferpromenade, dem von den Bernern angelegten Kriegshafen (1691-96 erbaut) und dem Schloss, das heute ein Militärmuseum beherbergt, hat einiges zu bieten.

Aber es ist immer das gleiche Problem auf dieser Wanderung: nicht genügend Zeit, um gelegentlich zu verweilen, dem permanenten Vorwärtsdrang für eine Weile Einhalt zu gebieten. Das trifft heute ganz besonders zu. Ich bin sicher, dass Morges einen Aufenthalt lohnen würde, aber eben ….

 

The cathedral of Morges

The ancient castle, today a military museum

Der Weg führt eine Weile durch grosszügig angelegte Parkanlagen, uralte Bäume stehen reglos in Reih und Glied, eine Armee stummer Soldaten, Baumspitzen, die wie Speere in den Himmel stechen.

 

Park near Morges

an army of old trees

Aber dann, für heute die letzten Kilometer dem See entlang. Nachher geht’s ins Landesinnere, wo ein Zimmer in Etoy auf mich wartet. Nochmal die Wege durch dichtes Gehölz, ganz nahe am Wasser, Bäume strecken sich den Wellen entgegen, man glaubt, dass sie sich nahe sein möchten.

 

Even seen so many times - always an awesome view

Trees and water - they belong to each other

 

Le Boiron

Ein Bach, Le Boiron, führt nach dem Dorf Tolochenaz in den Wald hinein. Es geht nun gegen Norden, weg vom See, in Richtung von Etoy, dem heutigen Tagesziel. Dass der Weg dem Bach entlang „Sentier de la Truite“, Forellenbach, heisst, scheint selbsterklärend zu sein. Ich kann mir angesichts des schmutzig braunen Wassers allerdings nicht vorstellen, dass es hier noch viele Forellen gibt.

Aber der Weg ist traumhaft. Nur ganz wenige Wanderer, wohl eher Sonntagsspaziergänger, verirren sich in den Wald, man grüsst sich „Bonjour Monsieur“, „Bonjour Madame“ und geht seines Wegs.

Es ist feucht geworden, die nassen Bäume und Strächer zeugen von den Regengüssen der vergangenen Tage, der Weg ist zeitweise morastig und schwer zu begehen, aber das ist nichts Neues für mich.

Obwohl die bewohnten Gebiete wie auch die Autobahn nahe sind, fühlt man sich in einer anderen Welt. Die einzigen Geräusche sind das Murmeln des Baches, das leise Wiegen der Bäume im Wind, manchmal der sehnsüchtige Ruf eines einsamen Vogels im Geäst.

Manchmal wünschte ich mir, der Weg würde nie zu Ende gehen.

 

Le Boiron, a small brook in the forest

The bridge has lasted many years, one can see it

It is quiet, sometimes the lonely cry of a bird

The only sound far and wide - the gurgling of the water

 

Etoy – und ein geschlossenes Hotel

Nach ein paar Kilometern zweigt der eigentliche Panoramaweg wieder zurück zum See, doch für mich gilt eine alternative Route, die mich nach Etoy führen soll. Ich überquere die Autobahn – die lärmige Welt hat mich wieder – und folge dann einem endlos scheinenden Weg entlang Weizenfeldern und Treibhäusern.

Und tatsächlich, kurz vor Etoy fängt es an zu regnen, ich flüchte mich in den vermeintlichen Schutz eines Treibhauses, doch schon nach kurzer Zeit lässt der Regen nach, die paar Tropfen stören mich nicht.

 

I cross the Autobahn - back in civilisation

Etoy - greeted by house with ivy

Und dann bin ich da, in Etoy, einem kleinen unscheinbaren Dorf, das ich garantiert nicht besucht hätte, wenn ich andernorts ein Zimmer gefunden hätte.

Die Auberge Communale „Chez Yann“ sieht von weitem recht ansehnlich aus, allerdings auch sehr verlassen und geschlossen. Dass mir ausgerechnet das teuerste Hotel auf dem Weg einen sonntäglichen Streich spielt, finde ich nicht wirklich lustig.

Auf der anderen Strassenseite hat zumindest ein kleiner Laden geöffnet, die jungen Leute sind äusserst freundlich und zuvorkommend und helfen mir bei der Lösung dieses stupiden Problems. Nach einigen vergeblichen Anrufen beim Hotelmanager (der irgendwo ausserhalb wohnt), kriege ich den Kerl tatsächlich ans Telefon, bin wahrscheinlich etwas ruppig im Ton, aber immerhin verrät er mir das Geheimnis, wie sich das Tor zum Sesam öffnen lässt.

Also, ich habe ein Zimmer, es gibt eine heruntergekommene Dusche, die ich erst mal flicken muss, einen winzigen TV, wo ich später Fussball sehen möchte, und im ganzen Kaff kein Restaurant, wo ich mein weiss Gott hart verdientes Dinner essen könnte. Ich kaufe also im Laden ein und verziehe mich dann ziemlich schmollend auf mein Zimmer und schwöre, dass ich für einmal eine sehr negative Bewertung dieses unmöglichen Etablissements abgeben werde.

 

Song zum Thema:  Bishop Briggs – The Way I do

Und hier geht die Reise weiter … nach Gland am Genfersee

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Das Lavaux als Höhepunkt

Es würde mich nicht wundern, wenn die heutige Etappe die schönste der ganzen Wanderung wird.

Es ist acht Uhr morgens, der Himmel ist so blau, wie er sein sollte, der See kräuselt sich im Morgenwind, was kann man von einem gewöhnlichen Samstag mehr erwarten. Das abendliche Tief ist durch viele Stunden tiefen Schlafes verschwunden. Und vor allem – der Weg durch das Lavaux ist ein besonderer Leckerbissen.

 

Just water and clouds and mountains

 

La Place du Marché

Nun, das Frühstück muss ich mir wieder mal auswärts organisieren, aber der grosse Platz direkt vor meinem Hotel, la Place du Marché, bietet nicht nur zahlreiche Restaurants und Cafés, nein, heute Samstag ist Markttag, der Platz ist voll belegt mit unzähligen Ständen, die alles, was das Herz begehrt und dem Gaumen mundet, anbieten.

Während ich durch die Stände gehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Solche Märkte würde ich mir auch in der Deutschschweiz wünschen. Wo die wunderbaren Düfte in der Luft schweben, wo sich die Leute treffen, schwatzen, einkaufen, fröhlich sind.

Anyway, ich kann mich kaum zurückhalten, muss aber gleichzeitig aufpassen, dass ich meinen Rucksack nicht überlade, denn heute steht eine zwar grossartige, gleichzeitig aber auch sehr lange Etappe vor mir. Ich begnüge mich also lediglich mit frisch duftendem Brot und einigen süssen Verführungen, die aussehen wie Schnecken, aber noch viel besser munden.

Doch bevor ich losziehe, setze ich mich in das nächste Café, bestelle Kaffee und eine wunderbar duftende Brioche und lasse das Leben ringsherum auf mich wirken. Es ist schwierig, sich loszureissen. Man möchte bleiben, den Tag auf diesem Stuhl verbringen, dazwischen vielleicht ein Schwatz mit irgendwelchen Leuten, etwas essen, etwas trinken und einfach das Gefühl spüren, am richtigen Ort zu sein.

 

La place du marché

Wie erwähnt, die heutige Etappe verspricht eine ganze Menge.

Eine Genusswanderung durch die steilen Rebberge des Lavaux, die seit 2007 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören. Unterwegs trifft man auf die uralten Winzerdörfer St-Saphorin, Rivaz, Epesses und die schmucken Städtchen Cully und Lutry am Lac Léman.

 

From Vevey to Lausanne

 

Das Lavaux – eine weltberühmte Schönheit

Bevor es richtig losgeht, ein paar Worte zu dem, was mich heute erwartet.

Mit über 800 Hektaren Rebfläche sind die Weinberg-Terrassen des UNESCO-Welterbes Lavaux das grösste zusammenhängende Weinbaugebiet der Schweiz und bietet Terrasse für Terrasse beste Aussichten. Terrassierte Weinberge, unten der Lac Léman, hinten die verschneiten Berge – man braucht etwas Zeit, um diese Landschaft richtig zu geniessen! (Copyright MySwitzerland.com).

 

The Lavaux - UNESCO World Heritage

Der Weg folgt anfänglich dem Ufer, der Lärm der Stadt bleibt hinter mir zurück, es wird ruhig, nur noch das Plätschern der Wellen, die leise ans Ufer klatschen, begleitet meine Schritte. Etwas später überquert man den Fluss La Veveyse, der sich hier in den See entleert, nicht eben so sauber, wie man sich das von einem Gewässer vorstellt.

 

The wine terraces greet from afar

Doch dann zweigt der Weg nochmals in die Stadt ab, ich komme an einem stattlichen Gebäude vorbei, Nestlé, wie es scheint, der Nahrungsmittel Gigant, der hier seinen Hauptsitz hat. Es dauert eine Weile und ein paar Kilometer, bis die Eisenbahn unterquert, zahlreiche Strassen überquert und endlich das offene Land erreicht wird. Doch dann, endlich, fängt es an.

Man glaubt, in einer anderen Welt angekommen zu sein.

 

Durch die Weinbauterrassen

Obwohl die Wege durch die Anbaugebiete durchwegs asphaltiert sind, ist das Gehen ein einziges Vergnügen. Wie könnte es auch anders sein: die Luft ist warm und frisch, der Wind eine zärtliche Umarmung, das Auge trunken durch all die Anblicke rechts und links des Weges.

Man hat den Eindruck, in etwas Vollkommenes geraten zu sein, etwas, was es gar nicht geben kann, denn alles Menschliche ist unvollkommen, wie Fernando Pessoa behauptet.

Ich habe Mühe, alles aufzuzählen, was einfach da ist, als wäre es das Normalste dieser Welt.

Es sind nicht nur die blühenden grünen Terrassen, wo man jetzt schon die reifenden Trauben hängen sehen kann, es ist – besonders heute, als Geschenk an mich und alle anderen Spaziergänger und Wanderer mit dem gleichen Ziel – auch der See, dessen Wellen sanft schaukeln, es ist der Himmel, beinahe wolkenlos, es sind die Berge am anderen Ufer, behängt mit Schleiern aus Wolken, es sind die kleinen Türmchen, die aus stattlichen Häusern ragen, die Dörfer, die alle paar Kilometer zum Trank (am liebsten natürlich zu einem Schluck Chasselas, dem hiesigen Wein) laden …

Wie soll ich morgen die Wanderung fortsetzen, wenn das Schöne bereits vorbei ist?

 

Path through the vineyards

view from the vineyard to the lake

 

Weit weg von allem

Manchmal setze ich mich auf eine Steinmauer, knabbere an meinem süssen Teil, dessen Name ich leider nicht weiss, wieder einmal vollkommen bei mir. Wie könnte man auch anders. Wenn jemand inmitten dieser Schönheit seinen Problemen nachgrübelt, hat er tatsächlich ein Problem.

 

Mountains on the other side of the lake

Sometimes just a boat and the lake and nothing else

Also in Kürze, ich komme aus dem andächtigen Staunen nicht heraus, lediglich einen Augenblick lang, wenn mich das Geräusch der Autobahn, die oberhalb des Lavaux durchführt, aus meinen Träumereien holt.

 

Verkaufsstände und Wein, viel Wein

Alle paar Kilometer laden winzige Verkaufsstände, nicht mehr als ein Tisch und eine kleine gedeckte Hütte, zum Kauf des hiesigen Weins ein. Wie bereits erwähnt, der Chasselas ist hier die wichtigste Sorte, die seit Jahrhunderten angebaut wird. Der Wein hat immer noch seine Fans, hat aber in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren.

Nun, ich würde mich gern zu einem Schluck einladen, allerdings ist der Weg bis Lausanne noch sehr weit. Ob ein halbnüchterner Wanderer noch genug Durchhaltevermögen besitzen würde, wage ich zu bezweifeln, deshalb lasse ich es schweren Herzens sein.

 

The sky fits the picture

when there's no vineyard, then it's blooming flowers everywhere

Houses and trees and ships

Ganz oben auf einem Hügel – man bewegt sich ja permanent auf und ab, ist manchmal in Seenähe, dann wieder ganz auf den oberen Hügeln – befindet sich ein Aussichtspunkt, auf dem ich liebend gern meine Siesta abhalten würde. Aber alle Sitzplätze sind belegt, auch kein Wunder bei diesem prächtigen Wetter. Ganze Heerscharen von Spaziergängern und Wanderern und Bikern sind unterwegs, machen sich gegenseitig den Platz streitig, aber alles geht in gutmütigem Chaos vor sich.

 

Schiffe und Autos und Häuser und reiche Leute

Manchmal, etwas überraschend und einen Augenblick lang ärgerlich, biegt plötzlich ein Auto um die Ecke, obwohl man meint, auf Wanderwegen zu sein. Aber eben, inmitten der Anbaugebiete befinden sich Häuser, eher Villen, die hier schon seit Urzeiten stehen und nun an die Enkel mit ihren teuren SUVs vererbt worden sind. Hinter getönten Scheiben sitzen attraktive Damen oder ihre ebenso attraktiven Männer und auf den hinteren Sitzen die nächste Generation an attraktiven reichen Leuten.

Tja, so ist die Welt. Man wundert sich etwas, und geht seines Weges. Alles andere wäre Vergeudung wunderbarer Momente.

 

Boats and rich people

A house in the midst of paradise

Houses like fortresses in the middle of the vineyards

 

Dörfer, doch Restaurants sind rar

Alle paar Kilometer wird man von einem Dorf empfangen, manchmal direkt am See, dann wieder auf den Hügeln. Ich bin durstig, verlange nach einem starken Kaffee oder  irgendwas, aber die Etablissements wie beispielsweise in Rivaz oder Chexbres sind alle geschlossen.

Das verstehe ich überhaupt nicht, das Welschland hat doch eigentlich den Ruf, sehr kundenfreundlich und dem Trank zugetan zu sein. Aber sei’s drum, ich gehe weiter, das Leben ist auch ohne Kaffee erträglich, vor allem heute. Ich folge dem Chemin du Dezaley, das ist mal ein Wein, dem ich durchaus zugeneigt bin, vor allem zu einem Fondue.

 

St. Saphorin - the village with another famous wine
St. Saphorin – Dorf mit berühmtem Namen

St. Saphorin - old and famous

 

Am Ufer entlang

Nach Epesses (wieder ein Dorf mit einem berühmten Namen) zweigt der Weg zum See hinunter, ich verlasse für den Moment die Weinberge und folge dem Uferweg, mal eine willkommene Abwechslung nach all den Weinreben rechts und links, die nur das Verlangen nach etwas anderem als Hahnenwasser anstacheln.

Schattige Alleen säumen den Wanderweg, die Mittagshitze verzieht sich unter den Bäumen. Manchmal trifft man unerwartet auf knapp bekleidete Leute, die am Ufer sonnenbaden oder sich im Wasser tummeln.

Ein seltsames Zusammentreffen zweier Welten, die in diesem Moment nicht unterschiedlicher sein könnten. Man wirft mir ein paar Blicke zu, man fragt sich wohl, was der komische Wanderer ausgerechnet an diesen Gestaden zu suchen hat.

 

The path along the lake ...

... through shady alleys ....

... and along blooming bushes and meadows

Aber dann, endlich, ein Restaurant, direkt am See gelegen, sehr voll, ein Gemisch verschiedener Stimmen, Gelächter, Kinder, Babies. Ich lasse mich von der Atmosphäre der Umgebung einlullen, nippe an meinem Kaffee, zurückgelehnt, einfach nur zufrieden, hier zu sein.

 

Restaurant at the lake - a very welcome place

Anschliessend folgt der Weg wieder dem See, die Berge auf der französischen Seite scheinen näher gekommen zu sein, vielleicht eine Illusion, ein trompe l’oeil, wie man hier sagen würde. Segelboote lassen sich vom leichten Wind treiben, aber auch kein Wind wäre nicht ein Weltuntergang.

 

Just water and clouds and sky and a few boats

 

Alte Bäume

Dann plötzlich ein Dorf, Cully, ganz unerwartet, auch wenn mich die Karte längst darauf hingewiesen hat, ein prächtiger Platz direkt am Ufer, Bänke und vor allem ein paar Bäume, die viel zu erzählen hätten, wenn sie denn wollten.

Der eine, ich tippe auf ein Ahorn, wurde 1798 gepflanzt, der andere, dessen Identität ich nicht herausfinde, genau hundert Jahre später.

Die beiden Methusalems strömen trotz ihres fortgeschrittenen Alters unerschütterliche Kraft und Würde aus. Man stelle sich vor, 1798, eigentlich noch mitten in der französischen Revolution, Europa ist im Umbruch begriffen, alles verändert sich, auch die Schweiz.

Und unbeachtet von all den politischen und gesellschaftlichen Wirren wird am Ufer des Genfersees ein Ahornbaum geplanzt, und jetzt, 223 Jahre später, steht der Baum immer noch in all seiner Pracht, während sich die Welt in irrem Tempo weitergedreht hat.

Verrückt und gleichzeitig sehr beruhigend. Es gibt Dinge, die geschehen jenseits von allem.

 

A very old tree, planted in 1798

... and another old tree, planted 1898

 

Die Weinberge zum letzten Mal

Der Weg führt durchs Dorf, dann zweigt er erneut ab in die Weinberge, nochmaliges Vergnügen, doch es sind nun definitiv die letzten Kilometer, bevor es dann endgültig zurück zum See geht.

Bisweilen fühle ich mich, ich weiss nicht warum, von einem Gefühl des Nichtdazugehörens berührt. Ich bin ein Fremder, jemand, der kurz da ist und gleich wieder verschwindet. Man bietet mir Schönheit, ein Geschenk an den Fremden, der geniesst, staunt und nach kurzer Zeit wieder loslassen muss.

Ich weiss nicht, warum diese Gefühle entstehen, ausgerechnet an einem Tag, der so voll von allem ist. Vielleicht ist es die Ahnung des Verlusts, der sich immer dann einstellt, wenn etwas da ist, das zum Verschwinden oder Vergessen verdammt ist.

Seltsame Gedanken. Ich verstehe sie selbst nicht.

 

Last kilometers at the vineyards

The day's destination afar

But still the beauty of everything

 

Zugängliche Ufer

Wenn ich an den Zürichsee denke, an all die Abschnitte, die als privat deklariert und somit für das gemeine Publikum unzugänglich sind, dann fühle ich mich hier in einer anderen Welt. Ich habe keinen einzigen Meter gesehen, der für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Das sollte sich unsere bürgerliche Mehrheit mal zu Herzen nehmen.

 

Narrow path along the lake

Some quite strange detours

 

Das Ziel kommt näher

Die Dörfer werden dichter, beinahe nicht mehr voneinander unterscheidbar, Lausanne, das heutige Tagesziel ist nahe. Ich geniesse ein letztes Mal die Sicht auf den See, blicke den sich langsam entfernenden Schiffen hinterher, und bin trotzdem froh, dass es nicht mehr weit geht.

 

The last meters to Lausanne

My friends, some ducks, irritated by young blokes

Aber dann, ich atme durch, Lausanne, zuerst Lutry, dann Pully und schliesslich Ouchy, wo die heutige Etappe endet.

 

Lausanne - finally

Allerdings ist mein Weg  noch nicht ganz beendet, denn mein Hotel liegt doch noch einige Distanz entfernt. Nach einigem Hin und Her entschliesse ich mich, den Weg zum Hotel zu Fuss zu gehen, eine ziemlich idiotische Entscheidung. Was ich nämlich nicht beachtet habe, ist die Tatsache, dass Lausanne an einem Hügel liegt, ergo muss ich den weiten Weg, notabene nach über 8 Stunden, den Hang hinauf gehen. Ich könnte mich verfluchen, aber so ist es nun mal.

Keuchend und ziemlich am Ende meiner Kräfte erreiche ich schliesslich das Hotel Ibis, checke ein, dusche, suche ein Restaurant und lehne mich vor einem Teller Pasta zurück, müde und zufrieden und sehr sehr glücklich …

 

Song zum Thema: Ladytron – Beauty

Und hier geht die Reise weiter … nach Etoy

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die Berge bleiben zurück

Drei Uhr morgens am Hotelfenster.

Pechschwarze Nacht. Die Konturen der Bäume sind aufgesogen durch eine undurchdringliche Schwärze. Kein Laut, kein einziger. Kein Käuzchen ruft in der Ferne, kein Wind pfeift durch die Blätter, keine Regentropfen klopfen auf das Dach, rein gar nichts.

Irgendwie schön und irritierend zugleich.

Das erinnert mich an einen der berühmten Romane von Philip K. Dick (Autor der Grundlagen zur Verfilmung von Bladerunner, Minority Report, Total Recall etc.), nämlich Marsian Timeslip. Er beschreibt dabei das Problem, dass das menschliche Gehirn ohne Sinneseindrücke nicht überleben kann.

Im Roman wird das zeitliche Problem beim Transport eines Gehirns zu einem anderen Körper (SF-Literatur) so gelöst, dass von aussen künstliche Sinneseindrücke vermittelt werden, um das Gehirn am Leben zu erhalten. Allerdings hat dieses keine Möglichkeit zu erkennen, ob die wahrgenommenen Sinnesphänomene echt oder künstlich sind.

Was uns zwangsläufig zur Frage bringt, welche Möglichkeiten wir selbst hätten, um zu erkennen, ob das, was wir zu erleben glauben, real oder von aussen implantiert ist. By the way, im Film MATRIX wurde das Thema aufgenommen.

Verstörende Überlegungen mitten in der Nacht …

 

Der letzte Tag in den Bergen

Heute Abend werde ich am Genfersee ankommen. Die Berge bleiben endgültig hinter mir zurück, nach über drei Wochen und unzähligen Höhenmetern, zahlreichen Wegen über Hügel und Berge, über Pässe und durch Wälder. Ach Gott, wie werde ich sie vermissen …

Doch einmal mehr gibt der Wanderführer grünes Licht für eine besonders schöne Etappe:

Die Wanderung nach Vevey über Les Paccots führt über die Grenze der Kantone Freiburg und Waadt und hält viele Entdeckungen bereit: den naturbelassenen Lac des Joncs, den Pont de Fégire (Grenze zwischen den Kantonen), eine herrliche Aussicht auf die Voralpen und den Genfersee sowie regionale Spezialitäten.

 

From Les Paccots to Vevey

Dieser elende Regen entbietet auch an diesem Morgen einen nassen Gruss, doch mein unerschöpflicher Optimismus hält dagegen. Und ganz ehrlich – eigentlich waren doch die verregneten Tage die schönsten. Nie hat man mehr Ruhe, weit und breit keine Seele, der Regen tropft und klopft auf den Kopf, ein unermüdliches Konzert ganz für mich allein.

Also bin ich beinahe etwas enttäuscht, als sich beim Aufbruch der Regen bereits verzogen hat, nur noch ein paar niedrig hängende Wolken verdecken eine blasse Sonne. Die Landlady hat es geschafft, mir Bargeld abzuknüpfen, vermeintlich wegen technischer Probleme. Na ja, alles passt.

 

A wet green world again

Path through the wet forest

Oberhalb von Les Rosalys, ich habe eine Variante gewählt, taucht man in eine feuchte grüne Welt ein, immer noch tropfend und nach nasser Erde riechend. Doch es erinnert einmal mehr an Mittelerde, und hinter den Büschen verstecken sich Waldelben oder Hobbits, vielleicht aber auch Orks oder Uruk-Hai, gezüchtet von Saruman.

Aber nichts in diesem Wald oberhalb Les Paccots lässt auf Böses schliessen. Das einzige, was passieren kann, ist, dass man auf dem glitschigen Boden das Gleichgewicht verliert. Und da grüsst auch eine hölzerne Eule, der Wächter des Waldes, sie verfolgt die unbeholfenen Schritte der seltenen Besucher, warnt die Wesen des Waldes vor den Eindringlingen.

 

Wooden owl

 

Ein einfaches Leben

Beim Wandern wird das Leben ganz einfach – man geht, man isst und trinkt, man macht Pausen, man übernachtet, man pflegt sich, man geht weiter … Es ist eine Art Metapher, wie man vielleicht leben könnte oder sollte. Einfacher, bescheidener, konzentriert auf das Wesentliche und nichts weiter.

Aber natürlich ist das schwierig in unserer komplizierten Welt. Wie soll man einfach und bescheiden leben, wenn man permanent von Angeboten überhäuft wird? Von Pflichten und Zielen und Massnahmen vereinnahmt? Wenn das Leben ein endloser Parcours durch all das ist, was man moderndes Leben nennt?

Manchmal wird man lethargisch, manchmal deprimiert, manchmal verzweifelt. Aber das ist so. Jeder muss auf seine Weise damit fertigwerden.

Deswegen sind Auszeiten so beliebt, ein eigentlicher Hype, dem jeder folgen will und doch fast niemand schafft.

Meine Art und Weise, das Problem zu entschärfen, ist wandern (oder reisen, je nachdem). Manchmal nur kurz, manchmal ein bisschen länger. So wie jetzt. Auf dem Weg von Les Paccots nach Vevey …

 

Der letzte Mensch

Manchmal komme ich mir vor wie der letzte Mensch. Ich bin schon einige Zeit unterwegs, doch auch heute bin ich offenbar der einzige Wanderer weit und breit.

Auch kein Wunder, heute ist definitiv kein Wanderwetter, denn der Weg bleibt rutschig, voll tiefer Pfützen, der nächtliche Regen hat Spuren hinterlassen. Seltsam riechendes Moos hat Bäume und Boden überwachsen, der Weg ist weich wie ein Bett aus Daunenfedern. Manchmal ist das satte Grün unversehens nicht mehr satt sondern irgendwie verblasst, als wäre die Natur am Absterben.

 

Pale world

Es geht immer noch bergauf, dem Pass Les Joncs entgegen. Den Abstecher zum viel gerühmten Lac des Joncs lasse ich bleiben, bis Vevey ist noch lang. Das einzige, was mir fehlt, ist der Kaffee im Gasthaus am See.

 

Die Brücke in die Waadt hinüber

Eine Holzbrücke führt über den Fluss Veveyse de Fégire, der die Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt bildet. Gemäss Wanderführer sind die Freiburger Wanderwege sehr gepflegt, auf waadtländischem Boden hingegen eine eher trübselige Angelegenheit. Wir werden sehen.

Mein Weg hingegen ist, ungeachtet ob in Freiburg oder Waadt, genau so schlimm wie schon den ganzen Tag, überschwemmt mit den schlimmsten Wasserlachen, manchmal muss ich mitten durch das dichte Gebüsch ausweichen, manchmal hilft nur ein weiter Sprung über den aufgeweichten Pfad hinweg.

 

Bridge over troubled water Creek with nightly rain water

flooded path

 

Eine Alpwirtschaft und ein Wiedersehen

Der Wald bleibt für einen Moment zurück, eine weite grüne Hochebene liegt unter dem grauen Himmel, und nicht zum ersten Mal werde ich von einer Herde schwarzweisser Freiburgerkühe begrüsst. Sie haben sich in einer Reihe am Zaun aufgestellt, fehlt nur noch die Achtungsstellung.

 

Black and white cows greeting me at the fence

Wir sind zwar nicht mehr in Freiburg, aber an Alpwirtschaften mangelt es trotzdem nicht. Die Buvette les Mossettes entpuppt sich von aussen als ziemlich geschlossen, innen aber von erlesener Einrichtung. Hier könnte man Tage verbringen.

Ich erlaube mir, die Zeichnung des Innenraums aus der Website der Buvette zu übernehmen.

 

La Buvette les Mossettes

Noch während ich mit gebührender Achtung den Raum betrachte – im übrigen brennt mitten im Raum ein Ofen, der die klammen Finger aufwärmt – treten Mann und Frau aus Luzern herein. Ein fröhliches Wiedersehen (man erinnere sich an das Abendessen in Jaun, die beiden absolvieren ein paar Etappen bis Vevey).

Sie haben realisiert, dass heute Abend ihre Tour endet und damit auch ihr Alpenpanorama-Abenteuer. Ich kann das Bedauern darüber spüren, sie würden noch so gerne bis Genf mitkommen.

 

Das Reich der Narzissen

Kurze Zeit nach der Buvette führt der Weg nochmals durch dichten Wald, bevor er in Richtung Süden abbiegt und man das Gebiet der Les Pléiades, das Reich der Narzissen, erreicht.

Leider ist die Blütezeit vorbei, aber im Mai sollen auf diesen Alpweiden tausende von weissen Narzissen blühen. Schade, ich hätte die leuchtende Naturpracht gerne gesehen, aber das Naturschutzgebiet des Marais des Tenasses ist an sich schon eine Augenweide.

Der Weg führt durch Wiesen, auf einer Art Holzsteg, den man nicht verlassen darf. Und so folgt man auf leicht schwankendem Untergrund reinster Natur, wie sie hier noch in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten ist. Oder stellt man sich das einfach so vor? Ist der Holzsteg wirklich der einzige Eingriff des Menschen? Ich kann es mir nicht vorstellen, obwohl ich es gerne täte. Und ja, die Zweifel sind berechtigt – Hochspannungsleitungen überqueren das Naturschutzgebiet. Ein weiterer zivilisatorischer Gruss …

 

Wooden walkway

Nature reserve

 

Les Pléiades – das panoramische Glück

Nach der Durchquerung des Naturschutzgebietes erreicht man Lally, von wo eine Zahnradbahn auf den Gipfel der Pléiades fährt. Als eingefleischter Wanderer ist es klar, dass man den Fussweg nimmt, der neben den Bahngeleisen hangaufwärts führt. Nicht unbedingt die angenehmste Weise, ich erinnere mich einmal mehr an den Niesen Berglauf. So ungefähr muss es dort aussehen, einfacher viel weiter und viel höher.

Natürlich steht auf dem Gipfel ein grosses Restaurant, der Blick von hier ist tatsächlich atemberaubend. Und natürlich treffe ich meine Luzernerfreunde, sie genehmigen sich eben ein wohlverdientes Mittagessen, zu dem ich mich gerne dazusetze.

 

View on Lake Geneva from the Pléiades

Wir beschliessen, den Rest des Weges bis Vevey gemeinsam zu gehen, und so ergibt sich wieder mal ein fröhliches, ziemlich geschwätziges Trio, man hat sich ja viel zu erzählen. Und so verwundert es nicht, dass wir für die restlichen knapp 5 Kilometer über anderthalb Stunden brauchen. So ist es halt, wenn man sich auf Anhieb sympathisch ist und eben – viel zu erzählen hat.

 

Die letzten Kilometer

Irgendwann erreichen wir die ersten Häuser, doch ich realisiere erst nach einigen Minuten, dass ich die Hügel und Berge nun eben das letzte Mal verlassen habe. Ich versuche, mein schmerzendes Herz zu verstecken.

In Blonay ist definitiv Schluss. Der Weg in die Stadt hinunter ist weit und mühsam, also steigen wir in den Zug. Eine merkwürdige Erfahrung. Die Zivilisation hat mich wieder in die Fänge gekriegt, bis Genf wird sie mich nicht mehr loslassen.

Aber sei’s drum, ich wusste, was mich erwartet.

An der Endstation verabschieden wir uns, einmal mehr im Wissen, dass der Abschied definitiv und für immer ist.

Ich gehe die letzten Meter zum See hinunter, rings um mich die Hektik und der Lärm der Grossstadt – bright lights, big city – welch ein Unterschied zu heute morgen.

Und dann bin ich da, stehe einen Augenblick lang gerührt am See, ein Fremdkörper mit meinen Wanderschuhen und dem Rucksack und dem Hut inmitten der fröhlichen Menge, die das Wochenende einläutet.

Aber ich bin am Genfersee, niemals hätte ich gedacht, dass ich es bis hier schaffe. Noch 5 Tage …

 

Lake Geneva

seahorse with lady

 

Das erste Mal so etwas wie Erschöpfung

Bisher bin ich von Müdigkeit verschont geblieben, doch heute Abend spüre ich so etwas wie Erschöpfung. Ist es die Einsicht, dass mein Traum bald zu Ende ist? Oder rührt es ganz einfach davon, dass ich Dummkopf den ganzen Tag viel zu wenig gegessen habe?

So sitze ich später in einem Gartenrestaurant, Bier und Pizza und Kaffee und Dessert, und weg ist die vermeintliche Erschöpfung.

Ein paar Spatzen erkennen flugs, dass da jemand sitzt, der ihnen wohl gesonnen ist. Sie setzen sich entspannt auf meinen Tisch, knabbern an den Resten der Pizza, ein sehr willkommener Beitrag zu meiner Unterhaltung.

 

Ein perfekter Abschluss eines wunderbaren Tages …

 

Song zum Thema: Ruelle – The World we made

Und hier geht der Trip weiter … nach Lausanne

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Wieder allein

Dieses Geräusch kenne ich doch – das Klatschen am Fenster, das Prasseln auf den Dächern, das Trommeln auf dem Asphalt. Es ist kurz nach Mitternacht, und es regnet. Ausserdem ist es kalt geworden, durch das offene Fenster dringt ein frostiger Hauch, zum ersten Mal seit langem bin ich einer warmen Decke dankbar.

Wunderbare Aussichten für einen ziemlich anstrengenden Wandertag in Richtung Süden, nach Les Paccots. Nichts Neues für den Wanderer.

Der Wanderführer formuliert es so:

Den mächtigen Moléson vor Augen und das Städtchen Gruyères im Rücken zur Mittelstation Plan Francey aufsteigen, der Nordwestflanke des Moléson entlang wandern und ins waldreiche Voralpenland von Les Paccots absteigen.

Für mich ergibt sich allerdings noch ein zusätzlicher Abschnitt von Broc nach Gruyères, aber was soll’s, Hauptsache vorwärts.

 

From Broc to Les Paccots

 

The Rain, the Park and other Things

Erinnert sich jemand an den wunderbaren 60-Jahre Song der Cowsills? Wenn ich mich recht erinnere, war es das Werk eines vielköpfigen Familienclans, wie es sie in den USA zahlreich gab und gibt. Nun, für alle Vergesslichen, hier der Link: The Rain, the Park and other Things.

Auf jeden Fall erinnert mich der traurige Blick durch den verregneten Morgen an das Lied (und andere Regenlieder, nicht zu vergessen Rain von den Beatles, nochmals eine Klasse besser). Denn es regnet nicht nur, es schüttet. Das alles kommt mir sehr bekannt vor.

Wie auch immer, ich werfe wieder mal meine gesamten Regenklamotten über, verabschiede mich vom netten Hotelpersonal und stürze mich hinaus in den Regen. Broc sieht im morgentlichen Dunst verlassen aus, wenige Autos preschen vorbei, werfen die Gischt nach allen Seiten. Eine einzelne Person kauert sich unter ihren Schirm und wirft mir einen mitleidigen Blick zu.

In der Ferne grüsst Gruyères auf dem Hügel, das erste Tagesziel, doch zuerst gilt es, dem Wanderweg einem kleinen Bach entlang zu nehmen. Der Pfad ist an einigen Stellen kaum begehbar, grosse Pfützen verwehren den Durchgang. Von den Bäumen tropft das Wasser, Dunst steigt aus den durchnässten Wiesen, ein optimaler Beginn der heutigen Etappe.

 

The path is definitely wet ... and the creek watery

 

Gruyères – ein Käse Hotspot

Wie könnte es anders sein – nach einer halben Stunde, ich habe noch nicht mal den halben Weg bis Gruyères geschafft, entflieht das schlechte Wetter irgendwohin, wo es der Teufel holen soll, und der Himmel taut in milchigem Blau auf. Wäre ich eine halbe Stunde später aufgebrochen, wäre ich trocken geblieben. Well, Shit happens …

Gruyères liegt auf einem malerischen Hügel, das Schloss grüsst mit spitzen Türmchen von weitem. Man überquert den Fluss durch eine gedeckte Brücke (Le Pont qui branle) und macht sich kurz darauf bereit für den Aufstieg hinauf zum Dorf, natürlich auf heissgeliebten Treppenstufen.

 

Bridge just below the hill to Gruyères

The castle of Gruyères

Stairs again - hopefully the last ones for today

Gruyères (oder Greyerz auf deutsch) ist ein bekannter mittelalterlicher Touristenort, allerdings vor allem bekannt geworden durch den gleichnamigen Käse, dessen Werbetafeln im Winter die Pisten entlang sämtlicher Langlauf- und Biathlon Wettbewerbe zupflastern. Aber das Dorf ist tatsächlich einen Besuch wert, auch wenn der Regen einen irgendwie tristen Eindruck hinterlassen hat.

Ich sitze ziemlich allein vor einem Restaurant, umgeben von nassen Tischen und Stühlen, und nippe an einem Kaffee, während rings um mich herum absolut nichts passiert, ausser ein paar Last- und Lieferwagen, die irgendwas aus- oder einladen. Oder sind das ein paar ausländische Touristen, die ziemlich verloren vor den Häusern stehen und sich wohl fragen, was sie hier machen?

Neben dem Schloss, das allerlei kulturelle Aktivitäten anbietet und ausserdem eine bedeutende Sammlung von was auch immer besitzen soll, bietet das kleine Städtchen vor allem einen Blick auf die Art und Weise, wie vor hunderten von Jahren gebaut und gewohnt wurde.

 

The castle og Gruyères 2

Quiet and sad after the morning's rain

 

Erinnerung an ALIEN

Wenn ich etwas mehr Zeit hätte und nicht eine anstrengende Route vor mir hätte, würde ich das H.R. Giger Museum in Gruyères besuchen.

Ich kann mich nur allzu gut an ALIEN von Ridley Scott erinnern, irgendwann gegen Ende der 70-Jahre, damals noch im grössten Kino in Zürich, dem Apollo. Der Saal war proppenvoll, nach einer halben Stunde mucksmäuschenstill, während der Horror in Form eines Monstrums langsam die Nerven zu strapazieren begann.

Die ultimative Horrorshow – ein begrenzter Raum in einem riesigen Raumschiff, dazu dunkel, feucht, mit vielen düsteren Nischen, und irgendwo ein unappetitlicher Alien, der von Stunde zu Stunde grösser und gefährlicher wurde, und dem die gesamte Besatzung des Raumschiffs Nostromo zu Opfer fiel. Ausser Ripley, gespielt von Sigourney Weaver, die als die erste Actionheldin in die Filmgeschichte einging.

Aber das Monstrum, das fremdartige Wesen, geschaffen von Hansruedi Giger, war stilbildend für viele der nachfolgenden Horror- oder SF-Filme. Nicht überraschend, dass er dafür den Oskar erhielt.

Hier ein Ausschnitt aus dem Film (nicht für zarte Gemüter):

 

 

Der Weg nach Süden, dem Moléson entgegen

Kurz nach Gruyères beginnt der Aufstieg, anfänglich durch einen Wald. Ein paar Männer stehen diskutierend neben dem völlig zerstörten Wrack eines Pickups. Offenbar ein Opfer des vergangenen Gewittersturms, der nicht nur Bäume und Gebäude in Mitleidenschaft gezogen hat, sondern auch Autos, die zur falschen Zeit am falschen Ort gestanden haben und durch herabstürzende Bäume zerquetscht wurden.

Einmal mehr zeigt uns die Natur, wer hier die Macht im Staate hat.

 

Destroyed vehicle by the thunderstorm

Dann aber verlässt der Weg den Wald und beginnt sanft zu steigen. Das Tal bleibt zurück, die Abhänge sind weniger schroff als in den vergangenen Tagen, ich fühle mich sehr wohl, obwohl wieder mal weit und breit keine einzige Seele, ausser den obligaten Kühen, zu sehen ist.

 

Smooth ascent to the Moléson

Doch in der Ferne, noch verhüllt von Nebel und Wolken, zeigt sich der Moléson, der Hausberg der Freiburger, ein markanter Kalksteinkoloss. Er zeigt mir die Richtung an, an ihm vorbei wird der Weg nach Süden gehen.

Immer wieder Kühe, meine ständigen Begleiter seit Rorschach; werden sie in fünfzig Jahren auch noch so zahlreich auf den Wiesen weiden, oder hat sie der Klimawandel endgültig vertrieben? Einerseits eine Notwendigkeit, denn die ewigen Furzer sind zumindest für einen Teil des CO2 Ausstosses verantwortlich, andererseits ein schmerzlicher Verlust.

Aber so ist die Zeit, sie hinterlässt nur Opfer.

 

Le Moléson, the Hausberg of the people of Fribourg, as seen from afar

And again cows - my favorite animals (except every other animal)

 

Le Moléson – Freiburgs Hausberg

Die mächtige Kuppe des Molésons kommt Schritt für Schritt näher, irgendwie bedrohlich in seiner Schroffheit, seiner Schwärze, seiner offenkundigen Ablehnung jeglichen Besuchs von ausserhalb. Oder scheint es nur so?

In Plan Francey findet sich die Talstation der Luftseilbahn auf den Moléson, ein weiterer Höhepunkt, den ich durch den engen Zeitplan verpasse. Die Aussicht allerdings dürfte an diesem nebligen Tag eher bescheiden sein, also verpasse ich nichts. Aber das muss irgendwann nachgeholt werden.

 

Base station of the cable car to the Moleson

Aber immerhin gibt es ein riesiges Restaurant, wo ich einen Kaffee trinke und tatsächlich unser Luzerner Ehepaar erblicke. Ich habe kaum Zeit, sie zu begrüssen, denn ein Border Collie hat Gefallen an meinen unermüdlichen Streicheleinheiten gefunden.

 

Coffee break beneath the MolésonNew friend

 

Fort mit dem Denken

Manchmal, viel zu selten, setzt mein Denken aus, obwohl rechts und linkst des Weges soviel zu sehen, zu hören, zu riechen ist. Das sind die Höhepunkte des Wanderns, wenn man ganz bei sich ist, in vollständiger Balance.

Vielleicht haben die zahlreichen Meditationskurse doch ihre Wirkung getan.

Ich erinnere mich an den ersten Vipassana-Kurs nach der U Ba Khin Tradition im Jahr 2003, vor allem an die unerträglichen Schmerzen beim Sitzen in der ungewohnten Stellung (ich spüre heute noch, nach beinahe 20 Jahren, meinen Rücken, meine Beine, meine Schultern … Und die Gedanken, weit weg zu rennen).

Die endlos scheinende Stunde, das Zählen der letzten Minuten, umgerechnet in Sekunden, nur noch 300, nur noch 250, nur noch 100 … Und dann endlich der Gesang von Mutter Sayamagyi, die jeweils das Ende einer Stunde einläutete.

Die komplizierten Strukturen des Buddhismus, der achtfache Weg und alles andere, anfänglich unverständlich, bis es nach einiger Zeit endlich seine Wirkung entfaltete.

Das edle Schweigen, für uns Dauerquatscher eine beinahe unerträgliche Pein – 10 Tage ohne Sprechen, ohne Medien, ohne Musik, ohne Bücher, ohne Kontakte, ohne alles – bis am neunten Tag das Schweigen gebrochen wird, und alles aus einem herausbricht. Alles Aufgestaute, alles nur nonverbal Kommunizierte, alle Gedanken, die während den endlosen Stunden das Gehirn verstopften, alles musste raus, sofort.

Und das Wichtigste – plötzlich spürte man, dass zwar keine Lichtphänomene aufgetaucht waren (wie sie sehnlichst erwartet worden waren), aber die innere Batterie aufgeladen worden war, als wäre man innerlich um Jahre verjüngt worden.

Und eben – die Achtsamkeit, eines der zentralen Themen im Buddhismus, erweckt und aktiviert auf dem Weg nach Les Paccots. Mehr kann man nicht erwarten …

 

Noch weit weg – der Genfersee

Der Moléson verschwindet in seinem selbst gewählten Nebelkostüm, er wirft mir noch einige schwarze drohende Blicke hinterher, stört mich aber nicht, denn nun geht es langsam bergabwärts.

Die Natur verändert sich, wird flacher, zumindest manchmal, winzige Bäche sprudeln durch sumpfartige Wiesen, bedeckt mit kniehohem Gewächs, das ich wieder mal nicht identifizieren kann.

Dann doch eine erste unerwartete Überraschung (ich weiss, ein Pleonasmus) – weit weit weg, so scheint es, ist doch tatsächlich ein hellblauer Streifen zu erkennen, der erste Gruss des Lac Léman. Oder will man mich täuschen? Etwas vorgaukeln, was nicht da ist, nur in meiner Phantasie?

Und trotzdem, es scheint, dass ich meinem Ziel näherkomme. In einer Woche bin ich in Genf. Leise schleicht sich Wehmut ein.

 

Changing Landscape

First glimpse of the Lake Geneva

Aber vorläufig bin ich noch weit weg vom Genfersee, sogar noch ziemlich weit weg von Les Paccots, dem heutigen Tagesziel.

Der Weg führt manchmal mühsam der Teerstrasse entlang, dann wieder mitten durch den Wald und einmal sogar entlang einer Finnenbahn. Ich habe irgendwo gelesen, dass Les Paccots ein wahres Paradies für Sportler sein muss. Es würde mich nicht wundern, schon bald über einen Jogger zu stolpern (oder eher er über mich). Es muss also so sein, dass ich mich langsam der Zivilisation nähere.

 

Path through dense forest

 

Les Paccots – nicht meine Welt

Nichts kann mich noch erschüttern, auch nicht der drohende Regen, der wie ein Damoklesschwert über der zerzausten Landschaft hängt. Irgendwann stehe ich zwar vor der Ortstafel von Les Paccots, aber wie sich zeigen wird, heisst das nicht viel bei diesem langgezogenen Dorf, das sich über endlose Kilometer hinzuziehen scheint.

 

Les Paccots

Aber Geduld bringt Rosen, wie man so schön sagt, und tatsächlich taucht Au petit Gîte auf, ein kleines Hotel weit weg vom Zentrum, wie ich schmerzlich erfahren werde. Das Zimmer besitzt aber seinen eigenen hölzernen Charme, obwohl die Dame des Hauses einen etwas abweisenden Eindruck macht.

 

My wooden room at Au petit gÎte

Ist mir aber ziemlich egal, es ist spät geworden, ich habe über acht Stunden gebraucht (Kaffee und Hundestreicheln inklusive), und ich möchte unbedingt etwas essen. Allerdings steht die Absicht wieder mal in vollständigem Kontrast zur Wirklichkeit, denn ein Restaurant zu finden ist offenbar ein aussichtsloses Unterfangen.

Mit schmerzenden Füssen und Beinen stolpere ich der endlos scheinenden Strasse entlang, immer in der Hoffnung, irgendwann irgendwo das Zentrum zu finden, wo wunderbare Restaurants darauf warten, mich verköstigen zu dürfen.

Aber eben, es gibt zwar Coiffeursalons und seltsame Shops, die den ganzen Ramsch anbieten, wir er nur in Touristenhochburgen angeboten wird, es gibt sogar Hotels, die allerdings geschlossen sind. Am Schluss, ziemlich entnervt und verärgert, lande ich doch tatsächlich in einem Fastfood Restaurant und lasse mir einen Cheeseburger mit Frittes munden. Immerhin läuft im Hintergrund ein Fussballspiel der EM, was mich zumindest teilweise etwas besänftigt …

 

Song zu Thema:  UNKLE – Set no Sun

Und hier geht der Weg weiter … nach Vevey am Genfersee

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die Sprachgrenze

Auf der Etappe von Jaun nach Gruyères kommen Geniesser, Kulturliebhaber und Naturfreunde auf ihre Kosten. Auf dem Abschnitt, der erst am Jaunbach, dann an der Saane entlang führt, können Wanderer entdecken, wie das Wasser die Landschaft geformt hat. Kirchen, Kapellen und das einzigartige Erbe von La Gruyère prägen die Strecke.

Nun, Gruyère werde ich morgen allein entdecken müssen, aber geniessen wir unsere letzte gemeinsame Etappe bis Broc.

 

From Jaun to Broc

 

Es war einmal …

… eine Gruppe von Freunden, die 1997 den Entschluss fassten, eine längere Wandertour zu unternehmen und dabei den Montblanc zu umwandern. Es waren zehn harte Tage, aber auch eine Wanderung voll wunderbarer Landschaften und Begegnungen. Kein Wunder, dass man in der Folge an eine Fortsetzung dachte …

 

Tour du Mont-Blanc

Und so entwickelte sich aus diesem erstmaligen Ausflug eine Tradition, die nun beinahe ein Vierteljahrhundert alt ist und trotz zunehmendem Alter der Teilnehmer immer noch jedes Jahr einen festen Termin im Kalender besitzt.

Hier ein Überblick über unsere Wanderungen:

  • 1997 Tour du Montblanc (Schweiz / Frankreich / Italien)
  • 1998 Wales (UK)
  • 1999 Mairatal (Italien)
  • 2000 Veltlin (Italien / Schweiz)
  • 2001 GTA Gran Traversata die Alpi (Italien)
  • 2002 Korsika (Frankreich)
  • 2003 Wallis (Schweiz)
  • 2004 Pyrenäen (Spanien)
  • 2005 Dolomiten (Österreich / Italien)
  • 2006 Lake District (UK)
  • 2007 Wallis (Schweiz)
  • 2008 Piemont – Nizza (Italien / Frankreich)
  • 2009 Bernina (Schweiz)
  • 2010 Südfrankreich
  • 2011 Gotthard-Tessin (Schweiz)
  • 2012 Vorarlberg (Deutschland / Österreich / Schweiz)
  • 2013 Jura (Schweiz)
  • 2014 Kärnten (Österreich / Italien / Slowenien)
  • 2015 South West Coast Trail (UK)
    • 2016 Ladakh (Indien, allein)
  • 2017 Appenzeller Kulturspur (Schweiz)
  • 2018 Berner Oberland (Schweiz)
  • 2019 Engadina (Schweiz)
  • 2020 Walserweg (Schweiz)
  • 2021 Alpenpanoramaweg (Schweiz)

Die Übersicht zeigt, dass die anstrengenden Wanderungen mit tausenden von Höhenmetern in den letzten Jahren seltener geworden sind. Wir haben die Touren entweder verkürzt oder zumindest vereinfacht, wir meiden die hohen Alpenpässe und geniessen dafür gemütliche Wandertage im Appenzell oder im Jura oder im Berner Oberland.

Das zunehmende Alter (zumindest eines Teils der Teilnehmer) spielt dabei sicher eine Rolle. Und nicht zu vergessen – die schwierigen und anstrengenden Etappen auf dem Langtang Trek haben knallhart aufgezeigt, wo die Grenzen sind. Es ist nicht nur eine Frage des Könnens, vielmehr auch eine Frage des Wollens.

Denn die Bereitschaft, sich zu quälen, nimmt kontinuierlich ab. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was eine 500 km lange Non-Stop-Tour mit abnehmender Leistungsbereitschaft zu tun hat.

Tja, der Mensch, ein ewiges Rätsel …

 

Zurück zur Gegenwart

Dann also zum letzten Teil unserer gemeinsamen Wanderung. Von Jaun führt der Weg auf der linken Talseite nach Im Fang, danach auf der rechten Seite des Jaunbachs nach Charmey.

Das interessanteste Detail der heutigen Route – wir werden bei der Talenge unterhalb In Fang unbemerkt die Sprachgrenze überqueren. Von da an – nous parlerons français, mes amis! Wir verlassen aber nicht nur die deutschsprachige Schweiz, nein, wir überqueren ja auch den sogenannten Röstigraben, den kulturellen Graben, der die französischsprachige und die deutschsprachige Schweiz voneinander trennt.

Ob dieser fiktive Graben tatsächlich (noch) existiert, ist offen. Natürlich ticken die beiden unterschiedlichen Kulturen anders, sei es politisch oder gesellschaftlich, aber wahrscheinlich sind die Gemeinsamkeiten viel grösser als allgemein angenommen wird. Sonst hätten wir es kaum so lange miteinander ausgehalten.

 

The old Church of Jaun

Aber zuerst verabschieden wir uns von Jaun, einem kleinen versteckten Dorf mit grossen Traditionen.

La Cascade bleibt zurück, wir passieren die alte Kirche, die heute als Kantorei (Haus des Gesangs) genutzt wird. Ein merkwürdiges Schicksal, das mir nicht ganz klar ist. Doch wir wenden uns ab und folgen dem Bach entlang einer wundersam Welt in allen Nuancen von grün.

 

Walking through a green world

Es ist eine einfache, schnelle Etappe, eigentlich eher eine Art Auslaufen nach den anstrengenden Touren der letzten Tage. Wie dem auch sei, wir nehmen es gemütlich, das Ergebnis findet sich in unzähligen Fotos und Videos wieder (obwohl, wie man eigentlich weiss, nicht gleichzeitig schauen und fotographieren kann).

 

Through dense forest

Die heutige Etappe ist genau das, was nun eher angesagt ist – angenehm zu wandern, eine flache Tour, entlang Bächen, durch schattige Wälder und Dörfer und vorbei an Bauernhöfen und kleinen Weilern.

 

the crossing of a river

Wherever you go, you'll find small pretty farms houses

Cows everywhere

 

Ein Dorf und ein Bach und ein See

Wir nähern uns, soviel steht fest, wohl oder übel dem Endziel, auch wenn wir unbewusst das Tempo drosseln, die Etappe in die Länge ziehen. Aber nicht zu vergessen – im Gegensatz zu mir gilt es, in Broc den Zug nach Hause nicht zu verpassen.

Zunächst aber erreichen wir das malerische Dorf Charmey am Ausgang des von den hohen Gipfeln des Hochmatt und des Schopfenspitz überragten Tals. Es war ab dem Hochmittelalter das wichtigste Produktionszentrum für den Gruyère Käse.  Früher ein von der Landwirtschaft geprägtes Dorf, hat es sich zu einem bedeutenden touristischen Hotspot entwickelt. Es gibt hier Winter-und Sommertourismus, der einstige Weltcup Skifahrer Jacques Lüthi stammt offenbar von hier.

Die Geschichte ist immer ähnlich: ein ursprünglich armes, aber malerisch gelegenes Dorf wird irgendwann entdeckt, vielleicht durch Wanderer oder andere Touristen, es spricht sich herum, bis jemand das Potential entdeckt, und schwupps wird aus dem armen Dorf ein reiches Dorf. Neue Einwohner ziehen her, Pendler oder Pensionäre, Hotels öffnen und Restaurants, und man entdeckt die Nachfrage nach lokalem Kunsthandwerk, sofern es ein solches gibt.

 

Charmey

Nach Charmey durchquert der Weg einen überraschend urtümlichen Wald. Man glaubt, in eine Welt der Feen und Kobolde eingesogen zu werden, ein letztes Mal so scheint es, und wir lassen den Zauber auf uns wirken. Manchmal steigt der Weg steil hinauf, verdorrtes und verfaultes Laub knistert unter den Schritten, dann wieder plätschert ein Rinnsal über den Pfad, man möchte bleiben und dem Wasser zuhören.

 

Up and up

Sometimes a small creek

Destroyed path

Dass das Wasser aber auch eine geradezu unheimliche Zerstörungskraft hat, zeigt sich etwas später. Der Pfad ist beinahe zur Unkenntlichkeit zerschlagen, herab gestürzte Baumstämme, Steine und Geröll und Holzreste machen das Überqueren schwierig. Man will sich nicht vorstellen, wie es beim Gewitter gewesen sein muss …

Der Jaunbach ist hier zu einem hässlichen dreckigen Gerinsel geworden, nichts erinnert an das klare Wasser dem Jauntal entlang. Eine Brücke führt hinüber, aber nicht irgendeine sondern eine richtige Hängebrücke. Das Schwingen erinnert an Nepal.

 

The Jaunbach - dirty river

Swinging bridge across the river

 

Der schönste Abschnitt ist geschlossen

Der Lac de Montsalvens, durch den der Jaunbach fliesst, ist ein Stausee. Nach einem Teilstück am Ufer des Lac de Montsalvens erreichen wir den gleichnamigen Staudamm aus dem Jahr 1920, den ersten in Europa mit doppelter Bogenstaumauer.

Dann würde der Weg durch die wilde Jaunbachschlucht, über Holzbrücken und durch in den Fels gegrabene Galerien verlaufen, streckenweise an senkrechten Felswänden vorbei und durch unbeleuchtete Tunnels.

Der Konjunktiv ist leider korrekt, denn dieser Abschnitt, auf den wir uns gefreut haben, ist gesperrt. Auf der entsprechenden Website heisst es:

Der Rundwanderweg um den Lac de Montsalvens ist teilweise geöffnet. Der Abschnitt zwischen der Barrage und dem Ort les Taillisses in Richtung Motélon bleibt aufgrund von Sanierungsarbeiten gesperrt. 

Sanierungsarbeiten – so ein Shit!

 

Le Lac de Montsalvens

Lac de Montsalvens seen from the dam wall (picture taken by Mauron)

Wir müssen uns mit einem kurzen Blick in die Jaunbachschlucht hinunter begnügen. Schade, sehr schade!

 

View to the Jaunbach Gorge

 

Broc und Schokolade und ein Abschied

Nicht nur ist der Weg durch die Schlucht gesperrt, man muss nun auch noch einen grossen Umweg machen, um nach Broc, dem heutigen Tagesziel, zu gelangen. Die Gebäude der berühmten Schokoladenfabrik Cailler sind schon von weitem zu erkennen, sie weisen den Weg.

Und dann sind wir da, im Zentrum von Broc, in der Gartenwirtschaft meines Hotels, und geniessen das letzte gemeinsame Bier.

 

Last round

Dann also, so long, my brave friends. Es war wie immer grossartig und unterhaltsam und ein weiteres Kapitel in unserer Wanderhistorie. Bis zum nächsten Mal!

 

Song zum Thema:  Nelly Furtado – All good things (come to an end)

Und hier geht der Trail, wieder allein, weiter … nach Les Paccots

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Ein sehr spezieller Friedhof

Alles wiederholt sich, je älter man wird.

Irgendeine gescheite Seele hat diese Weisheit in die Welt gesetzt, nachvollziehbar, aber auch ziemlich trivial. Sie ähnelt dem berühmten Ausspruch von Bette Davis (oder je nachdem Mae West): Altwerden ist nichts für Feiglinge.

Natürlich könnte man nun behaupten, dass auch Wandern eine Wiederholung des ewig Gleichen ist.

Die Berge ähneln sich, mal hoch, mal niedrig, mal schneebedeckt, mal grün bewachsen. Die Wege sind entweder schmal oder breit oder steil oder flach, voller Steine oder Kies oder asphaltiert. Die Wiesen grün oder braun, von der Sonne verdorrt oder mit hüfthohem Gras bedeckt, mit Kühen oder Schafen oder Ziegen oder Esel. Man geht entspannt oder keucht und flucht und sehnt sich nach einer Pause.

Aber –  auch wenn die Steine auf dem Weg, der Dreck unter den Schuhen, die Hügel am Horizont, ja sogar der blaue oder graue oder schwarze Himmel die gleichen sind wie tausend vorher, ist jeder Tag, jede Stunde, jede Minute auf dem Weg eine neue Erfahrung.

Und so ist es auch heute, so hoffen wir.

Im Führer finden sich ein paar schöne Worte zur heutigen Etappe:

Vom lieblichen Schwarzsee zum Breccaschlund und in die spitze Kalklandschaft der Greyerzer Alpen, über den flachen, von Gletschern ausgehobelten Euschelspass nach Jaun ins einzige deutschsprachige Dorf des Bezirks Gruyères.

 

From Schwarzsee to Jaun

 

Nach der Flut

Das Unwetter hat sich verzogen, der Schwarzsee ist zwar immer noch düster und bedrohlich, aber nicht mehr so schwarz wie gestern Abend, der Himmel ist blau, wie er sein sollte, die paar Wolken sind schlimmstenfalls ein wenig Dekoration.

 

Sunny morning at the Schwazsee

Der Weg führt eine Weile dem See entlang, man hört das Kreischen und Quaken von Vögeln, die sich den Futterplatz streitig machen, aber sonst hat sich das eh schon stille Dorf mit einer zusätzlichen Schweigestunde bestraft.

Die Berge vor uns sind mit einer weissen Nebelkappe verhüllt, wir hoffen, dass sie keine Vorboten zukünftiger Wetterkapriolen sind. Aber natürlich wissen wir als gebrannte Kinder, dass sich die nicht gerade positive Prognose für heute Nachmittag mit Sicherheit einstellen wird.

 

The path leads along the lake, for a while

 

Und wieder zerfetzte Pflanzen auf dem Weg

Wir haben etwas Höhe erreicht, der See bleibt unter uns zurück. Unter den Augen von neugierigen Kühen führt der Weg nun stetig aufwärts, mehrheitlich durch dichten Wald. Die Karte zeigt, dass es weiter oben gilt, eine komische Kurve zu nehmen, die wieder in Richtung des Sees geht, bevor der Weg dann endgültig nach Süden, Jaun, abzweigt.

Und wieder bedecken die kläglichen Überreste des abendlichen Gewitters den Pfad, nicht ganz so schlimm wie am Tag zuvor, aber trotzdem beeindruckend.

 

Destroyed remnants of yesterday's thunderstorm
Die Überreste des gestrigen Gewitters
inquisitive cows
Wir werden beobachtet

Es ist genau die Art Weg, die Spass macht: er führt entlang von Bächen, die immer noch etwas aufgewühlt durch die gestrigen Niederschläge vorbei rauschen. Dann wieder durch dichten Wald, flankiert von weisen alten und knorrigen Fichten und Birken und Buchen und Ahorn.

Unser alter Gefährte, der 3-er Wegweiser, vertrauenerweckend und zuverlässig, zeigt die Richtung an.

 

The signpost knows the way

It looks a tiny bit like Nepal
Es sieht ein kleines Bisschen aus wie in Nepal

The lake stays behind

 

Wer hätte das gedacht – eine Alpwirtschaft

Wie bereits angesprochen, die Vorzüge katholischen Brauchtums bzw. Kultur werden nach einer knappen Stunde in Form einer Alpwirtschaft sichtbar.

Den Verlockungen der Hubel Rippa, so heisst das Anwesen, können wir nicht widerstehen, und so genehmigen wir uns zwar kein Glas Weisswein wie ein paar andere, offenbar einheimische Gäste, aber zumindest einen Kaffee, während andere Wanderer, der Sprache nach aus dem Norden, uns begrüssen und ihre eigenen Wanderabenteuer zum Besten geben.

Und selbstverständlich, auch wenn die Hütte weit oben und ziemlich abgelegen liegt, führt eine Strasse direkt vor das Etablissement. Zu Fuss gehen? Warum auch, wenn man genauso gut auch fahren kann.

 

Über den Euschelpass

Die Wanderung führt in den von Gletschern geformten Breccaschlund. Die Kalkfelshänge sind von Dolinen durchzogen.

Das Tal, das von der Pointe de Balachaux im Westen, dem Schopfenspitz im Süden und dem Chörblispitz im Osten eingerahmt ist, bietet einen eindrucksvollen Blick auf Schwarzsee. Die Landschaft ist von alten Trockensteinmauern geprägt. Hier wachsen Bergahorne und mit etwas Glück kann man ein Adlerpärchen, Gämsen oder Murmeltiere beobachten.

 

Towards the Euschelpass

Last glimpse on the Schwarzsee down in the Valley

Not far from the top

Wir verlassen nun das Tal der Sense und erreichen das Greyerzerland. Wir nähern uns langsam dem Euschelpass, permanent verfolgt von neugierigen Kuhaugen. Der Himmel hat – wen wundert’s – wieder mal ein schwarzes Gewand überzogen, die Wetterpropheten dürften also recht behalten. Offenbar ein Wetterschicksal, das uns nun täglich verfolgt. Blauer Himmel am Morgen, Gewitter gegen Abend.

Doch dann, der Tiefpunkt des Tages, das laute Surren eines Helikopters durchbricht die Stille. An einem Seil hängt eine Kuh, merkwürdigerweise an einem Bein festgebunden. Man erkennt sofort, dass das Tier tot ist, denn niemals würde man ein lebendes Tier auf diese würdelose Weise transportieren.

Der Kadaver wird unweit des Wegs abgesetzt und auf einen Lastwagen verladen. Kurze Zeit später bringt der Heli eine zweite Kuh. Offenbar sind sie beide über eine Felswand abgestürzt, möglicherweise erschreckt durch das Gewitter.

Weiter oben begegnen wir weiteren Kühen auf der Weide und wünschen ihnen ein besseres Schicksal. Diesen sanften Augen kann man nur das Beste wünschen.

 

Such a lovely cow

 

Abwärts

Natürlich bleibt die Hubel Rippa nicht die einzige Alpwirtschaft. Alle heissen irgendwie was mit Rippa, keine Ahnung, was das bedeutet. Der Verlockung können wir zwar meistens widerstehen, doch kurz nach der Passhöhe werden wir schwach.

Die Alpwirtschaften werden nun zu eigentlichen Restaurants mit allem, was dazu gehört. Die ausschliesslich französisch parlierende Bedienung deutet darauf hin, dass wir in absehbarer Zeit unser beste Französisch hervorklauben müssen (das Beste? Wahrscheinlich eher das noch vorhandene).

Aber dann, frisch gestärkt mit Kaffee und Kuchen, geht der Weg im Zickzack abwärts, unserem Tagesziel, Jaun, entgegen.

 

Towards today's destination Jaun

Manchmal hat man den Eindruck, durch eine Gartenlandschaft zu gehen. Beidseits des Weges stehen die Wiesen in voller Blüte, gelbe, violette, rote Blumen erheben sich aus dem kniehohen Gras, man bleibt stehen, schauend, bewundernd, sie scheinen sich extra für uns schön gemacht zu haben. Fehlt nur noch die Sonne als Perfektion des Bildes, aber diese hat sich einmal mehr schmollend hinter Wolken verzogen.

 

Blossoming flowers between stone hedges Flowers as wide as the eye sees

Inknown flowers Just beautiful

 

Jaun – das letzte deutschsprachige Dorf

Man muss in der Geschichte weit zurückblättern, um zu verstehen, dass dieses Dorf quasi die letzte Bastion der deutschen Sprache ist. Dass Jaun nicht französischsprachig ist, wie man vermuten könnte, hängt mit der Geschichte der Besiedlung zusammen.

Offenbar wurde das Gebiet um Jaun über den Jaunpass vom Simmental her besiedelt und nicht von Bulle her. Man spricht in diesem Zusammenhang von der mittelalterlichen Landnahme, als die Siedlungspioniere weit häufiger über offene Alpenpässe als durch Schluchten und enge Täler vorstiessen.

Das Dorf Jaun besitzt zwei Kirchen. Die ältere Kirche stammt ursprünglich aus dem 11. und 12. Jahrhundert, wurde später mehrfach um- und ausgebaut, das heutige Schiff stammt von 1808 bis 1811. Seit 1910 wird diese Kirche nicht mehr als Gotteshaus genutzt, sondern dient als „Cantorama“ (Haus des Gesangs) mit einem Konzertsaal. Die 1786 von Johann Dreher erbaute Orgel ist 2011 restauriert und wieder eingeweiht worden. (Wiki)

 

One of the two churches of jaun

 

Ein sehr besonderer Friedhof

Jaun ist nicht nur für seine spezielle Rolle als letztes deutschsprachiges Dorf und seinen sprudelnden Wasserfall bekannt, sondern vor allem für den Friedhof mit Holzgrabkreuzen und Schnitzereien.

Wenn man vom Jauner Friedhof spricht, meint man damit einen eigentlichen Schatz. Sämtliche Grabdenkmäler sind handgeschnitzte Kreuze mit Basreliefs, die den Beruf oder das Hobby der Verstorbenen zeigen. Damit ist der Friedhof zu einem einzigartigen Kulturgut geworden, der auch Touristen anzieht.

Es waren schmerzliche Umstände, die zur Entdeckung des künstlerischen Talents von Walter Cottier, der die Tradition der holzgeschnitzten Grabdenkmäler begründete, führten. Es war der Tod seines Grossvaters im Jahr 1948. Auf Grund extremer Armut war die Familie damals nicht in der Lage, ein Kreuz beziehungsweise ein Grabdenkmal für den Grossvater zu bezahlen.

Der damals 27-jährige Walter Cottier schuf aus diesem Grund mit seinem Messer eine Holzskulptur: Ein Kreuz mit Christusfigur auf der Vorderseite, ein Basrelief auf der Rückseite. Eine Seite des Reliefs erinnerte an das Leben oder die Aktivitäten der verstorbenen Person, die andere zeigte ein symbolisches Element für eine Sache, die der Verstorbene besonders gern hatte. Das Grabdenkmal wird durch ein kleines Schindeldach geschützt.

So sieht man auf den Reliefs etwa einen musikliebenden Schuhmacher unter einem musizierenden Engel. Eine Lokomotive, Baustellenfahrzeuge, eine Dame mit Brille, die ihre Katze streichelt, ein Käser bei der Arbeit, ein Wanderer mit Steigfellen, oder eine Nähmaschine sowie die unterschiedlichsten Tiere und Pflanzen.

 

A very special graveyard

The grave monuments are hand-carved crosses with bas-reliefs showing the profession or hobby of the deceased.

Wie oft in diesen kleinen Gemeinden tragen die Gräber die Namen der wenigen dominierenden Familien im Dorf. Es gibt die Schuweys, die Moosers, die Buchs, die Raubers …

Wir sind im Hotel La Cascade einquartiert, natürlich vis-à-vis Wasserfall, beziehen sehr befriedigt ein grosses 6-Bett Zimmer und dinieren im Hotelrestaurant. Und eine wirkliche Überraschung – die beiden Gäste am Nebentisch, ein Paar aus Wolhusen, befindet sich doch tatsächlich auf dem Alpenpanoramaweg. Zwar nur wenige Etappen bis Vevey, aber immerhin.

 

Song zum Thema:  Traffic – Graveyard People

Und hier geht der Trip weiter … nach Broc

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der Wettergott als Künstler

Es scheint, als hätte sich der Wettergott für einmal künstlerisch betätigt.

Durch das viereckige Fenster glaubt man, im Gemälde eines Landschaftsmalers zu stehen. Dampf steigt aus den nassen Wiesen hoch, verdichtet sich knapp über den Hügeln zu einem langgezogenen Wolkenarm, der wie eine flauschige Decke über den Bäumen und Wiesen hängt.

Also genau die richtigen Impressionen, um den heutigen Tag gebührend zu begrüssen. Wir verneigen uns vor dem überraschenden Talent des Herrn über das Wetter und hoffen, dass er uns heute gnädig gestimmt ist.

 

the weather god as an artist

Vom bernischen Bauerndorf Guggisberg zum verträumten Weiler Hirschmatt hinunter; über einen bewaldeten Hügelzug in den urtümlichen Sensegraben bei Zollhaus, in den Kanton Freiburg hinüber und der Warmen Sense entlang ins Ferienzentrum Schwarzsee.

Dies die Meinung des Verfassers unseres Führers. Ob sich seine poetischen Betrachtungen über den Weg zum Schwarzsee bestätigen lassen, wird sich zeigen. Auf jeden Fall erwarten wir einen wiederum angenehmen Marsch.

 

From Guggisberg to Schwarzsee

 

Alles eine Illusion des Geistes?

Ein letzter Blick zurück, Guggisberg, das Guggershörnli bleiben zurück, verschwinden hinter einem Hügel. Andere Dörfer und Weiler schimmern im warmen Licht des Vormittags, vor uns und hinter uns, namenlos, man müsste sie anhand der Karte identifizieren. Aber es scheint uns nicht notwendig, das schnelle Vergessen wäre ein Verrat.

 

last view on Guggisberg

landscape through the trees

Manchmal bleiben wir auf dem Weg zwischen den Bäumen stehen, den Blick hinaus auf die sanft gerundeten Hügel gerichtet. Es ist, als wären sie schon immer dagewesen, als hätten sie ein Geheimnis, aber wahrscheinlich ist da nichts. Sie sind einfach da, ohne Grund und ohne Zweck.

„Alles ist eine Illusion des Geistes“, würde Buddha sagen. Manchmal muss ich ihm beipflichten.

 

Postkartenlandschaft

Dass es Gegenden in der Schweiz gibt, die als Postkartenidyllen bezeichnet werden, ist erstens touristische PR, aber zweitens auch eine Tatsache.

Wer schon mal auf dem Wanderweg oberhalb der Seen im Oberengadin gestanden hat, weiss wovon ich rede. Das Gleiche gilt für den Vierwaldstättersee, dessen verzweigte Arme und Buchten in unterschiedlichem Blau das Auge jedes Betrachters entzücken.

 

Upper Engadin with lakes
Einer der Seen im Oberengadin
The Vierwaldstättersee
Der Vierwaldstättersee im morgentlichen Dunst

Man braucht nicht ins Engadin zu reisen, um unbekannte, beinahe verborgene Idylle zu entdecken. Wir marschieren den ganzen Tag durch Gegenden, die auf den ersten Blick nichts Aufregendes zu bieten haben, und trotzdem idyllisch wirken.

 

Destination Schwarzsee

On the way to the Schwarzsee

Soemtimes through woods ...

... and sometimes with view

 

Der wütende Sturm

Man stellt sich beim Beobachten des Sturms – natürlich hinter sicheren Fenstern und Mauern – vor, was das Wüten alles anstellen könnte, doch wenn man es am anderen Tag mit eigenen Augen sieht, überrascht die Zerstörung.

Der Weg durch den Wald hat sich mit einer dicken Schicht zerfetzter Blätter und Äste und Zweige bedeckt, man geht für einmal auf weichem Untergrund. Der Boden sieht aus, als wäre der Himmel eingestürzt.

Die Vorstellung, wie es hier gewesen wäre, hätten wir uns immer noch auf dem Weg befunden, ist beunruhigend. Da gibt es keinen Schutz mehr unter den Bäumen, weit und breit kein Unterstand, keine Hütte, kein Hof und keine Häuser.

Man müsste sich zu Boden ducken, den Kopf mit irgendwas schützen vor den herunterpreschenden Wogen aus Wasser und Eiskörnern und zerfetzten Ästen und Zweigen.

 

remnants of the thunderstorm

Kaum aus dem verletzten Wald heraus, stehen wir mitten in einer Wiese, wo das hohe Gras vom Wind und Wasser und Hagel zu Boden gedrückt worden ist. Man kann sich die Zerstörungswut des Wetters nicht vorstellen. Man hat sich längst daran gewöhnt, in Sicherheit zu sein.

 

Destroyed gras

 

Der „Warmen Sense“ entlang

Beim Ort Zollhaus (ich bin nicht mal sicher, ob es sich überhaupt um einen Ort handelt) treffen die Kalte Sense und die Warme Sense zusammen. Wir folgen nun der warmen Sense, die vom Schwarzsee gespeist wird. Viele Kilometer später wird sie bei Laupen von der Saane aufgesogen, als hätte es sie nie gegeben.

Wir folgen ihr das Tal hinauf bis zum heutigen Tagesziel, dem Schwarzsee. Und ganz beiläufig haben wir irgendwo die Grenze zum Kanton Freiburg überschritten.

Jetzt befinden wir uns in einem anderen Kulturkreis, und vor allem, ab hier herrscht wieder katholische Lebensfreude. Der Unterschied zwischen Bern (protestantisch) und Freiburg (katholisch) zeigt sich exemplarisch darin, dass man in Bern zahlreiche Sitzbänke entlang des Wegs findet, während diese in Freiburg vollständig fehlen. Dafür laden alle paar Kilometer Alpwirtschaften zum Kaffee oder ein Glas Weisswein ein. Und ganz klar – die Zufahrten für Autos sind in jedem Fall gewährleistet.

 

On the Way to the Schwarzsee

It's a perfect path

 

Schwarzsee

Bei Schwarzsee handelt es sich einerseits um einen See, aber auch um eine populäre Tourismusregion. Im Sommer wird gewandert, im Winter skigefahren, oder man versucht sich auf dem zugefrorenen See als Eisläufer. Interessant ist, dass der See auch ein offizieller Flugplatz ist und im Winter bei einer Eisdicke ab 30 cm genutzt wird.

Bei unserer Ankunft hat der See allerdings nicht sein freundlichstes Gesicht aufgelegt. Er scheint eher überzeugt zu sein, das dem Namen nach passende Bild eines unheimlichen, düsteren Gewässers abgeben zu müssen.

Wir haben schon kurz nach Zollhaus die Verfinsterung des Himmels mitbekommen und dementsprechend pressiert. Immerhin ist uns das drohende Gewitter gnädig gesinnt, und wir erreichen das Dorf noch bevor der Regen beginnt.

 

The sky darkens

Die dunklen Wolken passen perfekt zum schwarzen See, der seinem Namen alle Ehre macht (oder ist der Effekt bloss an die Touristen gerichtet?

Und dann, nach der Ankunft im B&B, nach erledigter Dusche und Kleiderwechsel, schlägt das Gewitter zu. Es gibt die Augenblicke, wo man zwingend zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein muss. Das Gegenteil wäre sehr sehr nass …

 

 

Song zum Thema:  Wanda Jackson – Thunder on the Mountain

Und hier geht der Trail weiter … nach Jaun

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Dunkle Wolken

Als Schlossherren erwarten wir eigentlich, im Bett bedient zu werden, natürlich durch Diener in dunkelblau glänzenden Livrees und weissen Strümpfen, wie es für edle Herren angebracht ist. Dabei würden sie uns einen guten Tag wünschen, während sie Kaffee eingiessen und pochierte Eier mit Lachs bereitstellen.

Natürlich werden wir enttäuscht, anstelle der livrierten Diener schleichen ein paar andere Gäste (die gibt es tatsächlich) durchs Haus, anstelle der pochierten Eier gibt es gemeines Brot mit Butter und Konfitüre, allerdings erst, nachdem wir den Frühstücksraum gefunden haben.

Wir haben im Vergleich zu gestern einen durchaus akzeptablen Weg vor uns, ein paar Kilometer mehr bis Rüeggisberg, aber das soll uns nicht weiter beunruhigen. Allerdings sind auf den späteren Nachmittag schwere (!) Gewitter angesagt, es könnte also noch heiter werden.

Ergebnis (bis Schwarzenburg):  Länge: 17 km, Aufstieg | Abstieg: 790 m | 820 m, Wanderzeit: 7 h 03 min

Ein letzter Blick auf die eisgekrönten Berner Alpen, dann in den Schwarzwassergraben hinunter zur ältesten Betonbogenbrücke der Welt. Vom Schwarzenburger Plateau durch Wiesen und Wälder aufs aussichtsreiche Guggershörnli mit seinem berühmten Vreneli.

Wir lassen uns überraschen. Die älteste Betonbogenbrücke der Welt? Nie gehört …

 

From Riggisberg to Guggisberg

Our path, slightly abbridged

 

Der Charme der Schweiz

Dann machen wir uns – zur Abwechslung ziemlich früh – wir buchen das unter präseniler Bettflucht ab – auf den Weg nach Rüeggisberg.

Man kommt nicht umhin, sich ein paar Gedanken zu diesen seltsamen Namen zu machen. Riggisberg und Rüeggisberg, zwei Dörfer sozusagen in Sichtweite, der einzige Unterschied ein i statt einem üe im Namen. Wer kommt auf eine solche Idee?

Sehr seltsam, aber das macht irgendwie auch den Charme unseres Ländchens aus.

Und dazu kommt selbstverständlich die Aussprache, was für Aussenstehende, sprich Nicht-Schweizer, ein gröberes Problem darstellen dürfte: ein Dorf wie Zäziwil wird Zäziwiu ausgesprochen, der Belpberg heisst Bäupberg.

Tja, die Schweiz …

 

On the way to Rüeggisberg

Nach Riggisberg nehmen wir den kürzesten Weg nach Rüeggisberg, allerdings zum Preis, den grössten Teil auf Asphaltstrassen gehen zu müssen. Aber wir nehmen es mit wandermässiger Gelassenheit, schliesslich kann uns in unserem Alter nicht mehr viel erschüttern.

 

Das Kloster Rüeggisberg

Das wahre Highlight des Tages befindet sich in Rüeggisberg in Form einer alten Klosterruine.

Cluny Abbey
Abtei Cluny

Es handelt sich um ein ehemaliges Kloster des französischen Cluniazenser-Ordens.

Die Abtei von Cluny in Burgund war als Ausgangspunkt bedeutender Klosterreformen eines der einflussreichsten religiösen Zentren des Mittelalters. Ihre Kirche war zeitweise das größte Gotteshaus des Christentums (Wiki).

Ein ziemlich unbekannter Orden, wie sich herausstellt, obwohl wir als ehemalige Klosterschüler eigentlich über verwandte katholische Orden Bescheid wissen wüssten.

 

The old Clunianzenser Monastrey

Ich zitiere aus der WebSite:

Die alten Gemäuer der Klosterruine Rüeggisberg erzählen eine fast tausend Jahre alte Geschichte. Wer durch die geheimnisvollen Überbleibsel des einst gewaltigen Klosters streift und die prächtige Fernsicht auf das Berner Oberlands geniesst, fühlt sich sofort in die Zeit der Mönche, Ordensbrüder und Choralgesänge zurückversetzt.

Im 11. Jahrhundert stiftete der reiche Landadlige Lütold von Rümligen Ländereien an den Ort Cluny im französischen Burgund. Eine bemerkenswerte Kirche sollte in Rüeggisberg erbaut werden. Aus den ersten einfachen Zellen entstand im Laufe der nächsten hundert Jahre eine imposante romanische Basilika mit mehreren Nebengebäuden. Uralte Grundmauern, imposante Pfeiler und eindrückliche Bogen zeugen noch heute von der einstigen Grösse des einflussreichen Mönchsordens aus Frankreich.

 

Ruins of an old Cluniazenser Monastery

Das Kloster ist bekannt als erster Niederlassungsort der französischen Cluniazenser in der deutschsprachigen Schweiz.

Leider trüben Verschuldung, Plünderung, Überfälle und Zweckentfremdung die glanzvolle Geschichte des einst einflussreichen Wahrzeichens der Region. Und nach der Reformation musste die Klosterkirche im Jahr 1484 ihre Pforten schliessen. Ein Dorfbrand in Rüeggisberg brachte den einst prachtvollen Bau schliesslich ganz zu Fall. Die Bewohner bedienten sich kurzerhand der Bausteine des bereits heruntergekommenen Klosters, um eigene Häuser und die Dorfkirche wieder aufzubauen. Von diesem Zeitpunkt an dienten die überbliebenen Räumlichkeiten als Kornspeicher und Scheune.

 

Old ruins

Seit 1484  geschlossen, geplündert, angezündet und zweckentfremdet, und trotzdem bekommt man beim Anblick der alten Gemäuer eine Ahnung von der ursprünglichen Pracht. Man glaubt die Choräle zu hören, die schwarzgewandeten Mönche durch die Gänge schweben zu sehen, den Geruch von Weihrauch und Myhrre zu riechen.

Mitten in den Ruinen wird eine Messe abgehalten, offenbar ist die Ruine nach wie vor ein Treffpunkt frommer Katholiken, die sich in dieser stockreformierten Gegend als Aussenseiter fühlen dürften.

 

Alphornbläser für den festlichen Rahmen

Und da, ganz unerwartet, schweben von der gegenüber liegenden Seite dumpfe Töne durch den Vormittag.

Eine Gruppe von traditionell gekleideten Alphornbläsern, darunter auch mehrere Frauen, haben sich in einem Halbkreis aufgestellt und geben den Zuschauern ein Ständchen. Und für einmal – ich bin weiss Gott kein grosser Anhänger der Alphornkultur – hören wir überrascht und beinahe ein bisschen gerührt zu.

 

Group playing Alphorn behind the ruins

 

Dem Gewitter entgegen

Die Medien sprechen eine Gewitterwarnung aus – wow! Der grosse Weltuntergang ist zwar erst für den Nachmittag zu erwarten, also Eile mit Weile. Es wird wohl nicht so schlimm werden, doch ein mulmiges Gefühl schleicht sich ein. Dieses Jahr will uns der Wettergott zeigen, wo Bartli den Most holt.

Nach Rüeggisberg bietet der Panoramaweg wieder das, worauf wir uns jeden Morgen freuen – langgezogene Hügelpassagen entlang blühender Wiesen. Manchmal führt der Weg in Schluchten hinunter, über schmale Brücken, dann wieder steil bergauf. Die Sonne verschwindet hinter dichtbelaubten Bäumen, ein paar mickrige Strahlen brechen durch, zaubern Streifen auf den Boden.

 

Through dense woods and along steep paths

We cross the Schwarzwasser (black water) River

Beim Fluss Schwarzwasser – so heisst er tatsächlich – tauchen Erinnerungen auf, an Mittelerde oder, je nach Geschmack, an den Kontinent Westeros in Game of Thrones. Der Name scheint offenbar beliebt zu sein, wenn es darum geht, ein besonders heimtückisches Gewässer zu benennen. Unser Fluss hingegen sieht sehr harmlos aus, hier würde Hellfire nicht viel bringen (siehe Ausschnitt).

Wenn ich mich nicht irre, fällt der dicke Hobbit Bombur während der Durchquerung des Düsterwaldes in den Fluss Schwarzwasser und fällt darauf in einen tiefen Schlaf, worauf ihn die erschöpften Zwergenfreunde tragen müssen.

Aber die Schlacht am Blackwater am Ende der 2. Staffel von Game of Thrones schlägt so ziemlich alles, was es an Schiffsschlachten gibt. Die Flotte und die Armee von Stannis Baratheon erreichen King’s Landing und die Schlacht um die Stadt beginnt.

Hier ein Ausschnitt (nichts für zartbesaitete Gemüter):

 

Eines aber ist klar: auch der heutige Tag – kommende Wetterüberfälle ausgenommen – stellt eine prächtige Darstellung von allem dar, was ein nicht mal besonders sonniger Tag zu bieten hat. Manchmal glauben wir uns in einem Gemälde, stehen still, bewundern, richten unsere Aufmerksamkeit auf die Landschaft, auch wenn sie auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein scheint.

Manchmal genügt der Anblick eines Bauernhofs, der still und vermeintlich verlassen daliegt, als ob er auf etwas warten würde. Dann wieder Pause auf einem seltsamen Holzgestell, dessen Sinn und Zweck sich nicht auf Anhieb erschliesst, ist uns aber egal. Von da an führt der Weg wieder mal durch mannshohes Gras, wir kämpfen uns durch, während der Blick nun öfters zum Himmel geht, wo sich was Ungutes zusammenbraut.

 

Along the typical Bernese farm houses

Short break

Walking through high grass

 

Das Gewitter

Für einmal dürften die Wetterpropheten recht behalten, denn ein paar Kilometer vor Schwarzenburg verdüstert sich der Himmel in einer Weise, die auf Schlimmste hindeutet. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die diesjährigen Wetterkapriolen mitunter recht gefährlich sein können, vor allem wenn sie mit Hagel verbunden sind.

Und so hat der gemächliche Schritt ein Ende, es muss auf Teufel komm raus pressiert werden. Schon während diesen letzten Kilometern entwerfen wir alternative Pläne, neu-deutsch Contingency Pläne.

Allerdings sind die Optionen recht übersichtlich, im Grunde genommen gibt es nur eine einzige, nämlich bei allzu schlimmem Wetter den Bus nach Guggisberg zu nehmen.

Soweit ist es aber noch nicht, obwohl bei unserer Ankunft der Himmel tief und schwarz und düster über Schwarzenburg hängt. Wir erkundigen uns nach einem geöffneten Restaurant, und mit etwas Glück finden wir eines mit gedecktem Gartenplatz, und warten nun bei einem gemütlichen Kaffee und einem Schwatz mit den Nachbarn auf den kommenden Weltuntergang.

 

Waiting for the thunderstorm

Dieser lässt tatsächlich nicht lange auf sich warten, es wird noch dunkler, schwere Regentropfen klatschen auf die Plane über dem Sitzplatz. Wir fühlen uns in Sicherheit, doch nach einer halben Stunde zeigt das Gewitter, wo der Hammer hängt und und verscheucht uns ins Innere des Restaurants.

Der Bus fährt um 16.43, wir ergeben uns dem Schicksal und lassen uns durch den Regen nach Guggisberg chauffieren. Der Blick durch das Fenster ist entspannt, doch wir realisieren, dass diese restlichen 12 Kilometer es in sich gehabt hätten, und so schleicht sich langsam die Gewissheit ein, dass uns das Wetter einen Gefallen getan hat.

 

Das Guggershörnli

Während ich es mir altersbedingt in den Gemächern bequem mache (die täglichen Notizen sind ziemlich vernachlässigt worden), sind die beiden Jungspunds noch zu wenig müde und entschliessen sich, das nahe gelegene berühmte Guggershörnli zu besteigen.

Ihre nachträgliche Beschreibung des Kurztrips klingt euphorisch und lässt darauf schliessen, dass ich etwas verpasst habe. Wie so oft gibt es in solchen Fällen keine Entschuldigung, bestenfalls „im nächsten Leben.“

Da ich durch Abwesenheit glänze, muss ich auf alternative Informationsquellen zurückgreifen:

Das Guggershörnli oder Guggershorn ist ein markanter Berg oberhalb des Dorfes Guggisberg und 12 km südlich von Schwarzenburg im Kanton Bern. Schon von weitem ist diese bewaldete Bergspitze wegen ihrer charakteristischen Form auszumachen. Mit dem östlich anschliessenden Schwendelberg bildet das Guggershorn eine Gruppe und eine erste Bastion der Voralpen.

 

Ascent to the GuggershörnliPath to Guggershörnli

Stairs to GuggershörnliOn top of the Guggershörnli

The successful mountaineersSteep stairs down

 

Das Gewitter 2.0

Und dann – eigentlich erwartet und trotzdem überraschend in seiner Heftigkeit – das Gewitter, auf das wir gewartet haben. Der Himmel wird erst grau, dann dunkler, dann ziemlich schwarz. Die Versuche, das Ereignis gebührend festzuhalten, endet genau in dem Moment, wo der Regen anfängt, quer gegen das Haus zu peitschen. Dann wilde Flucht ins Innere des Zimmers.

Wir haben übrigens ein ganz besonderes Zimmer erhalten – zwei Etagen, durch eine steile Treppe verbunden, alles aus Holz, mit Balkon, aman könnte sich hier eine Weile wohlfühlen. Und das Dinner – eine Wohltat nach unseren spartanischen Picknicks.

 

The Storm is here

 

Das Guggisberg Lied

Der heutige Song zum Thema ist für einmal ganz klar – das Guggisberg Lied.

Es hat mich aus unerfindlichen Gründen während Tagen und Wochen auf meiner Wanderung verfolgt, und zwar Tag und Nacht. So sehr ich dieses Lied mag, nach einer gewissen Zeit verliert es an Schönheit und ist einfach nur noch nervig. Ich habe alles Mögliche versucht, es durch andere Ohrwürmer zu ersetzen, ohne Erfolg. Jä nu, dann hallt halt die traurige Geschichte vom Vreneli und Hans-Joggeli noch etwas nach.

Das Lied vom Vreneli ab em Guggisberg, kurz Guggisberglied, auch Guggisbergerlied oder Altes Guggisbergerlied genannt, ist wohl das älteste noch bekannte Schweizer Volkslied. Es wurde erstmals 1741 erwähnt, die älteste erhaltene Textvariante stammt von 1764.

Es gibt unzählige Versionen davon, für mich ist die modernste gleichzeitig die beste: Steff La Chef – Guggisbärglied

Und hier geht morgen die Reise weiter – zum Schwarzsee

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der Weg zum Schloss

Eigentlich ein Wunder, dass niemand um sechs „Tagwache“ schreit und man sich nach einer halben Minute vor dem Bett hinstellen muss.

Aber das Erwachen im 4-er Zimmer, das zwar tatsächlich entfernt ans Militär erinnert, ist wesentlich angenehmer. Anstelle des brüllenden Feldweibels murmelt Fridli leise „halb Acht“ und so beginnt der erste gemeinsame Tag.

Das gestern bereits erwähnte Wöschhüsli (berndeutscher Diminutiv für Waschhaus) dient jetzt als Frühstücksraum. Und tatsächlich, alles steht bereit, die Kaffeemaschine ist in Betrieb, Saft, Brot, Butter, alles da. Wir geniessen, während sich draussen der Tag bereitmacht.

Der bedeckte Himmel scheint aber eher auf eine missmutige Laune hinzudeuten.

 

Natürlich sind wir wieder mal spät dran

Wen wundert’s – die vergangenen zwanzig und mehr Jahre haben gezeigt, dass wir beim Abmarsch prinzipiell immer die letzten sind und kaum je vor 09.00 in die Gänge kommen. Der heutige Tag ist keine Ausnahme, kommt dazu, dass nach dem erneuten Marsch zum Bahnhof noch verschiedene Besorgungen zu erledigen sind.

Es dauert also nochmals eine halbe Stunde, bis wir kurz vor zehn tatsächlich losmarschieren, die geliebten Panorama Wegweiser fest im Auge.

 

My hiking buddies, ready for action

Der Weg führt uns via Schützenfahrbrügg über die Aare und anschliessend den Belpberg hoch.

Der Führer schwafelt was von einer riesigen Insel inmitten der Landschaft, Insel ja, aber wie wir ziemlich schnell herausfinden werden, handelt es sich eher einen saublöden unnötigen Hügel in der Landschaft, den man besser irgendwo anders hätte hinstellen sollen.

 

Crossing of the Aare

 

Nichts Besonderes

Die heutige Etappe ist von eher einfacher Topologie (vom Belpberg abgesehen), aber entfernungsmässig eine ziemliche Herausforderung für die beiden Rookies. Im Gegensatz zu mir haben sie nicht bereits ein paar hundert Kilometer in den Beinen, was also zum einen oder anderen Keuchen oder Fluchen führen dürfte.

Es könnte allerdings auch sein, dass ich derjenige bin, der keucht und flucht, während die beiden Frischlinge ausgeruht den Berg hochhetzen.

Und da auch heute eine Variante angesagt ist, müssen wir uns noch auf ein paar Kilometer mehr einstellen. Und was die Gesamtzeit anbetrifft – ich bin einigermassen sicher, dass die tatsächlich marschierte Zeit bestenfalls gleich lang sein wird wie die Pausen.

Wenn also die angegebene Zeit 6 Stunden beträgt, dürfte die zu erwartende mindestens 40-50% höher sein.

Ergebnis: Länge: 24 km, Aufstieg | Abstieg: 950 m | 660 m, Wanderzeit: 9 h 20 min

Aber der Führer schwärmt, und wir möchten ihm gerne glauben.

Vom weiten Aaretal über den Belpberg, der wie eine riesige Insel in der Landschaft steht, ins Gemüseland Gürbetal und auf den Längenberg zu den eindrücklichen Ruinen des Klosters Rüeggisberg. Immer wieder grossartige Aussicht auf die Berner Alpen.

 

From Münsingen to Riggisberg

 

Dieser elende Belpberg

Der Belpberg wird nach dem heutigen Tag nicht zu meinen Lieblingshügeln zählen. Kurz nach der Aare beginnt eine Steigung, die es in sich hat (bis 23% erklärt meine Pulsuhr), und noch schlimmer, die Steigung wird immer wieder durch Treppen überwunden.

Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Treppen auf Wanderwegen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass mir die verfllxten Dinger begegnet sind, aber heute haben sie definitiv noch einen Zahn zugelegt.

Apropos Treppen: da fällt mir doch gleich der berühmt-berüchtigte Niesen Treppenlauf ein.

Die Niesen-Treppe ist die längste Treppe der Welt mit 11’674 Stufen. Die Höhendifferenz vom Start bis zum Ziel auf der Gipfelplattform beträgt 1’669 Meter. Merkwürdigerweise (aber wahrscheinlich ist es gar nicht so merkwürdig) melden sich trotzdem Teilnehmer aus der halben Welt an.

Verschiedene Filme auf Youtube zeigen keuchende Teilnehmer, die auf den letzten Energiereserven scheinen, während die besten Läufer bereits leichtfüssig dem Ziel entgegen sprinten.

The Niesen Staircase Run

Treppen oder besser gesagt ihre Bewältigung scheint für gewisse seltsame Leute eine unüberwindbare Anziehungskraft zu besitzen.

Während ich also keuchend und leicht gedemütigt hinter den topfitten Jungspunden her eile, sind die beiden weit voraus. Immerhin kann ich mich mit meinem hohen Alter herausreden, was mich aber nicht wirklich zu besänftigen vermag.

Eins ist hingegen sicher – der Niesen Treppenlauf ist definitiv nichts für mich (und wäre es auch vor 50 Jahren nicht gewesen).

 

Poppies again on the fields

Steep ascent to Belpberg

Fridli on the way up

 

Das Berner Dreigestirn

Zugegeben, ohne Treppen und mit einem Himmel, der etwas blauer wäre als in diesem öden Grau, wäre der Belpberg tatsächlich eine grossartige Insel in der Landschaft. Sobald man den breiten Hügelrücken erreicht, erkennt man das Grossartige der Landschaft. Im Süden strecken Eiger, Mönch und Jungfrau, des Schweizers liebste Gipfel, ihre Spitzen zum Himmel.

Immerhin ist nun für den Moment das Gröbste hinter uns, man atmet durch, lässt den Blick über die gelben Wiesen schweifen, die Berge im Dunst, die sich im Wind wiegenden Weizenfelder. Jetzt beginnt der positivere Abschnitt der heutigen Route. So hoffe ich wenigstens. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

 

On top of the Belpberg

It gets easier

 

Alte Geschichten

Wenn man sich so lange kennt (ein Leben lang) und so viele gemeinsame Abenteuer erlebt hat, sind die Erinnerungen daran das, was uns jeweils bei den Pausen oder am Abend beim wohlverdienten Bier die Zeit vertreibt. Für alle Aussenstehenden, die nicht dabei waren, eher ein zweifelhaftes Vergnügen.

Die Erzählungen verändern sich natürlich, werden im Verlauf der Jahre lustiger, spannender, interessanter als sie tatsächlich waren. Aber wie wir wissen, ist die Erinnerung eine zweifelhafte Sache, sie verschleiert den Blick, etwas, was in der Realität grau war, wird rosarot. Ist aber vollkommen egal, solange wir uns in den alten unvergessenen Geschichten wohlfühlen, ist alles in Ordnung.

Bei unserer ersten Pause (nicht die letzte, wie wir später erkennen müssen) sind sie bereits in alter Pracht zurück, und wir lachen zum hundertsten Mal über den gleichen Blödsinn, die gleichen alten, ewig gleichen Episoden. Sie gehören zu uns, sie sind ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Und das ist gut so.

 

First break

Doch dann geht es weiter, auf der anderen Seite den Belpberg hinunter – what goes up, must come down – und wieder entlang Weizenfeldern und Wasserfällen (nicht gerade Niagara, aber fast), und, wer hätte es gedacht, da sind auch meine geliebten Treppen wieder.

 

Wheat fields on the Belpberg

Niagara Falls at the Belpberg

... and other fucking stairs down to the valley

 

Keuchende Biker

Wie gesagt, Pausen sind ein häufig wiederkehrendes Phänomen, schliesslich sind wir nicht mehr die jüngsten und brauchen Abwechslung.

Und so sitzen wir nicht viel später schon wieder beim Znüni, ein ziemlich ruppiger Abhang vor uns. Der Weg führt sozusagen senkrecht hinunter, nicht mal für Fussgänger leicht zu bewältigen, geschweige denn für Biker auf dem Weg hangaufwärts.

Deswegen bedeutet es eine besondere Freude und Abwechslung, wenn ausgerechnet jetzt, da wir es uns auf einer Bank gemütlich gemacht haben, eine Dame mit Mountainbike heftig keuchend und schnaufend den steilen Hang empor gekrochen kommt. Wir können ein boshaftes Grinsen nicht unterdrücken.

„Ziemlich steil hier, nicht wahr? … Wir dachten bisher, dass Mountainbikes gefahren und nicht gestossen werden.“

„Ja schon, pfff pfff, aber pfff pfff nicht immer pfff.“

Alles gut, die Dame lacht, wir auch, und so lassen sich alle Widerwärtigkeiten dieser Welt mit einem blöden Spruch und einem gutmütigen Grinsen aus der Welt schaffen.

 

Der Tag der langen Pausen

Ich schäme mich fast ein bisschen, zugeben zu müssen, dass es heute zwar auch ein wenig um prächtige Wiesen und Hügel und blöde Treppen geht, aber eigentlich vor allem um Pausen.

Wir erreichen an mehreren hübschen Weilern vorbei schliesslich doch noch den Talboden im Gürbetal, atmen tief durch nach der erfolgreichen Überquerung des Belpberges und erreichen Toffen, ein Dorf, das uns bis anhin vollkommen unbekannt war.

Ist aber egal, Hauptsache es gibt ein Restaurant mit Garten, in dem wir endlich wieder mal eine wohlverdiente Kaffeepause einlegen können. Die Annahme, dass die zusammengezählten Pausen möglicherweise länger dauern als die gesamte Wanderzeit, scheint langsam aber sicher Wirklichkeit zu werden.

Das ist allerdings nicht das erste Mal auf unseren gemeinsamen Wanderungen. In der Konsequenz sind wir natürlich auch meistens die letzten, die am Abend am Zielort ankommen. Die anderen Wanderer sind bereits beim Nachtessen, die grimmigen und spöttischen Blicke sprechen Bände.

Aber wenn das so weitergeht, kommen wir zwar ausgeruht, aber bei tiefer Nacht an unserem Ziel in Riggisberg an.

Mit ernsthaften Absichten zur Besserung machen wir uns auf den Weg und hoffen, jeder Versuchung widerstehen zu können. Bis in einem kleinen, ziemlich verlassen scheinenden Weiler eine Kapelle auftaucht, die uns zuzurufen scheint: „Kommt her, dies ist ein wunderbarer Ort, um eine Pause einzulegen.“

Den Rest kann man sich vorstellen.

 

Chapel

Next stop

 

Der Gasthof Sternen

Natürlich ist es nicht so, dass wir nicht vorwärtskommen, nur nicht so schnell, wie es nötig wäre.

Aber es geht manchmal zügig vorwärts, manchmal auch nicht, schliesslich gibt es immer wieder botanische Fragen zu klären, beispielsweise ob meine Behauptung, dass es sich bei diesen Pflanzen auf dem Feld um Roggen handelt. Waltis App sei Dank, wissen wir bald Bescheid, natürlich ist es nicht Roggen sondern ganz einfach Weizen. Dabei dachte ich doch tatsächlich, bezüglich Getreideerkennung ein Ass zu sein. Wieder eine zerstörte Überzeugung.

Eigentlich, wie die Uhr zeigt, sind wir schon ziemlich lange unterwegs, wobei „unterwegs“ ein klassischer Euphemismus ist. Aber was soll’s, wir fühlen uns prächtig, es könnte endlos so weitergehen. Manchmal geht es aufwärts, dann wieder den Berg oder Hügel hinunter, doch die Landschaft behält ihre Schönheit, auch wenn der bedeckte Himmel nicht recht mitmachen will bei der Präsentation.

 

Along wheat fields

Hills with scatterd farms

Aber dann erreichen wir, ganz unerwartet, eine wunderbare Gartenwirtschaft, und trotz der fortgeschrittenen Zeit gönnen wir uns wieder mal eine Pause.

Der Gasthof Sternen scheint eine besondere Geschichte zu haben. Der Inhaber, als Migrant irgendwann in der Schweiz gelandet, übernahm vor einiger Zeit diesen Gasthof und brachte ihn zum Erblühen. Heute ist das Restaurant ein Touristen- und Wandertreffpunkt. Die Aussicht in die umliegenden Landschaften bietet uns langsam etwas müden Wanderern den letzten notwendigen Anstoss, um die letzten Kilometer bis Riggisberg zu schaffen.

 

Und endlich Riggisberg – und ein Schloss

Der Weg nach Riggisberg scheint endlos zu sein, ein Wanderweg ist nicht mehr vorhanden, also sind wir gezwungen, auf der Strasse zu gehen. Immerhin geht’s abwärts, die ersten Gebäude tauchen auf, doch das Dorf ist gross und sehr weitläufig.

Es gibt sogar ein Spital, eine Polizeistelle und zahlreiche Restaurants, die hoffentlich heute Abend für drei müde Wanderer geöffnet sind.

 

Destination Riggisberg close by

Es muss natürlich so sein, dass zum Abschluss des heutigen Tages nochmals ein Aufstieg zum Schloss absolviert werden muss, wen wundert’s, natürlich über eine Treppe. Und dann sind wir endlich da, es gilt nur noch, den Eingang in das richtige Gebäude zu finden.

Der Zutritt allerdings muss, wir befinden uns in digitalen Zeiten, via Code geschafft werden. Alte Schlösser sind offenbar bezüglich Digitalisierung erheblich weiter als unser Gesundheitssystem.

 

The Riggisberg Castle

Auf jeden Fall empfinden wir uns schon bald als kleine Schlossherren, das Zimmer ist riesig, das Badezimmer ebenso.

Über eine Fehlleistung meinerseits bezüglich Duschen soll der Mantel des Schweigens gelegt werden. Es handelt sich um eine weitere Episode, über die bei zukünftigen Wanderungen herzlich gelacht werden darf.

Auf jeden Fall darf ich der Leserschaft mitteilen, dass das Alter massive Fortschritte macht.

Und tatsächlich, wir finden im Dorf auf Anhieb ein Gartenrestaurant, das alles bietet, was das Herz nach einem solchen Tag begehrt. Vor allem ein oder zwei Biere …

 

Evening Beer

 

Song zum Thema:  Tom Waits – All the World is green

Und hier geht der Trip weiter … nach Guggisberg

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Kryptowährungen und die Rettung der Welt

Alte Hotels sind wie Geschichtsbücher.

Mehr noch als jene in den grossen Städten sind es die kleinen Landgasthöfe, in deren Zimmern der Duft vergangener Zeiten zu riechen ist. Das Holz atmet, der Boden knarrt, wenn man darauf steht, manchmal geht ein Stöhnen durch die Wände, als wären kleine Kobolde darin gefangen.

Die Zimmer haben viel erlebt, viel gesehen, Gäste auf der Durchreise, Handelsvertreter, Touristen, Chauffeure, manchmal nüchtern oder betrunken, manchmal müde oder trauernd, feiernd oder einsam, vielleicht wilde Hochzeitsnächte oder die Folgen rauschender Feste.

Der Rote Thurm (kein Schreibfehler) in Signau entspricht haargenau diesen Vorstellungen. Es gibt zwar weder TV noch eine anständige Dusche, aber das Wlan ist nicht überraschend allererste Sahne. Da scheint doch die Technik-Affinität unseres Bitcoin Fans eine Rolle gespielt zu haben.

Die Wände, die Wandkästen (die ich nicht brauche), der Boden, auch das Bett sind aus Holz, dunkle Vorhänge (ach Gott, die lieben Milben) hängen über einem altertümlichen Fenster, so wie sie früher Standard waren. Aber ich fühle mich auf Anhieb sehr wohl und würde sie nie tauschen wollen gegen die überteuerten Zimmer auf der Lüdernalp.

Der Wirt hat sich Corona-bedingt samt Familie aus seiner Wohnung in ein paar der Hotelzimmer verzogen, der Grund dafür ist mir allerdings schleierhaft. Aber er scheint ein ziemlich schräger Typ zu sein, jemanden, den man kaum in einem Dorf wie Signau erwarten würde.

Aber es passt alles zusammen, auch seine euphorisch vorgebrachte Eloge über die Zukunft der Kryptowährungen (und damit über das Schicksal der Welt). Und so werde ich also zum ungewollten Zeugen familiärer Dispute und Gespräche im wunderbaren Singsang des Berndeutschen.

 

Old fashioned hotel room in Signau

 

Das Bekannte hinter sich lassen

Der Wirt hat mich beim Frühstück ein weiteres Mal mit seinen Hypothesen zu Bitcoin zugetextet, das meiste davon habe ich nicht verstanden, und erhrlich gesagt, will ich es gar nicht verstehen. Auf jeden Fall drückt er mir eine Visitenkarte in die Hand mit dem Versprechen, mir in Sachen Kryprowährungen helfen zu wollen, falls ich irgendwann den Bedarf danach verspüre.

Also wieder ein Abschied, und wie an jedem Morgen lässt man etwas Bekanntes hinter sich.

Signau ist nicht unbedingt eine sehenswerte Erfahrung, zeigt aber, wie die Schweiz abseits der grossen mondänen Zentren lebt und arbeitet. Hier scheint auch die Zeit einen anderen Rhythmus zu haben, vielleicht steht sie manchmal still, verharrt einige Tage, Wochen, Jahre, bis sie wieder Tempo aufnimmt und erstaunt bemerkt, dass sich in diesen Pausen die Welt verändert hat.

Und trotzdem haben diese kleinen verschlafenen Dörfer ihren eigenen Charme. Manchmal vermisst man die Menschen, das Leben, das sich unbemerkt davon geschlichen hat, denn alle diese Orte leiden unter Abwanderung, und so stehen wunderbare alte Gasthöfe leer, sind seit langem geschlossen, verströmen eine eigene Art Trauer über all das, was verloren gegangen ist.

Aber so ist der Lauf der Welt. Die einzige Konstante ist die Veränderung, und diese setzt sich immer und überall durch. Je älter man wird, umso schmerzlicher werden diese Veränderungen. Man fängt an, sich dagegen zur Wehr zu setzen, ohne Erfolg natürlich, denn auch das ist der Lauf der Welt, dass das Alte immer Platz machen muss für das Neue. Auch wenn es manchmal schwerfällt.

 

Eher flach, eher einfach

Eigentlich müsste ich mich nun auf den Weg von der Moosegg über die Blasenfluh befinden, doch einmal mehr stehe ich ohne meine 3-er Wegweiser ein bisschen verloren da und weiss nicht recht, was mich heute erwartet.

Die Hinweise im Führer sind klar:

Die Dörfer werden grösser, die Hügel runder und niedriger, doch die Aussicht bleibt erhalten. Nach einem kurzen Aufstieg zur Blasenfluh ist die Fortsetzung des Weges fast nur noch ein gemütliches Abwärtsgehen bis ins breite Aaretal bei Münsingen.

 

From Signau to Münsingen

Auf der Karte ist ersichtlich, wo meine alternative Route durchführt. Anstelle der Blasenfluh wird Oberhofen und Zätziwil geboten, eine ziemlich flacher und einfacher Abschnitt bis Grosshöchstetten, wo ich mich wieder mit dem Panoramaweg vereinen werde.

Es dauert wieder mal, bis ich den Weg finde, aber wer hätte gedacht, dass es hier einen prächtigen Wanderweg abseits der Strasse gibt. Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann ist es die Tatsache, dass es entgegen der Meinung von Google Maps, die öfters falsch liegt, fast immer Wanderwege gibt, auch wenn sie nicht eingezeichnet sind.

 

Flat path on the way

Ich habe diese flachen breiten Wege in der Zwischenzeit lieben gelernt. Man fühlt sich irgendwie schwerelos, es ist wie bei langem Joggen, wenn das Endorphin einfährt und man endlos weiterlaufen möchte.

Der Blick geht links und rechts, die Bewunderung bleibt, auch wenn es nur ganz normale Hügel sind, einige davon bewaldet, andere grün und gelb. Bauernhöfe mit den hier typischen Dächern grüssen von weitem, sie scheinen da schon seit Jahrhunderten zu stehen, und wenn sie Glück haben, werden sie weitere Epochen überdauern.

Und so gehe ich vor mich hin, wie in den vergangenen zwei Wochen, einen Fuss vor den anderen setzend, der Kopf voll oder auch leer, die Gedanken springen wilden Affen gleich von einem Thema zum anderen, ungeordnet, ungeplant. Dabei möchte man Achtsamkeit üben, nichts denken, nur gehen und nichts anderes.

Wie immer ein beinahe unlösbares Problem.

 

The wide valley near Signau

 

Begegnungen

Es ist zwar kaum zu glauben, aber in Oberhofen grüsst mich eine Frau, und tatsächlich, es handelt sich um eine der Frauen mit Hund, denen ich gestern am Fluss entlang begegnet bin. Wir sind schon beinahe alte Bekannte, sie fragt nach dem Befinden, ich nach ihrem, und dann trennen sich unsere Wege wieder, wahrscheinlich für immer.

Ich folge den Wegweisern, die mich irgendwohin führen, nur nicht dorthin, wo ich hinmöchte. Der Waldweg wird steiler, da merke ich endlich, dass ich genarrt worden bin, und kehre um. Wie vermisse ich doch meine Panorama-Wegweiser. Abseits kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Richtung immer die richtige ist.

In Zäziwil (wieder so ein Name) stolpere ich mehr durch Zufall über ein wunderbares Gartenrestaurant, alte Männer mit Hunden (in dieser Gegend scheint jeder einen zu haben) sitzen entspannt an ihrem Tisch, lachen, rauchen, diskutieren, man könnte ihnen stundenlang zuhören.

 

Müde und ein Hungerast

Es ist wieder mal drückend heiss geworden, sogar meine eisenharte Widerstandskraft gegen Hitze scheint an ihre Grenzen zu kommen. In Grosshöchstetten treffe ich auf meine geliebten Panorama Wegweiser, von da an geht es wieder der Standard-Route entlang.

Die flachen Wege sind Vergangenheit, jetzt geht es wieder die Hügel hinauf und hinunter, Wälder bringen etwas Schatten, vermögen etwas Kühlung zu verschaffen.

 

Meadows and lonely trees

Some tiny clouds over beautiful landscapes

And finally a forest with some well-deserved shadow

Und dann, auf einem nicht besonders steilen Aufstieg, spüre ich das, was die Fahrer der Tour-de-France fürchten wie der Teufel das Weihwasser – einen handfesten Hungerast.

Offenbar habe ich zuwenig gegessen (wahrscheinlich auch schon einiges an Gewicht verloren), auf jeden Fall fühlen sich meine Beine auf einmal an wie aus Gummi, ich muss tief durchatmen und mich ein paar Minuten hinsetzen.

Oder ist das ganz einfach die Meldung meines malträtierten Körpers, dass es nun langsam genug ist? Meine Pulsuhr verkündet jeden einzelnen Tag, dass ich mich überfordert hätte und nun mindestens drei Tage keine weitere Anstrengung unternehmen dürfe. Was mir natürlich vollkommen egal ist.

Glücklicherweise taucht am Waldrand genau das auf, was ich jetzt brauche, eine Sitzbank mit Aussicht. Die Aussicht ist mir zwar im Moment ziemlich egal, der nahrungsmässige Inhalt meines Rucksacks interessiert mich um einiges mehr.

Und hoppla, nach einigen Minuten und ein paar hundert Kalorien mehr im Magen fühle ich mich wieder zehn Jahre jünger (was allerdings immer noch ziemlich alt ist).

 

Lange Wege und ein Feld aus Klatschmohn

Und dann bin ich definitiv raus aus dem Wald, lange Felder mit endlos scheinenden Wiesen säumen links und rechts den Wanderweg. Es gibt Momente, wo ich für einmal nur den Weg als einziges zivilisatorisches Zeichen erkennen kann. Kein Haus, kein Hof, keine Strasse, nur Wiesen und Hügel und Himmel und Wolken und mich.

 

Long road towards Münsingen

Doch dann stehe ich berührt vor einem Weizenfeld voller Klatschmohn, ach, was sage ich Feld, es ist ein Meer aus hunderten, tausenden roter Flecken, die sich im Wind beugen. Ich weiss nicht, wie die Weizenernte vor sich geht, wenn es soviele ungebetene Gäste im Feld hat.

Aber soviel Schöhneit und trotzdem in so kurzer Zeit dem Untergang geweiht.

 

 

Münsingen und ein mehr als seltsamer Übernachtungsort

Ich erreiche das Aaretal, Bern ist nur noch einen Katzensprung entfernt. Und Münsingen kommt näher, langsamer als gewünscht, es sieht wieder mal nach einem abendlichen Gewitter aus.

 

Destination Münsingen

Der Übernachtungsort Bio-Schwand liegt etwas ausserhalb der Stadt, also noch einmal ein paar Zusatzkilometer über lange Feldwege. Als ich den Bio-Schwand-Komplex erreiche, bin ich irritiert, weiss nicht so recht, worum es sich hier handelt.

 

Bio-Schwand 1

Bio-Schwand 2

Es ist gar nicht so einfach sich zurechtzufinden. Wo sich allerdings das Wöschhüsli befindet, das mir die Hausherrin am Telefon bekanntgibt, weiss ich nicht, also brauche ich Hilfe. Der ganze Komplex ist sehr weitläufig, man kann sich schnell verirren.

Nun, irgendwann finde ich das Gebäude, wo sich die Zimmer befinden. Sie erinnern ans Militär, an Kasernen, an Lagerhäuser, an Schulferien, wirkt aber sehr sympathisch.

Ich muss im Web nachsehen, wo ich hier gelandet bin. Offenbar handelt es sich hier um ein recht vielfältiges Angebot. Es gibt einen Bio-Bauernhof, eine Bio-Imkerei, eine Bio-Gärtnerei, ein Pferdetherapiehof und ausserdem ein grosses und vielfältiges Aus- und Weiterbildungsangebot im Bereich der biologischen und regenerativen Landwirtschaft.

Alles in allem also ein auf biologische Philosophie aufgebautes Zentrum für eine vielfältige Natur und deren Erhaltung.

Gefällt mir.

 

Und da sind sie, meine Wanderkumpels

Heute Abend findet mein Solo–Wandern ein temporäres Ende, denn die nächsten 5 Tage werde ich von meiner langjährigen Wandertruppe begleitet, sprich Bruder Walti und Cousin Fridli. Der vierte im Bunde, John, ist quasi von Somerset aus dabei und wird uns wie immer mit Rat und Tat begleiten.

Wir sind ein eingeschworenes Trüppchen, seit 1997 jährlich unterwegs.

Wir haben den Montblanc umrundet, uns in Wales verirrt, das wunderbare Mairatal durchwandert, Korsika durchquert, vom Piemont nach Nizza gewandert, dem South West Coast Trail gefolgt und viele andere Wege in Italien und Frankreich und England und Schweiz und Österreich erfolgreich absolviert.

 

Cheerio

Und so wird das Zusammentreffen in der Pizzeria beim Bahnhof Münsingen zu einem glücklichen Wiedersehen.

Wir freuen uns auf die nächsten Tage.

 

Song zum Thema:  Congo Natty – Get ready

Und hier geht der Trip weiter … nach Riggisberg

 

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Bäume aus dem Mittelalter

Der Hotelmanager verliert in Sekundenschnelle seine überfreundliche Contenance, als ich ihn beim Check-out auf die nicht-vorhandene Wifi-Unterstützung in den Hotelzimmern anspreche. Er stottert was von technischen Problemen, von Aufwand und Kosten. Ich weise ihn auf mögliche Repeater hin, aber davon scheint er noch nie was gehört zu haben.

Wieder mal ein Beispiel, wie Dummheit und Profitgier den Ruf unserer hochgelobten Hotellerie und Gastronomie ad absurdum führen. Wifi in einem Kongresshotel? Wofür auch!

Ich schenke ihm zum Abschied einen mitleidigen Blick, den er mit grimmig verzogenen Mundwinkeln quittiert.

 

Die längste Sitzbank der Welt

Ist mir gestern vor lauter Halbzeit-Feierlaune gar nicht aufgefallen – hier steht mit 38,03 Meter doch tatsächlich die die längste, aus einem Stück gefertigte Sitzbank der Welt.

 

The longesr bench of the world, cut from one single tree

Der Sinn und Zweck entgeht mir zwar wie meistens in solchen Angelegenheiten, aber der Eintrag im Guiness Buch der Rekorde hat sicher eine Rolle gespielt. Wenn ich ehrlich bin, finde ich dieses komische Streben nach den absurdesten Weltrekorden einfach nur… absurd.

„Die grösste Pizza der Welt. Der längste Bart der Welt. Die meisten Menschen in einem Auto.“

Da passt doch die längste Sitzbank der Welt perfekt hinein. Seltsamerweise (oder nein, eigentlich klar) sind die Schweizer überdurchschnittlich oft vertreten in diesem Buch der Rekorde.

Na ja, auf jeden Fall soll hier jeweils Anfang August die weit herum bekannte Lüdern-Chilbi stattfinden, da gibt es zumindest genügend Leute, die eine Sitzgelegenheit suchen.

Klinge ich heute etwas zynisch?

Kann sein, denn ausgerechnet zur Halbzeit schmerzt heute Morgen so ziemlich alles. Es gibt offenbar Muskeln und Sehnen und allerlei anderes, was mir bis jetzt unbekannt war. Und schmerzen kann. Aber das gibt sich. Eine halbe Stunde marschieren, und alles ist gut.

 

Tatsächlich ein bedeckter Himmel?

Ich traue kaum meinen Augen, als mir der Blick aus dem Fenster doch tatsächlich einen bedeckten Himmel zeigt. Wo zur Hölle ist das strahlende Blau geblieben, die kleinen verspielten Wölkchen, die brennende Sonne?

Und sind das tatsächlich ein paar düstere Schleier, die langsam und stetig am Himmel vorüberziehen?

 

Clouded sky - change of weather?

Anyway, auch heute steht ein überaus angenehmer Weg vor mir, auch wenn ich einmal mehr eine alternative Route nehmen muss. Das Hotel auf der Moosegg war ausgebucht, und weit und breit kein Ersatz zu finden. Die Lösung liegt in Signau im Roten Thurm. Auch gut.

Im Herzen des Emmentals führt die Route über einen langen Bergrücken mit verstreuten Bauernhöfen und viel Aussicht hinunter ins breite Tal der Grossen Emme, dann hinauf zur ebenfalls aussichtsreichen Moosegg.

Alternative:  Länge: 17 km, Aufstieg | Abstieg: 740 m | 1165 m, Wanderzeit: 7 h

 

From Lüdernalp to Signau

Ehrlich gesagt, ist mir das Wetter schnuppe, ich nehme, was kommt. Immerhin ist es mir in den letzten Tagen ja weiss Gott wohlgesonnen gewesen.

 

Lüdernalp disappers in the maze

Die Lüdernalp samt inkompetentem Manager bleibt im knappen Morgenlicht zurück, für einmal bedauere ich den Abschied nicht. Die Blumenpracht rechts und links des Weges muntert die Stimmung im Nu auf, und die positiven Gedanken sind zurück.

Die Natur spiegelt, man kann sich der Schönheit nicht entziehen. Wer durch diese Pracht geht und dabei negative Gedanken zulässt, sollte zuhause bleiben. Wenn schon, dann sind am besten gar keine Gedanken empfehlenswert.

 

My constant companions

 

Ein weiser Mann

Fernando Pessoa, einer der wichtigsten Dichter in portugiesischer Sprache und zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts gehörend, war zu Lebzeiten beinahe unbekannt geschweige denn anerkannt.

Man kann in seinem wichtigsten Werk „Das Buch der Unruhe“ gelegentlich blättern (niemand liest es von vorne nach hinten), in den zufällig ausgesuchten Kapiteln versinken und sich zum hundertsten Mal fragen, warum ein derart weiser Mensch unbekannt und unbeachtet blieb.

Er schrieb am 21.6.1934: Sobald wir die Welt als eine Illusion und ein Trugbild betrachten, können wir alles, was uns widerfährt, als einen Traum ansehen, als etwas, was zu sein vortäuschte, weil wir gerade schliefen.

Nun, wenn das, was mich auch heute umgibt, lediglich eine Illusion, ein Trugbild, ist, dann hat der Illusionist gut gearbeitet. Ich komme mir zwar alles andere als schlafend vor, aber vielleicht gehört das gelegentliche Schnaufen bei steilen Aufstiegen zu einem Alptraum.

Aber es erinnert an Buddhas Weisheiten:

Verblendung oder Täuschung oder Illusion, die uns die Welt nicht so sehen lässt, wie sie ist, sondern wie wir sie sehen wollen oder fälschlich gelernt haben, sie zu sehen. Einige Gelehrte behaupten, das ganze Leben sei eine große Illusion.

Passt doch, nicht wahr?

 

cross by the wayside

 

Kreuze und fromme Sitzbänke

Wieder erinnern Kreuze am Weg an Verstorbene, man schweift einen Augenblick lang weg vom Leben, doch dann geht der Schritt vorwärts, die Gedanken ändern sich, verweilen bei einer Sitzbank, in deren Lehne ein frommer Spruch eingebrannt ist.

Man merkt den religiösen Hintergrund der Gegend.

 

Bench with religious saying

 

Ein Baum und ein Landeplatz

Aber dann taucht ein riesiger Baum auf, alles nur noch reinste Natur in all seiner Kraft und Schönheit.

Das wäre doch ein Baum, wo Tiburon nach seinem Sturzflug hätte landen können.

Viel später, als das Erinnerungsvermögen langsam und bruchstückhaft zurückkehrte, erinnerte er sich an diese plötzliche Stille, das Ächzen der Stangen und an den Boden, der mit erschreckender Geschwindigkeit auf ihn zugerast kam. Sein Jungfernflug war zu einem bizarren Totentanz geworden. Der Gleiter taumelte auf eine Gruppe Bäume zu, und im letzten Moment gelang es ihm, die Beine hochzuziehen, bevor er mitten ins ausladende Geäst eines riesigen Ahorns geschleudert wurde.

Der alte Baum schüttelte sich wie ein nasser Hund, dann war es still.

(Ausschnitt aus „Eine Schlange in der Dunkelheit„)

 

huge tree

 

Der Mensch und seine Haustiere

Immer mal wieder tuckert ein Lastwagen vorbei, „Lebende Tiere“ steht angeschrieben. Er ist vollbeladen mit Schafen, ein anderes Mal mit quiekenden Schweinen (die meistens instinktiv merken, dass etwas Ungutes im Gange ist).

Es fällt mir immer schwerer, diese Anblicke zu ertragen. Wird man im Alter dünnhäutiger? Erträgt man das Elend weniger?

Dass man sich im Alter eine dicke Haut zulegt, so quasi automatisch, ist dummes Zeug, im Gegenteil. Man wird durchlässiger, verletzlicher, weicher, vielleicht als Ergebnis der eigenen Lebenserfahrungen. Man schaut genauer hin, reflektiert, blickt unter Oberfläche, erkennt.

Der Mensch hat sich schon immer mit Schuld beladen. Rücksichtslosigkeit, Dummheit, Misshandlung, Gedankenlosigkeit, Kaltherzigkeit. Massentierhaltung. Tiermisshandlungen. Waisenhäuser. Verdingkinder … Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Wenn ich an die Strassenkinder in Kathmandu denke, kommen mir wieder die Tränen, und ich spüre einmal mehr die schmerzhafte Hilflosigkeit.

Ist der Mensch tatsächlich so, wie er manchmal scheint? Kaltherzig, auf den eigenen Vorteil bedacht, rücksichtslos, grausam und brutal?

Da kommt doch die alte Bauernfrau, die schweres Holz auf einen Anhänger lädt, gerade recht. Ich plaudere mit ihr und erhalte ein paar Minuten mehr über die wirkliche Natur des Menschen zu hören, als in jedem Lehrbuch zu finden ist. Sie ist längst pensioniert, allerdings, wie sie lachend verkündet, nur theoretisch, denn sie und ihr Mann müssen auch im hohen Alter zusehen, wie sie finanziell über die Runden kommen.

Sie erzählt das mit heiterer Gelassenheit, und kein einziges Mal ist so etwas wie Bitterkeit auf ihrem runzligen, wunderbar alten Gesicht zu erkennen, auch wenn sie die Ungerechtigkeit ihrer Situation sehr wohl beurteilen kann.

Also, der Mensch ist auch gutherzig, hilfsbereit, freundlich und viele anderes auch. Nicht, dass ich es nicht gewusst hätte, aber es rettet doch gleich meinen Tag …

 

Die höchste Weisstanne der Schweiz

Der Weg führt nun wieder durch einen dichten Wald, den Dürsrütiwald, der sich auf über 900 m ü. M. befindet. Und in diesem Wald wächst seit über 350 Jahren die mächtigste Weisstanne der Schweiz. Rund 57 Meter hoch war sie, bevor ihr der Sturm Lothar 1999 die Krone geraubt hat.

Man muss sich das vorstellen: Höhe 57 Meter, Umfang 4.90, Durchmesser 1.56 Meter, Alter 350 Jahre.

350 Jahre! Was muss die gute Tanne schon alles erlebt haben. Noch vor der Französischen Revolution, vor Napoleon, vor all den Ereignissen nachher erblickte der kleine Schössling das Licht des Waldes. Verrückt! Natürlich gibt es Bäume, die noch viel älter sind, so beispielsweise Methusaleh, eine 4700 Jahre alte Kiefer im Inyo National Forest in Nevada.

Doch ich kann mir vorstellen, dass sich der Wald um ihn herum nicht gross verändert hat. Zahlreiche Tannen und Buchen und Ahorn wuchsen ringsherum und verschwanden wieder. Manchmal tauchte ein Mensch auf, vielleicht spielende Kinder, Holzfäller oder Wildhüter, Füchse und Rehe und Eichhörnchen, später Spaziergänger und Wanderer.

Das alles hat den Baum nicht gekümmert. Nur dann, wenn ein Sturm kam oder schwerer Schnee, dann spürte er die Gefahr, doch erst in Lothar, diesem grausamen Kerl, fand er einen Widersacher, dem er nicht gewachsen war, der seine Krone wollte und bekam.

Man bleibt staunend und bewundernd und gerührt stehen.

 

Across the Dursrütiwald

the tallest white fir in Switzerland a very old story

you cannot see the broken top

sad looking top, broken by a storm

 

Kunstvoll gestapelte Holzbeigen

Und noch eine Merkwürdigkeit (ich wundere mich immer wieder über die unerwarteten Entdeckungen am Wegrand): diese Gegend ist offenbar auch berühmt für ihre Holzbeigen. Keine Ahnung, wer sich soviel Mühe macht, die Holzscheiter in eine Art Kunstwerk zu verwandeln.

Der Wagen mit den beiden Rädern steht nicht etwa vor der Beige, sondern ist ein dreidimensionaler Teil davon. Ich stelle mir die Leute vor, die sich vielleicht lange überlegen, welche Abbildung der zukünftige Holzstoss zeigen soll. Erstaunlich! Manchmal machen mich meine Landsleute hässig, aber immer wieder überraschen sie mich.

Genau dafür sind solche Wanderungen gemacht.

 

the art of stacked firewood

The art of stacked firewood in the Emmental

 

Im Tal der Emme

Und dann erreiche ich den Talboden, das Emmental, mache ein paar Meter durch Emmenmatt und zweige ab. Jetzt würde der Panoramaweg in Richtung Moosegg führen, doch ich wandere nun der Emme entlang nach Signau.

Der Fluss macht hier noch einen harmlosen Eindruck, so wie viele dieser Art. Doch wenn ein Starkgewitter losbricht, entwickelt sich der Fluss in Minutenschnelle zu einem reissenden Monstrum.

 

Emme Emme 2

Emme 3 Emme 4

Ich wandere also frohgemut dem Fluss entlang, Bäume entlang dem Ufer schenken mir gnädig etwas Schatten. Es scheint ein Hündelerparadies zu sein, alle paar Meter kreuzen mich Herr und Hund oder Frau und Hund, und immer werde ich andächtig beschnüffelt und in manchen Fällen als Zeichen beginnender Freundschaft abgeleckt (von den Hunden natürlich, weder von Herr noch Frau).

 

Old bridge over troubled water

Dann dreht der Weg ab auf die andere Seite der Emme, der Übergang ist nicht einfach eine Brücke, sondern ein hölzernes Kunstwerk aus alten Zeiten. Ich nehme an, dass dieser Übergang früher eine  grössere Rolle gespielt hat als heutzutage, aber um dem Kunstwerk die nötige Bedeutung zu geben, gehe ich ganz langsam und andächtig darüber.

Der Rest ist schnell erzählt, via Schüpbach und einen unnötigen Umweg über Wiesen und an Bauernhöfen vorbei, erlebe ich wieder mal den Einmarsch der Gladiatoren. Das Dorf scheint verlassen, oder ist es nur die Sommerhitze des Nachmittags?

Das Hotel ist schnell gefunden, hat allerdings geschlossen, also muss ich dem Herrn des Hauses wieder mal telefonieren (das kennen wir in der Zwischenzeit). Das Haus ist gross und scheint unter einem erheblichen Mangel an Gästen zu leiden.

Der Hausherr, ein junger Herr in den besten Jahren, entpuppt sich schon beim Willkommensgespräch als fanatischer Anhänger der Kryptowährungen, und ist überzeugt, dass sich damit alle Probleme der Welt lösen lassen.

Ich bin zwar skeptisch, kann aber soviel Euphorie nicht viel entgegensetzen. Ausserdem bin ich viel zu müde dazu …

 

Song für einmal nicht zum Thema passend (aber ich bin in Rimini-Stimmung): Fabrizio De André – Andrea

Und hier geht der Pfad weiter … nach Münsingen, wo ich meine Wanderkumpels treffen werde

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Orangegelbe Pracht am Abend

Manchmal, in letzter Zeit öfters, erwache ich am Morgen und bin einen Augenblick lang unsicher, wo ich mich befinde. Das geschieht immer dann, wenn man sich an schnell wechselnden Übernachtungsorten befindet.

Der heutige Morgen ist einer davon: es dauert aber nur einen Moment, bis ich das Dröhnen der Traktoren und Lastwagen erkenne. Klar, Luthern, die steile Strasse neben dem Hotel, wo sich der Verkehr den Anstieg hinauf quält. Diese Art Lärmattacke hat mich auch gestern Abend beim Nachtessen überfallen.

 

Der Geist, dieser störender Geselle

Der Umstand, dass ich heute Abend den halben Weg hinter mir haben werde, bringt ein merkwürdiges Gefühl hervor. Eigentlich müsste ich stolz auf das Erreichte sein, das war ja bisher eine ziemlich lockere Angelegenheit. Aber eben, der Geist ist manchmal ein ziemlich störender Geselle, indem er bereits an das Ende, den Abschied denkt. Das immer gleiche Mantra: Enjoy! Geniesse! Es ist bald fertig passt perfekt dazu.

Aber so ticken wir halt, unfähig, den Moment zu geniessen, im Moment zu verweilen. Viel lieber denken wir an das, was nach dem Genuss kommt.

Ach Gott, so früh am Morgen und schon so philosophisch.

Aber alles hat seinen Grund. Es könnte ja sein, dass ich tief im Unterbewusstsein weiss, dass sich dieses Abenteuer nicht wiederholen lässt. Der Reiz, das Vergnügen, das Glücksgefühl gehört immer zum ersten Mal. Jede Wiederholung ist immer ein Versuch, die Gefühle nochmals zu erleben, etwas Vergangenes noch einmal zum Leben zu erwecken. Das geht nicht.

Und ausserdem kommt dazu, das wissen meine Muskeln und Knochen viel besser als mein hochmütiger Geist, schliesst sich beim Älterwerden ein Fenster nach dem anderen.

So ist das eben. Traurig, aber wahr, würde Georg Danzer singen.

 

Zugegeben, es ist ein Genuss

Ein herrlicher Panoramaweg durch die typischen Hügellandschaften des urtümlichen Emmentals. In stetem Auf und Ab geht es auf einem meist breiten Höhenzug vom Napf, vorbei an kleinen Landwirtschaftsbetrieben, Alpen und durch Wälder zur Lüderenalp.

Der Weg geht stetig auf und ab. Die Begleitung an klaren Tagen: eine grandiose Aussicht auf die Alpen, das Mittelland bis hin zum Jura. Etwa in der Mitte der Strecke liegt die bekannte Oberlushütte. Sie lädt ein zu einer Rast mit Blick auf die verschneiten Wetterhörner. Gestärkt geht es weiter via Geissgratflue zur Lüderenalp, beliebtes Ausflugsziel mit schöner Rundsicht in Richtung Berner Alpen und Jura. Hier steht mit 38,03 Meter die längste, aus einem Stück gefertigte Sitzbank der Welt. Weit herum bekannt ist auch die Lüderen-Chilbi, die jeweils Anfang August stattfindet.

So steht’s im Führer, klingt gut, auch wenn für mich nur ein Teil zutrifft. Denn heute mache ich wohl oder übel den zweiten Teil des ungeplanten Ausflugs via Luthern statt via Napf.

Und so hätte der Tagesplan ausgesehen:

 

From Napf to Lüdernalp

Man erkennt den Unterschied auf unten stehender Karte, aufgezeichnet von meinem Polargerät: der Weg von Luthern via Chrutzi auf den Höhenzug hinauf, wo er wieder auf den Panoramaweg trifft, ist um einiges länger als die originale Route.

Aber ich freue mich auf einen kurzweiligen Trip das Tal hinauf bis Chrutzi, bevor der Weg abzweigt.

Länge: 16 km, Aufstieg | Abstieg: 1050 m | 640 m, Wanderzeit: 6 h 25 min

 

From Luthern to Lüdernalp

 

Ein freundlicher Biker

Bereits auf den ersten Metern der heutigen Route wird klar, dass der Tag wieder so wird wie der gestrige, heiss und anstrengend.

Die ersten Kilometer das Tal hinein führen in langen Kehren der Landstrasse entlang. Immerhin ist der Verkehr dünn, gelegentlich knattert ein Landwirtschaftsgefährt vorbei, der Blick des Bauern geradeaus, als hätte der einsame Wanderer nicht mehr verdient als ignoriert zu werden. Ist mir aber egal, ich fühle mich prächtig, die Luft ist kühl, ein leichtes Windchen weht. Perfekt!

 

Church at Luthern
Auch wenn ein Ort sonst nicht viel hergibt, eine schöne Kirche ist immer da

Ein Biker, wieder mal ein älterer Herr, glaubt mir behilflich sein zu müssen, so zumindest denkt er, und spricht mich an. Er scheint ein aufgestautes Mitteilungsbedürfnis zu haben (kenne ich), denn ich erfahre seine halbe Lebensgeschichte, und so dauert es etwas, bis ich verstehe, was er mir sagen will. Es gibt offenbar tatsächlich einen Wanderweg.

Tatsächlich, bei einem Bauernhaus oberhalb der Strasse führt so etwas wie ein Pfad durch. Nun gut, ich bin zwar nicht überzeugt, dass es viel bringen wird, aber ich mache dem Herrn die Freude, mir geholfen zu haben, und zweige ab. Immer wieder erstaunlich, wie schnell man jemandem eine Freude machen kann, er mir durch seinen Hinweis, ich ihm durch Dankbarkeit.

Was ich befürchtet habe, trifft nach wenigen hundert Metern ein – der sogenannte Wanderweg führt ziemlich genau nach einem halben Kilometer zurück auf die Landstrasse.

 

Der rechte, der mittlere oder der linke

Chrutzi (wieder so ein Name, Hübeli, Chrutzi, wer denkt sich sowas aus?) ist das letzte Dorf oder Dörfchen, bevor das Tal weiter hinten am Napfhang endet. Ob in den fünfeinhalb Häusern mehr als zwanzig Menschen wohnen, bezweifle ich, aber wer Einsamkeit und Ruhe sucht, ist hier richtig.

Man möchte meinen, dass die Abzweigung in Richtung Ober Scheidegg klar sein müsste, aber einen Wegweiser gibt es nicht, also steht man wie der sprichwörtliche Esel vor dem Berg, denn es zweigen tatsächlich drei Wege ab. Die Karte ist etwas ungenau, und so erweist sich die Entscheidung für die mittlere Strasse, die einen besseren Eindruck macht als die beiden anderen, wieder mal als ziemlich falsch.

Der linke Weg ist der richtige. Er macht keinen wirklich appetitanregenden Eindruck, steil, voller Steine und Gräben, und komplett überwachsen von allerhand Gewächs. Einmal mehr die Erkenntnis, dass dieser Weg eine ziemliche Zeit nicht mehr benützt worden ist.

 

This is really a path

Hier muss man sich tatsächlich durch hohes Gras kämpfen, fehlt nur noch eine Machete. Einen Moment lang komme ich mir vor wie Livingstone im Dschungel von Afrika, vielleicht erwartet mich weiter oben Mr. Stanley. „Mr. Landolt, I presume?“

Wie nicht anders erwartet, gibt es auf diesem gottverlassenen Weg keine Sitzbänke, wofür auch? Und so setze ich mich halt am erstbesten Ort hin, es ist nicht wirklich komfortabel, aber immerhin ist die Aussicht wie meistens grossartig. Und wer es noch nicht bemerkt hat – der Himmel ist beinahe wolkenlos, ein paar Schleierwolken in der Ferne. Wenn Engel reisen …

 

View from my picknick place

View down the valley

Irgendwann lichtet sich der Wald, die Strasse wird besser, ein Bauernhof taucht auf, es muss sich um Unterhumbel handeln. Ich lasse die Bemerkungen zu den seltsamen Namen für einmal weg, aber bei Oberhumbel kann ich nicht anders als grinsen.

„Wo wohnen Sie denn?“  „In Oberhumbel, das ist kurz nach Chrutzi und gar nicht weit weg von Hübeli.“ „Wo?“

 

Zurück auf dem Panoramaweg

Der Höhenzug von der Ober Scheidegg bis Oberänzi ist nun ein einziges Vergnügen nach dem anstrengenden Aufstieg. Soll ich nochmals den hohen blauen Himmel erwähnen, der heiter über mir hängt? Oder die leichte Brise, die in den Zweigen der Tannen flüstert? Die Hitze, die manchmal unerwartet durch einen kühlen Luftzug unter den Bäumen gedämpft wird?

Ich muss immer wieder stehen bleiben, es kann nicht sein, dass dieses Panorama nicht die verdiente Aufmerksamkeit erhält. Und so schaut man hinunter und hinauf, nach rechts und nach links, mit leerem Kopf und vollem Herzen.

 

Aber taucht doch tatsächlich ein Wegweiser auf, ich weiss schon von weitem, was es ist, und hallo alter Freund, da bist du wieder, ich habe dich sehnlichst vermisst. Von da an ist der Weg wieder klar und gut und beschildert.

Back on Track!

 

Back on track!

 

Erinnerungen an Gerüche und anderes

Während hinter und unter mir das Luzerner HInterland verschwindet, folge ich der im Führer beschriebenen phantastischen Gratwanderung. Es fühlt sich ein wenig an wie die längst vergangenen Sommerferien in Ahornen im Oberseetal.

Die Wege durch den Wald sind ähnlich, Tannen rechts und links, Gestrüpp und Sträucher, ein unverwechselbarer Duft nach Tannennadeln und Harz streichelt um die Nase. Längst vergessene Bilder tauchen auf, die Nase ist der zuverlässigste Erinnerungsdetektor. Und schon sind die Gerüche aus der Kindheit zurück, sie sind so weit von unserer Gegenwart entfernt, dass die Wahrscheinlichkeit, sie noch einmal geniessen zu können, gegen Null tendiert.

Und natürlich als erster mein Lieblingsgeruch, auch er im Nebel der Vergangenheit verloren – der Geruch in einer speziellen Kiste gelagerten Salzes. In meiner Kindheit kaufte man das Salz noch in der sogenannten Salzwaage, einem kleinen Laden, der ausschliesslich dem Verkauf von Salz diente. Und der ganze kleine Raum war erfüllt mit dem herrlichsten Geruch.

Ich werde ihn nie wieder riechen.

 

Small three-edged cloud in the sky
Eine dreieckige Wolke grüsst aus der Ferne, ein stiller kleiner Tolggen über dem perfekten Gemälde.

Path through forest

 

Dummheit und Überheblichkeit

Manchmal ist der Weg breit wie eine Waldstrasse, dann wieder als schmales Band dem steilen Hang entlang. Der Führer hat recht – man muss vorsichtig sein, einen Fuss vor den anderen setzen, auch harmlos aussehende Abhänge sind tückisch. Die vielen Wanderertoten, deren Anzahl in der Zwischenzeit diejenige der Bergsteiger übertrifft, spricht Bände.

Und ausgerechnet hier, an der dümmsten Stelle, kreuzt mich doch tatsächlich ein Biker. Ich weiss kaum, wohin ausweichen, nicke ihm zu, keine Lust auf eine Unterhaltung, das ist einfach nur ein kopflos dummes Abenteuer.

 

Sometimes a wide and pleasant path ...

... sometimes a steep dangerous path

 

Vielleicht der schönste Abschnitt überhaupt

Morgen werde ich diesen Abschnitt über die Voralpen verlassen und das Emmental erreichen. Wie die nächsten Etappen aussehen, weiss ich noch nicht, aber die Karte zeigt eine andere Topologie. Eines weiss ich aber ganz genau, dieser Tag bereitet mir unerschöpfliche Freude. Ich kann mich nicht erinnern, je soviele wunderbare Stunden durch so grossartige Gebiete gewandert zu sein wie heute.

Die folgenden Bilder zeigen, was ich meine.

 

Just fun along the path In between across a bridge ... .... beneath trees ... ... and other hills ... ... across small houses ...... and across strange round hills

 

Die Oberlushütte

Schönheit kann ermüdend sein, und so kann ich dem Angebot der Oberlushütte nicht widerstehen. Ausser ein paar debilen Bikern bin ich heute sehr wenigen Leuten begegnet. Hier allerdings scheint sich das halbe Emmental versammelt zu haben. Die meisten sind mit dem Bike hochgefahren, andere mit ihrem hochgetunten SUV. Die wohlgenährten Bäuche verlangen nach PS, nicht nach Wanderschuhen.

Ein junger Herr gesellt sich zu mir an den Tisch, ein Biker natürlich, er erzählt aus seiner Sicht von der Schönheit der Gegend und den wunderbaren Wegen. Ich verkneife mir jede Kritik, wie immer ist alles eine Sache der Optik. Es gibt, wie schon mehrmals erwähnt, keine absolute Wahrheit. Jeder hat seine eigene.

 

Die Lüdernalp, ein Feiertagsbier und zum Dessert ein wahrhaft göttlicher Sonnenuntergang

Die Lüderenalp ist ein bekanntes Ausflugsziel im Emmental mit Rundsicht in den Jura und zu den Berner Alpen. Herrlich liegt auf 1141 Metern das 1890 entstandene Kurhaus, das damals auf Molkekuren und Tuberkulose-Patienten spezialisiert war. 1961 brannte es nieder und wurde durch ein Hotel mit Restaurant ersetzt, das bei Feriengästen und Ausflüglern beliebt ist.

Nach knapp sechseinhalb Stunden taucht die Lüdernalp auf, für einmal eine vergleichsweise mondäne Unterkunft für den bescheidenen Wanderer. Es scheint sich um ein Kongresshotel zu handeln, im Gartenrestaurant haben sich junge Leute versammelt und hören ziemlich gelangweilt den ausgesprochen wichtig klingenden Worten ihres Bosses zu.

Einmal mehr bestätigt sich, dass sich bei mir der zeitliche und vor allem innere Abstand zum Businessleben in den letzten Jahren rasant vergrössert hat. Wenn ich die von Anglizismen strotzenden Ausführungen höre, kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ach Gott, wie schön ist es, diese Sprüche nicht mehr hören zu müssen …

Aber der heutige Tag ist ja ein Feiertag – die halbe Strecke ist geschafft. Jedes wohlverdiente Bier am Abend schmeckt mir, aber das heutige natürlich ganz besonders.

 

A beer for halftime celebration

Und dann, als würde auch der Himmel etwas zur Feier beitragen, zeigt der Abend, zu was er fähig ist. Eine blutrote Sonne, umgeben von einem rötlichgelben Schleier, begleitet durch das Gebimmel der Kuhherde unter dem Hotelfenster, versinkt in atemberaubender Schönheit. Es erinnert mich an viele andere Sonnenuntergänge, in Vietnam, in Laos, in Burma.

 

Cows beneath the fading evening

Jeder schöner und kitschiger als der andere, und trotzdem jeder ein Moment für die Ewigkeit.

 

 

Song zum Thema:  Al Green – Love and Happiness

Und hier geht der Trip weiter … nach Signau

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Lang und heiss und wunderbar

Das Leben ist wie Fahrradfahren. Um die Balance zu halten, muss man in Bewegung bleiben. (Albert Einstein)

Also an der Bewegung fehlt’s nicht, mit der Balance bin ich ganz zufrieden, also Albert wäre sehr zufrieden mit mir.

Heute muss ich zwangsläufig eine alternative Route nehmen, da das Hotel auf dem Napf gemäss Wirt wegen personeller Unterbesetzung geschlossen ist (später wird mir glaubhaft versichert, dass es sich dabei um eine Ausrede gehandelt hat; der Wirt ist offenbar nicht für besonderen Fleiss bekannt).

Aber was soll’s, gehen wir halt  nach Luthern. Das Wetter hält, ich bin schon um halb acht unterwegs.

Und so hätte die Originalroute ausgesehen:

 

From Wolhusen to Napf

Meine alternative Route sieht aber anders aus. Sie folgt der ursprünglichen Route bis Oberleh und dann der Strasse entlang bis St. Joder und später via Hübeli nach Luthern. Keine grosse Sache, so scheint’s, aber wie immer sind Träume manchmal Schäume.

 

Alternative route to Luthern

 

Keuchen und Fluchen

Der nervtötende Durchgangsverkehr macht den Abschied von Wolhusen leicht. Wahrscheinlich war es vor langer Zeit mal ein schmuckes Dorf entlang der Kleinen Emme. Aber eben, wie an vielen anderen vergleichbaren Orten, sind die Lastwagen, die im Minutentakt durch das Dorf brausen, eine Qual.

Der Weg führt der Kleinen Emme entlang gegen Süden. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass ausgerechnet Wolhusen im Juli mehrmals durch Sturm und Überschwemmungen heimgesucht würde. Wenn ich so diesem ruhigen Fluss entlang gehe, sind solche Vorstellungen surreal.

Ausgangs Dorf taucht eine steile Wand auf, kein Problem, aber kaum verschwindet der Weg im Wald, fängt das Keuchen und Fluchen an. Meine Pulsuhr zeigt es später an – es sind knapp 20% Steigung mit dem, nach dem gestrigen Grosseinkauf, schwersten Rucksack ever.

Auf der Karte sieht es ziemlich harmlos aus, aber da meine Kartenlesekünste weiss Gott nicht berühmt sind, habe ich die richtige Interpretation wieder einmal verpasst. Anyway, manchmal ist der Weg zum Glück mit Keuchen und Schimpfen geplastert, da muss man durch.

 

Dieser eine flüchtige Moment

Man sollte nie denken, dass nun alles so bleiben wird, dass nur noch Schweiss und Mühsal wartet, vor allem dann nicht, wenn die Erfahrungen eigentlich etwas anderes sagen. Denn tatsächlich, sobald sich der Wald lichtet, wird der Weg eben, und schon öffnet sich der Blick auf eine sanfte Anhöhe.

Ein einsamer Baum lockt mich unter seine dicht belaubten Äste, stellt mir eine Sitzbank hin, und zeigt mir all das Wunderbare, das ihn alltäglich, das ganze Jahr über umgibt. Ich kann der Einladung nicht widerstehen, obwohl es noch früh ist und ich kaum eine Stunde unterwegs bin.

Und so sitze ich da, lasse mich von der Aussicht verzaubern, bemerke, dass der Himmel, je näher er den Bergspitzen kommt, in ein milchiges Blau übergeht. Dass die Wiesen mal heller, mal dunkler grün sind. Dass die Tannen nicht einfach nur Tannen sind, sondern aufrechte trotzige Krieger.

Die Sinne funktionieren anders, sie sind auf das justiert, was sie umgibt. Als sähe das Auge mehr, als hörte das Ohr Geräusche, die sonst verborgen bleiben, als rieche die Nase Gerüche, die nur noch auf einer tiefen Ebene gespeichert sind, aber jetzt reaktiviert werden.

Habe ich schon mal erwähnt, dass man in diesen Momenten so nahe bei sich selbst ist, wie es nur möglich ist? Dass mit einem Mal alles in einer seltsamen, manchmal fast erschreckenden Balance ist, der man nie mehr entfliehen will, aber trotzdem um deren Flüchtigkeit weiss?

Man möchte diesen einen Augenblick ins Unendliche ausdehnen.

 

Lonely Tree at hill

Lovely Landscape surrounded by mountains
Nur ein Bild, aber perfekt in seiner Harmonie

beautiful blue and green landscape from under the tree

 

Eiger, Mönch und Jungfrau

Und da, kaum zu glauben, weit weg am Horizont, die drei berühmtesten Berge der Schweiz – Eiger, Mönch und Jungfrau (ausser dem Matterhorn natürlich, dem berühmtesten Berg der Welt). Sie werden mich eine Zeit lang begleiten, immer schön zur Linken, so wie es das Alpenpanorama vorgibt.

Die Sicht auf die Berneralpen zeigt auch, dass ich mich langsam und beharrlich der Mitte meines Trails nähere. Morgen Abend, auf der Lüdernalp, bereits im Emmental angekommen, werde ich mit einem speziell verdienten Bier Halbzeit feiern.

Wer hätte das gedacht, ich am allerwenigsten.

 

Eiger, Mönch, Jungfrau - famous Swiss Peaks

Ich bin jetzt auf dem Steinhuserberg, tiefkatholisches Land, die Kreuze am Wegrand zeugen von Vergangenheit und Gegenwart. Manchmal bleibe ich stehen, versuche herauszufinden, was der Grund für das Kreuz ist. Eine Botschaft am Wegrand an alle auf dem Weg? Eine Erinnerung an jemanden, der hier gestorben ist? Ein spezieller Kraftort mit religiösem Hintergrund?

Manchmal ist es egal, irgendwie spürt man die Bedeutung.

 

A cross in the middle of nowhere

Aber dort, wo man sie am wenigsten erwartet, tauchen seltsame Dinge auf, die so gar nicht zum trockenen, wenig skurrilen Charakter der hiesigen Mentalität passen. Man wundert sich, überlegt sich Geschichten, stellt sich die Menschen vor, die eine alte Kabine einer Luftseilbahn hierhin verpflanzt haben.

Dient sie einem bestimmten Zweck? Eine besondere Art Schutzhütte bei Regen und Sturm? Die surreale Installation eines Künstlers? Oder noch viel schräger – ist sie hier vergessen worden?

Man kommt auf allerlei komische Gedanken beim Gehen.

 

old cabin of a cable car
Da stellen sich allerhand Fragen

 

Das Schmelzen des Hirns unter dem Hut

Es ist von Vorteil, hitzeresistent zu sein. Meine diesbezüglichen Erfahrungen in Indien und Südostasien verschaffen mir einen gewissen Vorteil. ich liebe es, wenn es so richtig heiss und feucht ist, wenn der Schweiss schon verdampft, bevor er die Stirn erreicht.

Heute ist es natürlich nicht feucht, nur heiss. Es ist inzwischen kurz nach neun, der Himmel wolkenlos, die Strasse, leider mal wieder eine Asphaltstrasse, fängt bedrohlich an sich aufzuheizen. Das wird noch ein Spass werden bis heute Abend.

Aber was soll’s, die Schmetterlinge auf dem Wiesenbord, die Raubvögel, die leise rauschend über mich hinwegschweben, die riesigen, alleinstehenden Bäume, machen das Gehen einmal mehr zu einer Freude.

 

Cows looking for shade

Ich bin nicht der einzige an der Sonne, aber offenbar der einzige, der dies freiwillig tut. Sogar die Kühe, die einiges gewohnt sind in Sachen Wetter, haben sich in den Schatten der Bäume geflüchtet. Sind es mitleidige Blicke, die sie mir zuwerfen, oder gar spöttische? Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn ich scheine tatsächlich der einzige Mensch weit und breit zu sein.

 

finally found shade

Aber immerhin taucht der Weg zwischenzeitlich in einen Wald ein, ich atme tief durch, bleibe einen Augenblick stehen, vermeine die Bäume sprechen zu hören, oder was könnte das leise Raunen sein? Es erinnert mich an Ladakh, den Baby-Trail, und die unvergessliche Stille inmitten des Nichts, wo man glaubt, das Raunen der Berge zu vernehmen.

 

Nordwärts – zur Abwechslung

Schliesslich, wen wundert’s, zweigt der Weg wie erwartet vom Alpenpanoramaweg ab, jetzt kommt die SwissTopo App zur Anwendung. Sie soll mich auf kürzestem Weg nach Luthern führen. Wie sich aber zeigt, ist das, was die App vorschlägt, zwar auch ein Weg nach Luthern, aber garantiert nicht der kürzeste. Seltsam.

Am meisten ärgert mich, dass ich ganz oben, wo sich die Wege trennen, mich eine verwirrende Richtungsangabe (oder habe ich wieder mal was verpasst?) auf den falschen Weg führt. Immerhin werde ich nach einer Viertelstunde misstrauisch, denn die Richtung führt überall hin, nur nicht Richtung Norden.

Und tatsächlich, Google Maps stellt klar, dass ich umkehren muss, was ich dann auch leise grummelnd tue.

Nun, eigentlich ist es egal, im Kopf bin ich richtig, ich weiss zumindest ungefähr, wohin der Weg führt. Allerdings muss ich zugeben, dass mir die vertrauten 3-er Schilder fehlen, diese Wegweiser zum Glück und in diesem Fall meine ich mit Glück das Endziel Genf. Ach Gott, es ist immer noch beinahe 300 Kilometer entfernt.

Meine brennenden Füsse finden diese Aussicht gelinde gesagt eine Zumutung, und in ganz schwachen Momenten muss ich ihnen zustimmen.

 

Working on the fields

Nach der Niederlage bei den Agrarabstimmungen bin ich zwar noch etwas verstimmt, aber die fleissige Arbeit der Bauern auf ihren Feldern nötigt mir doch einen gewissen Respekt ab.

 

Das Ziel rückt näher

Die Route zwischen Menzberg und Hergiswil ist anscheinend eine beliebte Strecke für Mountain Bikers. Während ich abwärts eile und so versuche, möglichst schnell den ungeliebten Teerstrassen zu entgehen, kreuzen mich zumeist ältere Herren auf e-Mountainbikes, je nach Richtung trotz e-Unterstützung schwer schnaufend, oder pfeilschnell an mir vorübersausend.

Ich bin noch nicht so weit, wie ich gerne wäre, aber immerhin taucht die Kapelle St. Joder auf. Ich setze mich auf eine schattigen Sitzbank beim Eingang, während sich auf der anderen Strassenseite einige bejahrte Herren aus einem Brunnen Wasser über die ergrauten Köpfe giessen. Man sieht mich leicht komisch an, ich muss ein ungewohntes Bild inmitten der radelnden Gesellschaft bieten.

Leider geht der Weg so weiter wie die letzten Kilometer, sprich auf asphaltierten Strassen, die sich jetzt um die Mittagszeit alle Mühe geben, mir die Schuhsohlen zu verbrennen.

Aber irgendwann erreiche ich das Dorf mit dem seltsam klingenden Namen Hübeli, tönt irgendwie ein Spielzeug aus dem Kindergarten. Eine riesige Holzverarbeitungsfirma scheint neben ein paar Häusern das ganze Dorf auszumachen. Bis Luthern muss ein weiterer Hügel bezwungen werden, immerhin der letzte heute.

Und dann, bei einer Gruppe schattiger Bäume, sehe ich das Dorf unter mir. Eine ältere Dame gesellt sich zu mir, eine Einheimische aus dem Dorf. Sie erzählt von Luthern, und einmal mehr geht es dabei wieder um Verluste, um irreversible Veränderungen, die langsame Verarmung des Dorflebens.

 

Shady trees abover Luthern

And there it is fainally - Luthern

Aber dann, nach weiteren mühsamen Kehren zum Dorf hinunter (wahrscheinlich habe ich die Abkürzung wieder mal verpasst), stehe ich aufatmend vor dem Hotel Krone und bin nach beinahe 8 Stunden tatsächlich angekommen.

Dieses Bier habe ich mehr als verdient, und so geht ein weiterer Tag ins Land, heiss und anstrengend und wunderbar …

 

Beer at the end of a very strenious day

 

Song zum Thema:  Lambchop – The Man who loves Beer

Und hier geht der Trip weiter … zur Lüdernalp

 

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Spaziergang … und eine Leiche

Während ich genussvoll in meinem Frühstücksteller stochere, höre ich den Gesprächen des Pöstlers mit den Wirtsleuten zu. Sie unterhalten sich, wie wahrscheinlich die halbe Schweiz, über die gestrigen Abstimmungsresultate. Interessant, wie sachlich und differenziert diskutiert und bewertet wird. So sollte das immer und überall sein. Leider ein frommer Wunsch.

Die Bäckerei, wo ich kurz nach dem Abmarsch einkaufen möchte, scheint geschlossen zu sein. So wie die Schaufenster aussehen, offenbar seit vielen Jahren. Einmal mehr das Ergebnis des Niedergangs des lokalen Gewerbes, das gegen die Macht der grossen Detailhändler keine Chance hat. Wir werden es irgendwann bitter bereuen. Oder auch nicht, weil die Leute in absehbarer Zeit gar nicht mehr wissen, was sie verloren haben.

 

Der Kleinen Emme entlang

Ich muss es einfach erwähnen: auch heute kann der Himmel nicht blauer, die Luft nicht würziger, der Kopf nicht leichter und beschwingter sein. Sogar die Beine inklusive Knie fühlen sich an wie bei einem Zwanzigjährigen. Alles angerichtet für einen weiteren fantastischen Tag.

Es ist eine Wanderung durch eine der reizvollsten Flusslandschaften des Kantons Luzern. Entlang der Kleinen Emme, die Lebensräume für Tiere und Pflanzen schafft, sind Naturdenkmäler zu entdecken, aber auch Zeugen der Zivilisation.

Der Weg gemäss Führer ist noch fast kürzer als der gestrige, beinahe ein Spaziergang.

 

From Malters to Wolhusen

Ich folge der Kleinen Emme, im Schatten von Bäumen und Sträuchern, noch immer allein, begleitet lediglich vom Zwitschern der Vögel und dem Summen der Insekten.

Meine Vogelerkennungs-App Zwitschomat ist heftig im Einsatz. Tatsächlich erkennt sie ein paar Vogelarten, die in unseren Breitengraden selten geworden sind: Mönchsgrasmücken, Zaunkönig und sogar ein Pirol (falls ich der App Glauben schenken darf).

 

Path through shady trees

 

Bienen und Vögel

Beim Wandern wird man zwangsläufig mit all den Problemen der Umwelt konfrontiert. Das fängt mit den gedüngten Wiesen an, totes Land für die Insekten, und setzt sich entlang der Nahrungskette fort. Keine Insekten, keine Bestäubung, keine Vögel. Enden wir am Schluss so wie die Chinesen, die ihre Blüten von Hand (!) bestäuben müssen?

Solch pessimistische Gedanken tauchen immer wieder auf, auch wenn ich immer wieder auf Wiesen stosse, auf denen zahlreiche Blumen in allen Farben gedeihen. Oder dieser wunderbare Tümpel, in dem es summt und surrt und quakt.

 

A awesome pond with insects and frogs

 

Besser geht’s nicht

Tja, besser kann’s tatsächlich nicht werden. Nach all den verregneten Tagen werde ich ein kleines Bisschen entschädigt, auch wenn ich dem Frieden noch nicht ganz traue. Aber ich nehme den azurblauen Himmel gerne an, genauso wie die Postkartenidylle, die mich umgibt, die noch leicht verschneiten Berge am Horizont, die Hügel und Wiesen und Wälder.

 

Not a single cloud missing
Nicht eine einzige Wolke zu sehen
that's today's trail - just wonderful
So sieht mein heutiger Weg aus – mal im Schatten, dann wieder im gleissenden Sonnenlicht

 

Die Zukunft des Planeten

Die blöden Abstimmungsplakate sind natürlich noch nicht verschwunden, also werde ich zwangsläufig mit den Konsequenzen der gestrigen Abstimmung konfrontiert. Wenn ich versuche, sachlich darüber nachzudenken, wird es schwierig. Zu sehr schmerzen die Niederlagen. Dass die Agrarvorlagen abgeschmettert wurden, ist keine Überraschung. Aber was wirklich weh tut, ist die CO2 Geschichte. Während ich sozusagen durch eine vermeintlich intakte Natur wandere, wenden sich meine Gedanken automatisch dem zu, was diese Natur im schlimmsten Fall erleiden könnte.

Die Zeichen an der Wand könnten nicht klarer sein. Wie jemand auch heute noch den menschlichen Einflluss auf die Veränderungen des Klimas abstreiten kann, ist mir ein Rätsel. Wie so vieles anderes in dieser seltsamen Zeit. Offenbar ist es wirklich so, dass der Mensch prinzipiell nicht in der Lage ist, Bedrohungen der Zukunft in der Gegenwart zu lösen. Vor allem nicht dann, wenn das eigene Verhalten und das Portemonnaie betroffen sind.

Ich bin zutiefst pessimistisch geworden, was die Zukunft unseres wunderbaren Planeten anbetrifft.

 

Mittelerde

Dennoch wende ich mich wieder dem zu, was mich in aller Pracht umgibt. Ich befinde mich ja in einer Art Mittelerde, alles sieht intakt aus. So muss es auch sein, wenn man sich in Tolkien-Country befindet.

Tolkien war ja sein Leben lang ein Gegner des technologischen Fortschritts, er hasste alles, was nicht urtümlich, nicht dem Ursprung der Natur entsprach. Man denke nur an Saruman, das Fällen der uralten Bäume, die Errichtung der unterirdischen Fabriken mit Rauch und Lärm und der ganzen damit verbundenen Achtlosigkeit gegenüber dem Leben.

Aber bleiben wir bei der Schönheit, beim Stausee, beim rauschenden Wasser, beim blauen Himmel.

 

Reservoir lake at the Kleine Emme

Tributary flowing into Kleine Emme

Da fliesst er also, der kleine Fluss, ruhig dahin, schäumt gelegentlich auf, als würde er gestört durch einen Stein, einen Felsen, ein Stück Holz, das sich verfangen hat.

Eine Stelle, wo spielende Kinder ein paar Steine zu einer kleinen Mauer gesetzt haben, ladet mich ein zum nächsten Picknick. Niemand zu sehen, nichts zu hören ausser dem Gurgeln des Flusses. Ich schaue dem Wasser zu, kaue auf altem Brot herum, bin in Gedanken ganz woanders und trotzdem ganz hier.

 

At the shore of the Kleine Emme

 

Der Wallfahrtsort Werthenstein

Auf einem Felsen thront, gekrönt vom Blau des Himmels und umrandet vom Grün der Bäume und Sträucher, das Kloster Werthenstein. Es hat eine ganz besondere Geschichte, aber ob sie stimmt, ist nebensächlich. Ich zitiere den ersten Teil der Geschichte, lange vor unserer Zeit geschehen, also genau dann, als viele unserer Sagen und Mythen entstanden. Warum  nicht auch für das Kloster Werthenstein.

Das Kloster Werthenstein entstand an einer Stelle, an der etwa ums Jahr 1500 ein niederländischer Goldwäscher arbeitete. Er war ein glühender Verehrer Marias und es wird von Erscheinungen berichtet. So soll er eines Abends nach dem Nachtgebet Engelsgesang gehört haben. In der Folgezeit suchte er diesen Kraftort täglich auf und hängte dort ein Marienbild auf. Im Laufe der Zeit verbreitete sich das Gerücht von der Erscheinung des Goldwäschers und immer mehr Menschen wollten diesen Ort kennenlernen. Man berichtete auch von wundersamen Heilungen bei Menschen der Umgebung.

Wie sagt man so schön: Und ist es nicht wahr, so doch wenigstens gut erfunden.

 

The monastery from the other side

cemetery of the monastery

Nach dem schweisstreibenden Aufstieg besuche ich als erstes den Friedhof des Klosters.

Und wie immer werden alte Gefühle geweckt – Trauer, NIchtverstehen, Ehrfurcht. Und immer denkt man dabei auch an sich selbst. Es ist, als würde man etwas vorausnehmen, das irgendwann in der Zukunft geschehen wird. Jedes Grab, jeder Name auf den Kreuzen erinnert daran, dass irgendwann die eigene Glocke erklingen wird.

 

Die Kirche und ein Toter

Immer wieder wird man von der Schönheit von Klosterkirchen überrascht. Manchmal ist es die schiere Pracht der Ausstattung, die unirdische Schönheit der Kunst, alles zu Ehren Gottes. Auch diese Kirche besitzt ihre eigene Schönheit, auch wenn karger und weniger opulent als Einsiedeln. Und trotzdem zwingt sie zu Stille, man zieht den Hut, man kniet nieder, und – ganz unerwartet – zünde ich sogar eine Kerze an. Kann nicht schaden für die nächsten anstrengenden Wochen.

 

As always - splendor and beauty

A candle for the next weeks

Ich trete wieder hinaus in die Mittagshitze, setze mich auf die steinerne Sitzbank. Es ist niemand zu sehen, offenbar hält man im Kloster Siesta.

Ein kleiner Raum, direkt neben mir, erweckt meine Neugier. Der schwere Duft von Blumen und Kerzen dringt heraus. Eigenartig. Wozu könnte dieser Raum dienen? Neugierig wie ich nun mal bin, trete ich hinein, bin einen Moment lang irritiert, doch dann realisiere ich endlich, wo ich mich befinde.

Denn vor mir liegt, aufgebahrt in seinem Sarg, ein Mann. Er scheint noch jung zu sein, auf seinem Gesicht liegt tiefer Frieden. Durch das niedrige Fenster dringen Sonnenstrahlen, zaubern helle Flecken auf seinen Anzug, vielleicht ein Abschiedsgruss.

Ich ziehe den Hut vom Kopf, stehe ein paar Augenblicke vor dem Sarg, wünsche dem Verstorbenen alles Gute und verlasse den Raum.

 

Wolhusen

Der Weg nach Wolhusen ist nicht mehr weit, in Gedanken versunken wandere ich die letzten Kilometer, verpasse einmal mehr den Pfad und muss mich einer endlos langen Baustelle entlang zum Städtchen kämpfen.

Ich werde im Hotel August bereits erwartet, das Zimmer ist ok, der spätere Nachmittagstrunk ebenso, genauso wie das Abendessen im Restaurant Bahnhöfli. Im Fernsehen läuft die EM Spanien gegen Schweden, doch ich bin nicht recht bei der Sache. Offenbar hat der tote S.B. mehr Spuren hinterlassen, als mir lieb ist.

 

Song zum Thema:  Band of Horses – The Funeral

Und hier geht der Weg weiter … nach Luthern

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Sunday Morning coming down

Um sieben Uhr holt mich Lynyrd Skynyrd aus tiefem Schlaf, natürlich mit Free Bird (siehe unten) in der 1977-er Live Version mit Ronnie, Steve und Cassie. Ein  paar Monate waren alle drei tot. RIP.

Straight up American fucking rock n roll.

Es gibt nicht wenige Experten, die das dreistimmige Guitarrensolo als das beste aller Zeiten ansehen. Ich stimme ihnen zu.

Free Bird?

Passt doch irgendwie zu meinem Marsch.. So komme ich mir in den besseren Tagen vor, in den anderen eher wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln.

Der heutige Tag ist nichts Besonderes, ein Tag, um den Muskeln einen Beinahe-Ruhetag zu bescheren. Knapp vier Stunden? Lohnt sich kaum loszuziehen.

 

From Lucerne to Malters

 

Der Sonnenberg

Es gibt nichts Schöneres als an einem Sonntagmorgen durch die leeren Strassen einer Stadt zu gehen. Die Luft riecht für einmal nicht nach Abgasen, Stille anstelle des gewohnten Krachs, niemand weit und breit, vielleicht ein paar Hündeler oder andere Frühaufsteher wie ich.

Der Aufstieg zum Luzerner Hausberg, dem Sonnenberg, führt ein paar Quartierstrassen hoch, bis man etwas weiter oben in den Schatten von Bäumen eintritt.

 

First bench on the road

Es ist die übliche stadtnahe Umgebung, sorgfältig nach den Anforderungen der urbanen Bevölkerung angelegt. Für einmal gibt es genügend Sitzbänke, die Wege sind angenehm, nicht zu steil, nicht zu anstrengend, abwechselnd in der Sonne, dann wieder im Wald.

Und nun sind sie plötzlich da, die Jogger und Spaziergänger, die Familien mit kleinen Kindern, die alten Männer an Stöcken mit ihren Damen an der Hand. Wanderer gibt es keine, zumindest sind keine zu entdecken.

Heute werde ich es langsam angehen, die Pausen noch etwas länger machen als sonst, was bedeutet, dass ich schon nach einer Stunde meine erste Rast einlege, während der Blick über den verdunkelnden Himmel geht, hinunter nach Kriens.

Schönes Wetter? Da haben die Wetterpropheten wohl wieder mal in die falsche Schublade gegriffen.

 

View down on Kriens

 

Die Sonnenbergbahn

Wieder einmal bin ich ohne detaillierte Informationen über die Etappe losgegangen. Die Infos auf der WebSite sind mehr als karg:

Vom Sonnenberg lassen sich Luzern und seine Aussengemeinden trefflich überblicken. Einblick in die Geologie der Region bietet sodann die Ränggschlucht. Auf dem letzten Teilstück bis Malters wandelt man auf den Spuren des heiligen Jakobus.

Und da, ganz unerwartet, treffe ich  auf eine Bahn, ein Bähnchen würde man wohl besser sagen. Es handelt sich um die Sonnenbergbahn, eine altehrwürdige Standseilbahn, die von Kriens heraufführt, während ihre Schwester, die Gütschbahn, von Luzern her hochfährt.

Ich liebe diese kleinen alten Bähnchen, sie erinnern an die Poly-Bahn in Zürich und dürfte höchstens ein bisschen länger sein. Sie überwindet bei einer Länge von 839 m eine Höhendifferenz von 210 m, startet in Kriens und fährt praktisch kurvenlos mit einer Steigung von maximal 42,4 % bis oberhalb des Hotels Sonnenberg (Wikipedia).

 

The Sonnenbergbahn - small is beautiful

 

Die anrückende Zivilisation

Der Weg verschwindet für ein paar Minuten im Gigelwald, doch sobald man ihn verlässt, steht man vor einer Million Einfamilienhäuser, die sich bis auf ein paar Meter dem Waldrand genähert haben. Es sieht aus wie ein Krebsgeschwür, das sich immer weiter ausbreitet.

Ich stelle mir den Wald vor, wie er sich bedroht fühlt von all den Häusern, dem Lärm, dem Beton. Ob er sich dem zunehmenden Druck erwehren kann? Ich bin skeptisch.

 

Gigelwald

Path across the Gigelwald
Die Häuser nähern sich bedrohlich dem Wald

 

Dieser komische Sonntag

Ich bin nun seit Tagen durch ganze Wälder von Abstimmungsplakaten gegangen, rechts und links des Weges, und immer mit der gleichen Botschaft „2x Nein zu den extremen Agrarvorlagen“.

Für Nicht-Eingeweihte: unsere sogenannte direkte Demokratie verschafft den Stimmbürgern vier Mal pro Jahr die Gelegenheit, über bestimmte Themen abzustimmen. Es handelt sich dabei entweder um Gesetze oder Verfassungsänderungen, die vom Bundesrat und/oder Parlament, beschlossen wurden und gegen die mit jeweils 100’000 beglaubigten Unterschriften ein Referendum ergriffen werden kann.

Oder irgendjemand, eine Partei oder sogar eine Einzelperson oder wer auch immer, hat die Möglichkeit, 100’000 Unterschriften für eine Initiative zu sammeln. Es gibt ein paar wenige Einschränkungen, aber grundsätzlich kann jedes Thema aufgegriffen werden (wir mussten schon darüber abstimmen, ob unsere Kühe Hörner tragen sollen oder nicht).

Beide Varianten kommen irgendwann vor die Volksabstimmung.

An diesem Sonntag sind insgesamt 5 Vorlagen zu entscheiden, eine zum CO2 Gesetz (Referendum), eine zum Covid-19 Gesetz (Referendum), eine zur Bekämpfung des Terrorismus (Referendum) und zwei Initiativen im BereichLandwirtschaft. Diese beiden hätten einen besseren Schutz des Trinkwassers und ein ein Verbot von synthetischen Pestiziden vorgesehen. Natürlich hat die Agrar-Lobby einen aggressiven Abstimmungskampf geführt, die beiden Themen haben zu einer kaum gesehenen Emotionalisierung der Bevölkerung geführt.

Heute ist endlich Abstimmungstag, und dann hoffe ich, dass sich unsere kleine Welt wieder beruhigt..

 

Schottland und steile Treppen

Eine weite Wiese liegt zwischen dem Gigelwald und dem eigentlichen Sonnenbergwald, natürlich wieder voll gepflastert mit oben genannten Schildern und Plakaten. Sie hängen mir gewaltig zum Hals heraus. Immerhin – die Hitze hat ziemlich zugenommen – verschafft mir der Wald eine wohlverdiente Abkühlung.

Bei einem seltsamen Felsen, der mitten im Wald steht und dessen Sinn und Zweck sich mir nicht erschliesst, treffe ich auf eine englisch sprechende Familie. Ich komme mir vor wie ein Inder auf der Suche nach Konversation mit Ausländern. „Where do you come from?“

 

No idea what this rock stands for

„Scotland“, antwortet die Lady des Hauses. Ich kann es nicht lassen und spreche sie auf eine mögliche zweite Abstimmung über den Austritt Schottlands vom Vereinigten Königreich an (was man nicht alles tut, um den aufgestauten Konversationsdurst zu mildern). Auf jeden Fall ergibt sich aus meinen Annäherungsversuchen eine lebhafte Diskussion, die mich irgendwie an unseren Abstimmungssonntag erinnert. Nichts ist klar, es gibt immer mehrere Wahrheiten, alles eine Frage der Optik.

Manchmal liegen umgestürzte Bäume quer über den Weg, man fühlt sich beinahe in einem urtümlichen Wald. Eigentlich wäre der Weg eine Freude, wenn ich nicht immer wieder von steilen Treppen geärgert würde. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Stufen, die mit hölzernen Balken quer über den Weg gesichert sind. Wenn man nicht höllisch aufpasst, könnte der nächste Stolperer das Ende der Wanderung bedeuten. Von den malträtierten Knien mal völlig abgesehen.

 

 fallen tree over the path

I hate these bloody stairs

Ich verabschiede die hoffentlich letzte Treppe mit einem bösen Schimpfwort (ich bin sicher nicht der einzige, der hier seinen Frust loswerden muss) und wende mich dem Bach zu, von dem ich fälschlicherweise annehme, dass es sich um die Kleine Emme handelt. Ein Mann, der gleichzeitig über die Brücke geht, wirft mir einen ziemlich mitleidigen Blick zu, als ich ihn nach dem Bach frage. „Die kleine Emme? Sicher nicht!“ Und geht weiter.

Natürlich hat er recht. Es ist bestenfalls ein mickriger kleiner Zufluss zur Kleinen Emme, die erst nach einigen Kilometern auftauchen wird. Ein weiteres Hurra für meine Orientierungstalente. Aber die Schlucht sieht irgendwie schon eindrücklich aus, auch wenn es nur ein kleiner Bach ist.

 

Even a small waterfall

 

Wiedersehen mit einem alten Freund

Während ich oberhalb eines Abhangs, mit hohem, sich im Wind duckendem Gras bewachsen, eine Verschnaufpause einlege, gönne ich mir die letzten Einsiedler Schafböcke, und bin eigentlich ganz zufrieden mit mir. Ganze Heerscharen von Spaziergängern – Wanderer wäre in diesem Zusammenhang eine zu nette Bezeichnung – marschieren an meinem okkupierten Sitzbank vorbei und werfen mir neidische Blicke zu. Tja, first come, first serve.

Dann aber erwartet mich eine Überraschung. Ich habe eben frohgemut den Hang hinter mir gelassen, da steht doch tatsächlich ein alter Freund aus Mittelschulzeit vor mir und grinst über das ganze Gesicht. Meine Wanderung ist offenbar nicht unbemerkt geblieben.

Und so gehe ich kurze Zeit später der Kleinen Emme entlang (diesmal die richtige) zum ersten Mal in Begleitung. Es gibt viel zu erzählen, auch er ein praktizierender Traveler zu Fuss oder mit dem Fahrrad, der die halbe Welt befahren oder erwandert hat.

Irgendwie wandert man zu zweit in einem anderen Rhythmus, sehr gemächlich und entspannt, dem wunderbaren Pfad dem Fluss entlang und vergisst beinahe alles ringsherum. Man schwatzt und geht und sitzt und schwatzt weiter. Grossartig. Ein wirklich willkommene Abwechslung nach all den Stunden und Tagen allein auf weiter Flur.

Und irgendwann sind wir plötzlich in Malters, genehmigen uns ein kühles Bier, bevor sich mein Freund wieder auf die Heimreise macht.

 

Song zum Thema:  Lynyrd Skynyrd – Free Bird (1977 Live Oakland Coliseum Stadium)

Und hier geht der Trip weiter … nach Wolhusen (und wieder allein)

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der blaueste Himmel

Also dann, nach dem kurzen Unterbruch geht die Reise weiter. Ich bin schon früh unterwegs, und treffe kurz vor halb zehn in Meierskappel ein, und sage hallo zum ersten 3-er Wegweiser. Ich komme mir vor, als träfe ich einen alten Freund.

Der Weg, wie beim gestrigen Unterbruch erklärt, ist um ca. 10 Kilometer kürzer, also wartet auf mich ein grossartiger Tag bei wiederum besten Wetter.

Und hier die geänderten Daten:

 

From Meierskappel to Lucerne

 

Der blaueste Himmel aller Zeiten

Es geht so weiter, wie ich vorgestern aufgehört habe – mit blauem Himmel und angenehmen Temperaturen. Meierskappel ist mir, wie viele andere Dörfer auf dem Weg, völlig unbekannt. Offenbar hat es Bestrebungen gegeben, zum nahen Kanton Zug zu wechseln. Man rate warum. Natürlich wegen den viel tieferen Steuern.

Der Weg geht kurz nach der Bushaltestelle ins Grüne, hinauf auf den langen Hügelzug, entlang blühender Wiesen und Gärten. Das Tal bleibt unter mir zurück, irgendwo da unten befindet sich Kollers Hoftreff im Feissenacher. Das wäre eine weitere Übernachtung auf einem Bauernhof gewesen, nicht im Stroh wie in Hinterwiden. Das bereue ich etwas, allerdings hätte ich anstatt auf diesen grossartigen Hügeln die Strasse nach Udligenswil nehmen müssen.

Alles gut.

 

Blooming flowers anlong the path

 

St. Michaelskreuz und -Kapelle

Einer der zu kreuzenden Bauernhöfe hat offenbar genug gehabt von all den Wanderern und Bikern, denn die Strecke führte ursprünglich beinahe durch die Küche des Anwesens. Jetzt geht der Weg in achtungsvoller Distanz am Hof vorbei und steigt dann eine steile Wiese hinauf. Um die Anstrengung etwas zu mildern, hat der Bauer – vielleicht mit schlechtem Gewissen – eine Art Finnenbahn mit Holzschnitzeln angelegt. Allerdings macht das den Weg kein bisschen weniger steil. Mein wiederum schwerer Rucksack macht sich heute Morgen nicht zum ersten Mal  bemerkbar, und ich schnaufe oben an der Strasse wie ein löchriger Blasbalg.

Ein Biker erklimmt, man kann es nicht anders sagen, den Abhang noch ein bisschen schnaufender als ich. Er ist nicht mehr der jüngste, und sein Gesicht hat eine ungesunde rote Farbe angenommen. „Geht’s?“ frage ich boshaft und kann ein Grinsen nicht verbergen. Ein kleines bisschen Rache an all den Bikern, die uns Wanderer immer mal wieder nerven. Der Biker, nachdem er sich erholt hat, entpuppt sich als sehr angenehmer Gesprächspartner, wir sind uns einig, dass solche Tage, trotz Finnenbahn, ein Geschenk sind.

Kurz danach geht es dann dem topographischen Höhepunkt des Tages entgegen, dem St. Michaelskreuz mit den zugehörigen Kapelle (oder umgekehrt). Und jetzt sind sie plötzlich alle da, die Biker und Wanderer (oder bin ich trotzdem der einzige?) von allen Seiten heranradelnd und wandernd, alle offenbar mit dem Ziel St. Michael.

Es ist verständlich, denn die Aussicht auf das darunter liegende Zugerland und den Zuger- und Vierwaldstättersee ist atemberaubend. Wir befinden uns auf knapp 800 Meter, aber man kriegt den Eindruck, viel höher zu sein. Kein Wunder zählt diese Kapelle zu den beliebtesten Hochzeitsorten. Was kann noch passieren, wenn der Bund der Ehe an solch einmaliger Aussicht geschlossen werden kann? Na ja, lassen wir das …

 

Sz. Michael's Chapel

... and the St. Michael's Cross

View down to the lakes

Ein paar Biker machen das Gleiche wie ich, bewundern die Aussicht, photographieren, nehmen einen Schluck Wasser und gehen oder fahren weiter, dem nächsten Abhang, der nächsten Kurve entgegen. Aber dahinter, weit weg am Horizont, grüssen die weiss verschneiten Berge, wie eine krönende Umrandung des Bildes.

 

Märchenland

Wenn ich irgendjemandem einen Abschnitt empfehlen müsste, wäre es bestimmt diese Etappe. Ich muss es immer wieder sagen – der langsame Gang durch diese Wiesen und Felder hat nicht mehr viel mit Wandern zu tun, es ist eine Art traumhaftes Schweben, man fühlt sich leicht, schwerelos. Das erinnert mich an etwas. Ich zitiere ausnahmsweise aus „Eine Schlange in der Dunkelheit“:

Etwas Leichtes lag in der Luft, etwas Schwebendes, Schwereloses. Es schien, als hätte die Stadt an diesem Tag ihr schönstes Antlitz aufgesetzt. Im Licht, das in verschwenderischer Fülle aus dem Himmel strömte, schimmerte sie wie ein Juwel inmitten der Einöde.

Genauso kommt es mir heute vor.

 

The trail along meadows and trees

... and sometimes some shady trees

 

Vancouver 8323 Kilometer

Der heutige Weg ist nicht nur auf seine Weise grossartig, es kommt mir vor, als hätte die ganze Welt ein anderes Gesicht aufgesetzt. Vor einem Bauernhof – von denen es viele gibt, einige ganz besonders schöne Beispiele – steht ein nicht alltäglicher Wegweiser. Einer, den ich am wenigsten erwartet habe. Vor allem hier.

Die Richtungsweiser deuten auf Kerzers, 144 km, nicht allzu weit, oder Rom, 828 km, schon etwas weiter vom Schuss, dann Berlin, 903 km, und eben Vancouver, 8323 km. Vor allem aber weisen sie auf den Bönihof, der sozusagen um die Ecke liegt.

Ein Bauernhof mit Fernweh?

 

a very special signpost

 

The Sound of Switzerland

Etwas weiter oben, eine Herde Kühe, so wie es sein muss – friedlich käuend, grasend, muhend. Die Kuhglocken, vielleicht das treffendste Geräusch, das die Schweiz ausmacht. Da kommt mir doch gleich eine weitere Textpassage in den Sinn, Autor unbekannt:

Inmitten der erschöpften Passagiere, denen der anstrengende Flug in den Gesichtern geschrieben stand, starrte sie schweigend auf den Boden, als plötzlich Kuhglockengebimmel und mehrstimmiges Muhen aus den Lautsprechern erklang. Zu ihrer Überraschung merkte sie plötzlich, dass sie sich freute heimzukommen, in das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen war, aber auch das Land, dessen Enge sie immer wieder entflohen war. Das war ihr noch nie vorher passiert.

Offenbar gingen ihre Wurzeln tiefer, als sie bisher angenommen hatte.

 

Manchmal geht es tief in den Wald hinein, Hobbit-Land. Man wäre nicht überrascht, wenn plötzlich Bilbo oder Frodo oder Sam und Pippin hinter den Bäumen hervortreten würden.

Oder sind es Orks, die hinter den Gebüschen lauern, Uruk-Hai, vom bösen Zauberer Saruman gezüchtet? Aber nein, da sind Wegweiser, kaum bekannt in Mittelerde, und ein Biker, der ganz und gar nicht aussieht wie ein Ork.

 

Deep in teh Forest

Just trees and shadows

Vielleicht gehört ja auch Hühnergegacker zum Sound of Switzerland. Einige haben sich in den Schatten geflüchtet, die Hitze steht nun senkrecht in der Luft.

 

Chicken fleing the heat

 

Es wird gebauert und zugeschnappt

Klar, dass die Bauern das schöne Wetter dazu benutzen, ihre Wiesen zu mähen (endlich), das trockene Heu einzusammeln, für den Winter vorzusorgen. Man könnte ihnen ewig zusehen, wie sie ratternd und dröhnend auf ihren Traktoren mit angehängtem Heuwender ihre Wege abfahren.

Vor hundert Jahren hätte es nicht viel anders ausgesehen. Anstelle des Traktors vielleicht ein Pferdefuhrwerk, anstelle des Heuwenders viele emsige Arme und Hände.

 

Minding the harvest

Und die Bauernhöfe, nicht alle, aber die meisten, entsprechen bereits der Luzerner Architektur. Anders als in Appenzell, anders als sie im Emmental aussehen werden.

Eine alte Frau beugt sich über ihren Gemüsegarten, da muss man stehen bleiben, ein paar Worte wechseln, ganz banal, übers Wetter, die Ernte, das Gemüse. Mehr braucht es nicht.

Der Hofhund allerdings, natürlich ein hinterhältiger Appenzeller, findet meine ausgestreckte Hand, um wie immer einen freundlichen Kontakt herzustellen, überhaupt nicht lustig und schnappt zu. Ich habe Glück, seine Zähne streifen meine Hand bloss, aber ich bin doch etwas irritiert, werde ich als alter Hundefreund doch meistens sehr begeistert begrüsst.

Na ja, jeder kann mal einen schlechten Tag haben …

 

those beautiful farm houses

 

Udligenswil – Adligenswil

Keine Ahnung, wer diese seltsamen Ortsnamen, die sich lediglich um den Anfangsvokal unterscheiden, erfunden hat. Eines der ewigen Mysterien des Universums.

Auf jeden Fall weist der Weg etwas später quer durch Udligenswil, wie der Fast-Namensvetter weiter westlich ein Wurmvorsatz der Agglomeration Luzern. Man lebt auf dem Land und gleichzeitig in der Stadt. Na ja, ist ja in meinem Limmattal nicht viel anders.

Auf jeden Fall beeile ich mich, der zubetonierten Umgebung möglichst schnell wieder zu entfliehen, das Ziel Luzern ist nicht mehr weit.

 

Luzern

Es gilt zwar noch, ein paar Kilometer einem Golfplatz entlang zu gehen, aber dann liegt der See unter mir. Die Stadt nimmt mich in Empfang, mit Lärm und Hektik, ich muss mich erst wieder an Lichtsignale und Kinderwagen gewöhnen.

 

Lake Vierwaldstätter

Der Weg auf dem Uferweg in Richtung des Zentrums ist die Krönung der heutigen Tour. Ich gehe langsam, wie immer, wenn ich erstens müde bin und meine Beine schmerzen, vor allem aber auch, weil ich es geniessen will.

 

Back in civilisation

 

Abendessen in der Stadt

Ich bin mit einem alten Freund zum Abendessen verabredet. Man sieht sich ja durch diese blöde Pandemie nur noch selten, also muss man die Gelegenheit beim Schopf packen, wenn man zufälligerweise hier ist. Ob ich allerdings nochmals zu Fuss in Luzern ankomme, ist äusserst zweifelhaft.

Anyway, es gibt wie immer viel zu schwatzen. Der Abend ist warm, so wie er sein müsste, aber dieses Jahr ist offenbar vieles anders als sonst. Geniessen wir es, solange es dauert …

 

Song zum Thema:  AC/DC – Hells Bells (anstelle von Cow Bells)

Und hier geht der Trip weiter … nach Malters

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Fehlende Kilometer

Die Lücke im Plan

Diese anderthalb Etappen fehlen, deshalb nur ein paar kurze Bemerkungen zu den Details, die sonst vergessen gehen.

So sieht der Plan gemäss Führer aus:

Unterägeri – Zug

 

From Unterägeri to Zug

Zug – Luzern

 

From Zug to Luzerne

Insgesamt also eine ziemlich bescheuerte Etappeneinteilung. Eine Etappe etwas über 3 Stunden, die folgende über 7 Stunden. Keine Ahnung, was sich die Planer dabei gedacht haben.

 

Von Unterägeri nach Zug

Landschaftlich sehr reizvolle Etappe im Herzen des Zugerlandes. Über Hochmoore, an unzähligen Kirschbäumen (Zuger Kirschtorte!), dem Aussichtspunkt beim Alprestaurant Brunegg und der schmucken Kapelle St. Verena vorbei gelangt man nach Zug.

Im Führer werden etwas ausführlichere Informationen geboten.

Von Unterägeri nach Zug gibt es eine Fülle von Routen. Viele  führm über den Zugerberg und setzen dabei vor allem auf die Aussicht auf den Zugersee. Dieser Versuchung widersteht die Wanderland-Route – zu Recht.

Denn die Aussicht ist das eine, und diese bleibt einem auch auf dieser Route nicht verwehrt, wenn sie auch nicht einen auf Schritt und Tritt verfolgt. Das andere sind aber natürliche und landschaftliche Reize. Mit denen geizt diese Etappe nicht. Weder am Anfang, wo Hochmoorgebiete sich abwechseln mit lieblichen Auenlandschaften, noch auf dem Höhepunkt bei Alprestaurant Brunegg, wo nach dem frischen Getränk im lauschigen Garten der Blick sich weitet, über Zug und Baar hinaus bis weit ins Züribiet.

Und erst recht nicht im langsamen Abstieg nach Zug, wo im Frühling unverkennbar die berühmten Zuger Kirschen blühen. Die Kirschen also, die Eingang finden in die Zuger Kirschtorte – und diese hat den Namen Zug mehr als in alle Welt hinausgetragen als manche milliardenschwere Firma, die hier ihren Sitz hat. Wer diese Etappe gewandert ist, weiss, dass Zug mehr ist als eine Finanzmetropole mit tiefen Steuern und hohen Wohnungsmieten.

Zug hat auch ein Hinterland – das Zugerland eben. Und dieses Hinterland ist so bäuerlich und ursprünglich geblieben wie andere Voralpenregionen auch. Ein Hinterland, das es wert ist, erwandert zu werden.

Könnte also gut sein, dass ich hier was verpasst habe. Mal sehen, kann man ja bei Gelegenheit mal nachholen …

 

Von Zug nach Luzern

Wie gesagt, diese Etappe wäre nach Plan die längste des gesamten Weges gewesen. Immerhin kenne ich die Strecke von Zug nach Immensee; davon entsprechen rund 90% dem Panoramaweg.

Ich kann mich gut an diesen wunderbar sonnigen Sonntag im Juni 2017 erinnern. Ein in allen Tönen von Blau schimmernder Zugersee, ein lindes Lüftchen um die Nase, sonntägliche Ruhe in der Dörfern, einfach eine Lust.

Allerdings ist mir auch geblieben, dass auf dem ganzen Weg dem See entlang kein einziges Restaurant geöffnet war. Doch, ein einziges, das ich mit grossem Durst und müden Beinen erwartungsvoll betreten wollte, aber schon am Eingang ziemlich unwirsch abgewiesen wurde. „Geschlossene Gesellschaft!“

Braucht man da noch etwas zur allgemeinen Kundenorientierung der hiesigen Gastronomie beizufügen? Hauptsache, man kriegt bei Problemen Unterstützung vom Bund …

 

 

Song zum Thema:  keine Etappe – kein Song

Aber hier geht der Alpenpanoramaweg weiter … nach Luzern

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der schönste Tag

Wer hätte gedacht, dass nach dem gestrigen Regen einer der schönsten Tage des gesamten Trips auf mich wartet?

Es gibt nichts Besseres als positive Überraschungen.

Der Tagesplan sieht tatsächlich eine wunderbare Route vor, für einmal ganz in meinem Sinn:

 

From Einsiedeln to Unterägeri

 

Die Sache mit dem Morgenessen

Ich bin erstaunlich früh wach, werde mir als erstes ein Restaurant im Freien für mein Frühstück suchen, denn mein Zimmer bietet nichts dergleichen. Auf dem Weg nach unten treffe ich auf zwei sportlich aussehende Herren, die offenbar zu einer Gruppe Wanderer aus Italien gehören. Sie treten vor mir aus dem Lift und steuern auf ein reichhaltiges Frühstücksbuffet zu.

Nun gut, ich rede mir ein, dass meine Absichten redlich waren, aber wie man weiss, steckt der Teufel voller Hinterlist. Alles deutet doch irgendwie darauf hin, dass mich mein heutiges Karma in genau diesen Frühstücksraum mit genau diesem wunderbaren Frühstücksbuffet geführt hat. Es gibt keine Zufälle, solche schon gar nicht, also muss dem Willen des Universums Genüge getan werden.

Und so sitze ich mit einem ganz klein wenig schlechten Gewissen vor meinem Teller, daneben Kaffee und Orangensaft, während mir die verantwortliche Dame des Hauses zunickt und guten Appetit wünscht.

Ich bin sicher, dass mir heute irgendeine dumme Sache passieren wird. Wie sagt man so schön, Gott straft sofort.

 

Pilgerwege

Die Tour führt von Einsiedeln auf einem alten Pilgerweg über den Chatzenstrick zum Hochmoor von Rothenthurm und über den Raten zum Aegerisee.

So verspricht es der Führer, ob es allerdings ein Pilgerweg ist, weiss ich nicht, aber es gibt ja ein Netz von solchen Wegen, die meisten im Zusammenhang mit dem Jakobsweg, die kreuz und quer durch die Schweiz führen.

Am Ende gelangt man, wenn Gott und die Muskeln mitgemacht haben, nach Santiago de Compostela in Galizien. Vor vielen Jahren auch einer meiner Wanderträume, aber seit der Jakobsweg einen gewaltigen Hype erfahren hat, mit Millionen von Pilgern, vor allem auf dem Abschnitt über Nordspanien, bin ich davon abgekommen.

Wer sich mit ein paar sehr unterhaltsamen und witzigen Erfahrungen informieren will, der liest am besten den Millionenseller von Hape Kerkeling Ich bin dann mal weg.

Hape Kerkeling, Deutschlands vielseitigster TV-Entertainer, lief zu Fuß zum Grab des heiligen Jakob – über 600 Kilometer durch Spanien bis nach Santiago de Compostela – und erlebte die reinigende Kraft der Pilgerreise. Ein außergewöhnliches Buch voller Witz, Weisheit und Wärme, ein ehrlicher Bericht über die Suche nach Gott und sich selbst und den unschätzbaren Wert des Wanderns.

Es ist ein sonniger Junimorgen, als Hape Kerkeling endlich seinen inneren Schweinehund besiegt und in St.-Jean-Pied-de-Port aufbricht. Sechs Wochen liegen vor ihm, allein mit sich und seinem elf Kilo schweren Rucksack. Er marschiert über die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, durch das Baskenland, Navarra und Rioja bis nach Galicien zum Grab des heiligen Jakob – seit über tausend Jahren Ziel für Gläubige aus der ganzen Welt. Nach 35 Tagen erreicht er erschöpft sein Ziel – ziemlich geläutert und mit sich selbst im Reinen.

 

Über den Katzenstrick

Man wundert sich immer wieder über seltsame Namen und Bezeichnungen. Katzenstrick? Ich kann mir bei diesem Namen weder bezüglich Katze noch Strick etwas vorstellen, aber sei’s drum, der zu erklimmende Hügel wird auf jeden Fall Katzenstrick genannt.

Kurz nach Einsiedeln führt der Weg zwischen Wiesen hindurch einem bewaldeten Hang entgegen, während Kuhglocken den frohgemuten Wanderer begleiten. Denn frohgemut darf ich mich heute nennen. der Himmel ist so blau wie er nur sein kann, ein paar niedliche Wolken kleben irgendwo im Norden fest, es ist zum ersten Mal so richtig warm. Zeit für einen Tenüwechsel, jetzt sind endlich wieder kurze Hosen und T-Shirt angesagt.

Ich kann gar nicht anders als langsam gehen, denn der Duft von frisch gemähtem Gras wedelt um meine Nase, nur das gelegentliche Rattern eines Traktors durchbricht die morgendliche Stille. Vorbei an mehreren Bauernhöfen steige ich den Katzenstrick hinauf, ein paar Kinder überholen mich lachend. Offenbar beurteilen sie meinen Gang als den eines gebrechlichen alten Kauzes.

Na ja, so unrecht haben sie nicht.

 

Cows accompany me on the way to the Katzenstrick

 

Eine besondere Schule

Eines der Gebäude ganz oben scheint eine Schule zu sein. Die Kinder werden von zwei Erwachsenen begrüsst, offenbar gehen sie hier in die Schule. Sie nennt sich CasaVitura und muss etwas ganz Besonderes sein. Neugierig wie ich bin, erkundige ich bei den beiden Herren, offenbar Lehrer, etwas genauer über dieses Etablissement.

Es handelt sich um ein alternatives Bildungsangebot zur Volksschule, vorerst mit einem Kindergarten und einer Primarschule. Später soll auch eine Oberstufe dazukommen. Das Ziel ist, die Kinder in ihren Fähigkeiten zu stärken, indem ihre Wissbegierde, ihre Entdeckungsfreude und Begeisterungsfähigkeit mithilfe des natürlichen Lernens gestärkt wird.

Natürliches Lernen ist kompetenzorientiert, selbstorganisiert, geschieht ohne strikte Stundenpläne und verzichtet auf Hausaufgaben und Noten. In einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und des Vertrauens lernen die Kinder, Entscheidungen selbst zu treffen und Aufgaben selbstwirksam zu lösen. Die altersdurchmischte Lerngruppe entspricht dem Bedürfnis, voneinander lernen zu wollen, und fördert das soziale Miteinander. Jedes Kind wird in seiner Herkunft respektiert. Die CasaVitura setzt sich für ein friedvolles Miteinander ein und ist politisch und konfessionell neutral (siehe oben stehenden Link).

Beeindruckt durch den pädagogischen Ansatz und die Ernsthaftigkeit und Überzeugung der beiden Lehrer, bin ich nach einer halben Stunde immer noch am Diskutieren, und habe offenbar vergessen, dass der Weg auch heute weit ist.

 

Das Rothenthurm Hochmoor – Gerettetes Paradies

Vom Katzenstrick führt ein breiter Weg hinunter ins Tal, wo das berühmteste Hochmoor der Schweiz liegt. In der Talebene überquert man Hauptstrasse und Bahn und gelangt schliesslich an einem Pferdegestüt vorbei zum Hochmoor.

 

Way down to the Moor

A bit cutious, a bit anxious

Mutter und Fohlen sind zwar neugierig, treten vorsichtig näher, beschnuppern den komischen Kerl und drehen wieder ab, ziemlich unbeeindruckt, wie mir scheint.

Ich kann mich an die 80-er Jahre erinnern, an die hochemotionale Auseinandersetzung zwischen der Armee und deren zumeist rechtsgerichteten Nein-Sagern sowie den Landschaftsschützern, die die Initiave unterstützten. Man kann sich heute, wo sich viele gesellschaftliche Parameter geändert haben, kaum mehr vorstellen, dass die Armee ausgerechnet auf diesem noch unberührten und selten gewordenen Hochmoor einen Panzerübungsplatz bauen wollte.

Einen Panzer Übungsplatz! Ausgerechnet!

Wer mich kennt, weiss um meine Abneigung gegen das Militär, aber auch weniger militante Landsleute konnten mit der hirnverbrannten und schon damals völlig weltfremden Idee nichts anfangen. Und so führte die damalige Volksinitiave zum Schutz der Moorlandschaften zu einem unerwarteten Erfolg, ein erstes Menetekel an der Wand, das auf die zukünftigen Entwicklungen in der Gesellschaft hindeutete.

 

Moor at Rothenturm

Das Moor darf zwar durchquert werden, allerdings nicht in seiner speziell geschützten Kernzone. Trotzdem erhält der Wanderer einen beschränkten, aber nicht weniger eindrücklichen Einblick in die wilde Pflanzenlandschaft. Es bietet nicht nur Pflanzen, sondern auch Tieren einen geschützten Lebensraum.

Ich zitiere aus folgendem Link:

Im Wechsel der Jahreszeiten spielt das trogförmige Hochtal mit den Farben. Im Frühling schmückt es sich mit einem lila Schleier aus Mehlprimeln. Zitronen-, Segel- und Perlmuttfalter lassen sein Sommerkleid bunt flattern. An kühlen Herbstmorgen trägt es ein Diadem aus Tautropfen. Und im Winter streicheln oft Sonnenstrahlen über die weisse Decke, während im Unterland der Nebel drückt. Bergföhren, Fichten, Gehölz, Auen und die in Mäandern fliessende Biber verstärken den Reiz der Landschaft.

 

protected high moor

The path through the moor

 

Für einmal nicht der einzige

Es wird nun heiss, zum ersten Mal seit Tagen rinnt der Schweiss von der Stirn. Auf dem Aufstieg zum Raten ist niemand zu sehen, von den obligaten Kühen abgesehen. Je weiter man nach oben kommt, nimmt die durchschnittliche Anzahl Personen pro Quadratmeter rapide zu.

Ganze Völkerwanderungen sind unterwegs, die Grillplätze sind voll belegt, Kindergeschrei, Hundegebell, Rauch, Geruch von Würsten und anderem. Sehr schön. Es gibt zwar keine freien Plätze mehr auf den zahlreichen Sitzbänken entlang der Strecke, aber ich geniesse die Gesellschaft. Manch komischer Blick folgt mir, ich spüre die Fragen, die Vermutungen. Egal.

 

On the Raten

Manchmal ist der Weg schnurgerade, dann bin ich plötzlich wieder allein auf weiter Flur, bis mich das Summen eines e-Bikes, im Volksmund „Stromer“ genannt, aufschreckt. Ich werde mich hüten, meine Meinung zu diesen Vehikeln preiszugeben. Ärger wäre mir gewiss.

 

straight ahead

Manchmal muss man einfach Geduld haben, vor allem dann, wenn die Rast längst überfällig ist, und weit und breit keine Sitzbank oder was Vergleichbares in Sicht ist. Das, was dann allerdings im Schatten eines Baumes vor einem kleinen Häuschen auftaucht, ist so ungefähr die State-of-the-Art bezüglich Sitzgelegenheiten für müde Wanderer.

Es kommt mir beinahe so vor, als hätte das Universum zusätzlich zum erschlichenen Gratis-Frühstück noch weitere Highlights im Köcher. Mir soll’s recht sein, aber so ganz traue ich der Geschichte nicht. Auf jeden Fall begehe ich nun eine ausgedehnte Rast, strecke die Beine, schaue mich um, keine Menschenseele weit und breit, der ich einen Platz neben mir hätte anbieten können.

 

a very welcome bench

 

Im Gedenken an Patrick Leigh Fermor

Wenn man wie ich zwischen Bächen und Wiesen und Wälder wandert, taucht irgendwann der Name Patrick Leigh Fermor auf und seine Wanderung durch das alte Europa von 1933. Es ist sozusagen die Ur-Wanderbibel, Bücher, die jeder Wanderer unbedingt lesen sollte. Ich habe ihn bereits in meinen Laosbüchern erwähnt.

Und was für eine Wanderung das war.

Fermor war gerade mal 18 Jahre alt, als er sich 1933 entschloss, durch Europa zu wandern. Er nahm ein Schiff zur obersten Spitze von Holland und lief los, Ziel Istanbul, damals noch Konstantinopel genannt. Man muss sich vorstellen, dass dieses Jahr noch das alte Europa war, das Europa vor dem unsäglichen Krieg, der ein paar Jahre später losbrechen sollte. Die Anzeichen für die kommende Katastrophe sind nicht zu übersehen, und so wandert er durch Länder, deren Verfallsdatum bereits geschrieben steht.

Aber nicht nur das. Zu dieser Zeit gab es weder geeignete Wanderausrüstung noch Wege, geschweige denn Wegweiser. Der junge Mann musste sich den Weg suchen, aber das störte ihn nicht im Geringsten. Während der ganzen Strecke schrieb er Tagebuch, nur um dieses irgendwo im Süden zu verlieren, was ihn zwang, die Notizen aus dem Kopf zu reaktivieren.

18 Jahre alt ist Patrick Leigh Fermor, als er sich aufmacht, Europa zu erkunden. Sein Ziel vor Augen, er will nach Konstantinopel, wandert er zunächst von Hoek van Holland rheinaufwärts. Tief hinein nach Deutschland geht die winterliche Reise, durch Wiesen und Wälder, verschneite Städte, die Donau entlang, nach Wien und Prag, bis in die ungarischen Marschen. Es ist das Jahr von Hitlers Machtergreifung. In seiner poetischen und präzisen Sprache lässt Patrick Leigh Fermor vor unserem inneren Auge das alte Europa erstehen, das wenige Jahre später in Schutt und Asche versinken wird.

Im zweiten Teil seines Reiseberichts nimmt Patrick Leigh Fermor den Leser erneut mit in eine fremde, faszinierende und heute verschwundene Welt. Wir treffen ihn wieder 1934 in Budapest, wo er Bälle und Kaffeehäuser besucht. Auf einem geliehenen Pferd durchquert er die ungarische Tiefebene mit ihren Hirten und Ziehbrunnen, verweilt auf Landgütern, in denen die Zeit aufhört zu existieren, um dann weiterzuziehen bis in die siebenbürgischen Karpaten und zum Eisernen Tor, dem Ende Mitteleuropas.

Interessant ist das weitere Leben Fermors. Im 2. Weltkrieg kämpfte er auf der Seite von Griechenland und wird bis heute als Nationalheld verehrt. Er lebte fast sein ganzes Leben auf Kreta und starb 2011 mit beinahe hundert Jahren.

Eine sehr empfehlenswerte Wanderliteratur, ein grossartiges Leseerlebnis.

 

Wälder und manchmal Wasser

Ich bin froh, dass es nach all den sonnenbeschienenen Wiesen und Abhängen nun in den Wald hineingeht. Es ist, als würde man in eine andere Welt eintauchen, in eine stille, einfache Welt, die nichts bietet ausser Ruhe und Kraft. Oder bilde ich mir das nur ein, dass man automatisch durchatmet, die Brust sich weitet, der Atem flacher wird, der Geist von neuem erwacht? Die romantische Liebe der Deutschen zu ihren Wäldern hat viel zu ihrer Kultur beigetragen, warum das ausgerechnet dort so ist, weiss ich nicht.

Wenn man allerdings zum Beispiel an England denkt, wo die einstigen dichten Wälder bis auf einen kläglichen Rest verschwunden sind, wird man schon nachdenklich. Hat die Beziehung zu den Wäldern ihren Ursprung in der Kultur eines Landes? Oder genau umgekehrt?

Wie bereits erwähnt, beim Wandern hat man Zeit um nachzudenken. Ob die diesbezüglichen Ergebnisse in jedem Fall wertvoll sind, wage ich gelegentlich zu bezweifeln.

 

Into the forest again

 

Dem Ägerisee entgegen

Morgen lege ich einen 1-tägigen Break ein, meine liebe Tante Hildy wird beerdigt. Ich muss also heute Abend nach Hause fahren und werde den Trail übermorgen Samstag ab Meierskappel weiterführen. Der Abschnitt von Unterägeri bis Meierskappel fehlt dann in meinem Reisebericht, aber ich werde versuchen, doch ein paar zwar nicht selbst erlebte oder erwanderte Infos einzubauen.

Der ursprüngliche Plan sah vor, die heutige Nacht auf dem Bauernhof Hinterwiden zu verbringen und zwar auf einem Strohlager. Keine Ahnung, was mich zu dieser ziemlich hirnverbrannten Idee gebracht hat, wahrscheinlich eine bessere Einteilung der Etappen von Unterägeri bis Luzern. Irgendwann, schon beinahe am Tagesziel, liegt zu meiner Rechten ein stattlicher Bauernhof, wahrscheinlich Hinterwiden. Vielleicht habe ich doch was verpasst.

Anyway, der Weg über die hügelige Landschaft über den Raten, den Gottschalkenberg und die Brusthöchi, abwechselnd durch dichten Wald, dann wieder entlang Wiesen, wo das Heu duftet, oder die Höfe, wo die Bauern emsig daran sind, die verlorene regnerische Zeit von letzter Woche nachzuholen. Es dröhnt an allen Ecken und Enden, Traktoren und Maschinen, deren Namen mir nicht geläufig sind, die aber einen erheblichen Beitrag zur Effizienzsteigerung beitragen.

Ich bin selten in solch glücklichem Zustand gewandert. Einmal mehr taucht der Gedanke auf, wie schon früher auf langen Busreisen, dass es nie aufhören möge.

Aber dann taucht er am Horizont auf, der Ägerisee, von weitem ein harmloser Tümpel, dessen Oberfläche das helle Blau des Himmels spiegelt. Unterägeri kommt näher, eines der Paradiese für wohlhabende Expats, eines dieser typisch schweizerischen Steuerparadiese.

 

The Ägerisee from afar

Der Blick auf die SBB-App zeigt mir, dass der nächste Bus nach Zug in einer halben Stunde abfährt. Es heisst also pressieren, steile Asphaltstrassen hinunter ins Dorf, und tatsächlich, ich erreiche die Bushaltestelle in dem Moment, als der Bus einfährt.

Und dann bin ich zurück, wenigstens nur temporär, in der Welt und fühle mich seltsam ungeeignet, beinahe fehl am Platz. Aber so muss es wohl sein …

 

Song zum Thema:  The Parting Gifts – Keep Walking

Und hier geht der Trip ausnahmsweise nicht weiter, aber man sehe selbst …

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die schwarze Madonna

In der Nacht – wen wundert’s, dass der Regen wieder mal wie mit Pferdehufen über das Dach galloppiert – entscheide ich mich endgültig für eine alternative Route über die Sattelegg.

Ich werde das Postauto bis zur Abzweigung zum Pass nehmen und dann hoffentlich auf einen geeigneten Wanderweg treffen.

Der eigentliche Plan für heute hätte etwas anders ausgesehen. Ein weiterer Tag mit einer Strecke, die irgendwie seltsam angelegt ist. Das Stöcklichrüz in allen Ehren, aber nochmals viele Kilometer geradeaus bis Lachen? Verstehe ich nicht.

 

From Siebnen to Einsiedeln

Die alternative Route nach Einsiedeln sieht etwas anders aus, ist aber nicht weniger attraktiv:

 

My way from Siebnen to Einsiedeln
Sieht etwas anders aus, aber genauso schön

 

Und doch ein Wanderweg

Nach einem Frühstück in der Bäckerei (meine Pension hat kein derartiges offeriert) im Dorf, fährt das Postauto pünktlich um 9.34 ab. Der Chauffeur hat mir versprochen, mir zu melden, wenn die Strasse zur Sattelegg abzweigt und ich aussteigen muss.

Ein sehr netter Mensch, der sich nach meiner Route erkundigt und versichert, dass es sehr wohl einen Wanderweg über den Pass gibt. Das sind doch schon mal positive Nachrichten. Die Fahrt durch die vielen engen Kurven ist mir bekannt, nicht lange her seit meiner letzten Schneeschuhwanderung da oben.

Meine Füsse versinken im Morast, die Gewitter der letzten Tage haben Spuren hinterlassen. Nach nicht mal 5 Minuten stehe ich zwar auf einem veritablen Wanderweg, dieser gleicht aber eher einem ausgewaschenen Bachbett als einem Pfad.

Egal.

Immerhin werde ich von ein paar Ziegen begrüsst, sie sind offenbar ganz glücklich über die Abwechslung.

 

Argwöhnische Blicke und böse Bemerkungen

Die Strasse ist seltsam still, ich höre keine Motorengeräusche, nur von weiter oben dringt der Lärm von Baumaschinen durch den Vormittag. Es macht den Anschein, als wäre die Strasse für Fahrzeuge gesperrt. Soll mir recht sein.

Weiter oben werden die Geräusche lauter, und tatsächlich, eine Gruppe kräftiger Männer ist daran, die Strasse mit einem neuen Belag zu versehen. Ich, freundlich wie immer, nicke ihnen zu und grüsse, und erhalte im Gegenzug ein paar selten dämliche Blicke.

Sie werfen sich Blicke zu, ich kann beinahe erkennen, was sich in ihren kleinen beschränkten Hirnwindungen abspielt. Ungefähr das gleiche wie gestern, ebenfalls an einer Baustelle, mit dem bezeichnenden Inhalt: „Nun kriechen sie wieder aus den Löchern, der Regen hat aufgehört.“

Irgendwie ist es tröstlich, dass in diesem SVP-Kanton offenbar nicht nur die Ausländer verachtet und gehasst werden, sondern generell jedermann, der nicht zu ihnen gehört. Wenig überraschend, dass im Trupp Arbeiter keine Ausländer zu entdecken sind.

Aber lassen wir das, wenn ich mich ärgern will, halte ich mich an Trumps Rednecks (die es offenbar auch in unseren Breitengraden gibt).

Aber ich muss mir mal ein paar Gedanken dazu machen, Zeit dazu habe ich ja genug.

 

Glück gehabt

Je weiter ich den morastigen Weg nach oben komme, desto sichtbarer werden die Folgen der Gewitter.Ich komme mir vor wie in einem Dschungel in Mittelamerika, einer grünen Hölle, wo alles lebt und wächst und austreibt, wo alles feucht ist und glitschig und irgendwie unheimlich.

Alles riecht nach Feuchtigkeit, nach Moder und Zerfall, nicht so wie sonst, nach trockenem Laub und Tannennadeln, nach Gras und Holz. Ein seltsam abstossender Wald, in den der Regen tiefe Gräben gerissen hat. Manchmal fehlt der Pfad, ist weggeschwemmt worden, man steigt über zerrissene Bohlen, muss höllisch aufpassen, nicht den Abhang hinunter zu schlittern.

 

Swiss forest, looking like a jungle

Wäre ich hier während der Niederschläge durchgegangen, wäre es mir mit Sicherheit schlecht ergangen. Vielleicht ist mir das Glück trotz allem treu geblieben und hat mich während der schlimmsten Gewitter gnädig auf die Linthebene befohlen.

Aber der Wald bleibt hinter mir, die Landschaft öffnet sich, die Passhöhe scheint nicht mehr weit zu sein. Und da sind auch wieder meine mehr oder weniger ständigen Begleiter, eine Herde Kühe, die friedlich auf der Wiese weiden, am Boden sitzen, genussvoll käuen und wiederkäuen und wiederkäuen, bis das Gras endlich die erforderliche Qualität besitzt.

 

Dark clouds again
Und wieder verdüstert sich der Himmel
Cows grazing
Aber die Kühe lassen sich davon nicht gross beeindrucken

 

Die Sattelegg Passhöhe

Es macht mir dank des nicht vorhandenen Verkehrs nichts aus, die letzten Kilometer bis zur Passhöhe auf der Strasse zu gehen. Immerhin bleiben meine Füsse dann trocken.

Es ist was los da oben. Das Restaurant hat geöffnet, viele Ausflügler sind von der anderen Seite hochgefahren. Andere stehen vor der Schranke an der Strasse, offensichtlich genervt, dass man nicht schon früher, also in Willerzell am Sihlsee, eine Warnung über die Sperrung angezeigt hat.

Nun stehen die Motorradfahrer da, verärgert und empört, und müssen wieder den gleichen Weg zurückfahren. Ich erkläre ihnen den Grund für die Sperrung, was aber ihren Frust zu Recht nicht zu mindern mag. Man ist sich einig darüber, dass es wieder einer dieser Schwyzer Schildbürgerstreiche ist. Wie lustig muss doch die Vorstellung sein, ein paar Auswärtigen zu zeigen, wer der Herr im Haus ist.

Wer nun den Eindruck erhält, dass dieser Kanton nicht zu meinen liebsten gehört, hat er recht. Aber ich komme darauf zurück. Der Kaffee allerdings und der Mandelgipfel im Restaurant sind erste Klasse. Immerhin.

 

Dem Sihlsee entgegen

Kurz nach der Passhöhe zweigt ein Weg ab, der hinunter nach Willerzell führt. es handelt sich zwar um einen Bikerweg, ist mir aber egal. Offenbar sind wir bereits so weit, dass es zwar spezielle Wege für Mountainbiker gibt, aber keine solchen für Wanderer. Seltsame Zeiten.

Tatsächlich kreuzen ein paar heftig schnaufende Biker meinen Weg oder überholen mich in rasantem Tempo. Ich habe mir längst abgewöhnt, mich über die Biker auf den Wanderwegen zu ärgern (andere sind nicht so gnädig, sondern ziehen es vor, dem Wandern generell abzuschwören), sie sind nun einfach da und werden nicht mehr verschwinden. Also ist es besser, sich damit abzufinden.

Die e-Mountainbiker sind allerdings ein anderes Kapitel. Auch dazu später …

Und oh Wunder, der Himmel scheint endlich ein Einsehen zu haben und zeigt mir seine blaue Seite. Die Talebene kommt näher, lamgsam zwar, den mein linkes Knie möchte endlich nach Hause. Ein Kirchturm taucht auf, mit rotem Dach, oder scheint es nur so von weitem?

 

The Sihlsee gets closer

Church with red roof

 

Kaffeeklatsch mit Einheimischen

Vielleicht bietet das kleine Café an der Hauptstrasse in Willerzell die Möglichkeit, ein paar böse Gedanken über den Kanton loszuwerden. Ich lasse mich unter einem Sonnenschirm (den braucht’s tatsächlich zum ersten Mal seit Tagen) auf den erstbesten Stuhl plumpsen und bestelle Kaffee und Kuchen (schon wieder; meine geplanten Minuskilos, im Volksmund Corona-Ranzen genannt, verschwinden im Abgrund der Kalorien, aber egal).

Ich offeriere einer älteren Dame, offenbar auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen, meinen Sonnenschirm, und daraus entwickelt sich eine lange und lustige Diskussion über Gott und die Welt und den Kanton Schwyz. Sie stammt allerdings aus dem Kanton Zürich, lebt aber in dieser Gegend, ist also sozusagen kompetent zur Beurteilung ihres Gastkantons.

Der Serviertochter (darf man das noch so sagen, oder verstosse ich gegen irgendeine Vorschrift gemäss Political Correctness?) ist offenbar langweilig, sie setzt sich zu uns, eine waschechte Schwyzerin. Und sofort kann man nicht mehr böse sein, ich freue mich über die Offenheit und den Mutterwitz der Frau.

Wir umgehen – wie man das heute unter Freunden und Verwandten macht – die schwierigen Themen und diskutieren über die verschiedenen Anbieter von Einsiedler Schafböcken (für Aussenstehende: ein berühmtes Gebäck, das nur in Einsiedeln angeboten wird) und deren unterschiedliche Qualitäten. Mir wird mit grossem Ernst eingebläut, dass es nur einen wirklich guten Anbieter gibt, und das ist offenbar die Bäckerei „Goldapfel“.

Werde ich mir merken müssen.

 

Über den See – fluchtartig

Natürlich sitze ich viel zu lange bei meinen Gesprächspartnern, merke nicht, dass sich der Himmel wieder dunkel überzogen hat. Verdammt! Damit ich Einsiedeln noch vor dem grossen Sprutz erreiche, muss ich mich sputen. das heisst allerdings, dass ich die endlos lange Brücke über den Sihlsee in schnellen und langen Schritten überqueren muss. Über meine Knie lege ich zur Abwechslung mal den Mantel des Schweigens.

 

And again dark clouds

the endless bridge over the Sihlsee

Ich weiss nicht genau, wann diese vermaledeite Brücke gebaut wurde, wahrscheinlich zu einer Zeit, als das Automobil das einzige und ultimative Mittel zur Fortbewegung bedeutete, auf jeden Fall hat man vergessen, dass es gelegentlich den einen oder anderen Spinner gibt, der zu Fuss darüber möchte.

Es gibt also kein Trottoir, man drückt sich eng an die Absperrung, vor allem wenn grössere Vehikel gleichzeitig vorbeifahren, betet zu Gott, dass alle Fahrer nüchtern sind und auch nicht von der Sonne geblendet werden.

 

Die Schwarze Madonna

Der Einsatz hat sich gelohnt, schwer schnaufend und ein bisschen fluchend über die Torheit der Brückenbauer, erreiche ich das andere Ende der Brücke. Nun fehlt nur noch der letzte Hügel, und schon tauchen in der Ferne die Kirchtürme des Klosters Einsiedeln auf.

Man durchquert zuerst ein langezogenes Gebäude, das zu den Pferdeställen gehört. Das Kloster ist berühmt für seine Pferdezucht.

Ich zitiere: Im Marstall des Klosters Einsiedeln, dem ältesten Gestüt Europas, werden seit über 1000 Jahren Einsiedler-Pferde gezüchtet. Die „Cavalli della Madonna“ wurden wegen ihrer Eleganz, ihres guten Charakters, dem schwungvollen Gang und der robusten Gesundheit geschätzt.

Die drei noch vorhanden Mutterstutenlinien (Quarta/Klima/Sella) gehören zu einem kulturhistorischen Erbe von nationaler, ja sogar internationaler Bedeutung.

 

famous horse breeding

Ich bin nicht das erste Mal hier, also schreite ich mit schnellen Schritten, allerdings einmal mehr bewundernd, an den wunderschönen Pferden vorbei und gelange zur langen Treppe, die zum Klostereingang hinaufführt.

Und Überraschung, mein Hotel liegt gegenüber, ein Katzensprung, ich bin angekommen. Und wieder zeigt meine Pulsuhr, trotz verkürzter Strecke, 17 Kilometer und 6.5 Stunden. Auch kein Wunder bei diesen vielen Café- und sonstigen Ruhepausen.

 

Das Kloster Einsiedeln

Meine Zeit als gläubiger Katholik liegt ein paar Jahrzehnte Zurück, was aber nicht heisst, dass ein Kloster wie das von Einsiedeln nicht trotzdem einen Eindruck hinterlassen kann.

Nach dem Besuch der Bäckerei Goldapfel und dem Kauf zusätzlichen Gewichts von allerhand Gebäck mache ich einen Abstecher zur Kirche. Eine Messe ist im Gang, wie immer bin ich beeindruckt und auch ein bisschen berührt über die Anteilnahme der Gläubigen. Sie hängen an den Lippen des Priesters, einige machen den Eindruck, als wäre das Gebet ihre letzte Hoffnung.

Für viele Besucher stellt die Schwarze Madonna das eigentliche Ziel ihrer Reise dar. Ich zitiere:

Das jetzt schwarze Antlitz und die schwarzen Hände der Madonna, wie auch das Jesuskind, waren ursprünglich farbig gefasst. Sie wurden durch den Rauch und Russ der vielen Kerzen und Öllampen, welche ständig in der engen und dunklen Heiligen Kapelle brannten, im Laufe der Jahrzehnte dunkel, schliesslich silberschwarz. Schon im 17. Jahrhundert sprach man einfach von der „Schwarzen Madonna von Einsiedeln“.

 

Mass in the church

Ich bin mucksmäuschenstill, während ich gemessenen Schrittes zum Altar gehe (nicht so wie einst im Mailänder-Dom, als mitten in der andächtigen Stille mein Handy losbrüllte, ausgerechnet mit Purple Haze von Jimi Hendrix). Die Ausstattung ist von überirdischer Schönheit, so wie in den meisten katholischen Kirchen.

 

Interior 1

Interior 2

Interior 3

Interior 4

Auch wenn man sich über die zweifelhafte Zurschaustellung göttlicher Pracht im Klaren ist (man denke nur an die Finanzierung, die zum grossen Teil durch die Gläubigen erbracht wurde), sieht man darin auch als Nichtgläubiger die Kunst. Das genügt, um doch immer wieder eine gewisse Ergriffenheit zu spüren.

Weniger ergriffen bin ich später beim Essen, Pizza und Rotwein, vor mir an der Wand eines der schrecklichsten Bilder seit langem. Als müsste ich für meine ganz und gar unchristlichen Gedanken im Kloster bestraft werden …

 

terrible painting at the wall of the restaurant

 

Song zum Thema: Jimi Hendrix – Purple Haze

Und hier geht der Marsch weiter … nach Unterägeri

 

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Steine und Schnecken und Regen

Das wahre Highlight des Tages ist das Frühstück mit der Sikh Familie. Während ich in aller Ruhe in meinem opulenten Frühstück stochere, leistet mir das Ehepaar Gesellschaft.

Er erzählt die irre Geschichte seines Wegs, der ihn von allen Orten der Welt ausgerechnet nach Amden geführt hat. Offenbar ist das Hotel längere Zeit leergestanden, sozusagen ein Schnäppchen für jemanden, der zeigen will, dass er fähig ist, eine auf den ersten Blick aussichtslose Sache zum Erfolg zu bringen. Seine Zuversicht ist ansteckend, ein Beispiel für die ewig ängstlichen Schweizer, die immer nur an die Risiken und selten an die Chancen denken? Ich verlasse mich auf die junge Generation. Sie tickt definitiv anders.

Im Gegenzug erzähle ich von meinen Erlebnissen im Punjab bzw. in Amritsar, vor langer langer Zeit, als die Welt noch jung war.

Der heutige Plan bietet eine Menge Meter und Kilometer, leider nicht die attraktivsten.

 

From Amden to Siebnen

 

Der Retter der Regenwürmer und Weinbergschnecken

Bevor es auf der Linthebene nur noch gerade aus geht, führt der Weg über einen alten historischen Saumpfad von Amden nach Weesen hinunter. Zuerst geht es aber wie üblich durch nasse glitschige Wiesen hangabwärts, wie immer leitet mich mein alter Freund, der 3-Wegweiser.

 

on wet meadows downwardsmy friend, the 3 signpost

Ich werde definitiv in den Schnecken- oder zumindest in den Regenwurmhimmel kommen und dort als Retter und Wohltäter gefeiert. Keine Ahnung, wieviele Regenwürmer ich die letzten Tage von den nassen Strassen auf die angrenzende Wiese in Sicherheit gebracht habe (das Bücken mit dem schweren Rucksack bringt weitere Pluspunkte im Wurmuniversum).

Heute sind die Weinbergschnecken an der Reihe.

Am Anfang denke ich an einzelne Exemplare, bis sich ihre Anzahl allerdings so schnell vervielfacht, dass sich jede Rettungsaktion in eine länger dauernde Übung entwickeln würde. Ich habe noch nie derart viele dieser wunderbaren geschützten Schnecken gesehen, es muss sich hier also um ein eigentliches Schneckenparadies handeln.

Sehr schön! Dann kriecht und vermehrt euch schön, meine Lieben!

 

One of hundreds of snails

Immerhin blinkt durchs dichte Blättergewimmel bereits der Walensee herauf, eine hellblaue Lagune, gekrönt von den hinter weisslich grauen Umhängen versteckten Glarneralpen. Ich hätte gerne einen Blick auf sie geworfen, aber das wird mir heute wohl verwehrt bleiben.

 

the Walensee is blinking from down there

 

Der Treppenweg

Am Anfang ist der Weg sehr angenehm, leicht bergab führend, ein Vergnügen. Doch dann beginnen die Treppenstufen, und man ahnt es – kein Vergnügen mehr, vor allem nicht für die Knie, die bereits wieder lauthals protestieren. Jede Stufe ist hoch, viel höher als man sich gewöhnt ist. Es erinnert mich an die verflixten Stufen auf dem Langtang Trek in Nepal, der mich dazu verleitet hat, jedem zukünftigen Trek abzuschwören.

Der Treppenweg, als Wegbaukunst zum Kulturgut erklärt, wurde in den Nullerjahren restauriert, sodass man nun aus eigener Erfahrung mitfühlen kann, welche Strapazen früher erlitten werden mussten, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.

 

The historic stairway
Der historische Treppenweg

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Leute früher mit Sack und Pack, wahrscheinlich mit Hilfe von Eseln oder Maultieren, bis 1882 über Hunderte von anstrengenden Steinstufen diesen steilen Weg hinauf oder hinunter geschafft haben. Andererseits weiss man sehr genau, welche Mühsal das Leben früher gewesen sein muss. Keine angenehme Zeit, auch wenn sie gelegentlich romantisiert wird.

 

not very comfortable

across a vertical wall

restored stairway

 

Endlich im Tal

Das Städtchen Weesen am Walensee ist berühmt für sein mildes Klima, Trauben und Feigen gedeihen hier, man fühlt sich wohl.

Nach dem Abstieg über den Treppenweg habe ich mir eine Pause verdient, doch nur eine kurze, der Weg ist weit bis Siebnen. Heute ist eine der längsten Etappen angesagt, und ganz ehrlich, auch eine der langweiligsten und ödesten des ganzen Wegs. Aber auch die müssen absolviert werden.

Immerhin, der Weg der Linth entlang, hier ein schnurgerader Kanal, der sich bis zum Zürichsee hinzieht, ist eine mehr als willkommene Abwechslung nach all den Hügeln und Bergen und steilen Wegen.

 

Along the Linth

Die Wiesen stehen in voller Blust, man könnte meinen, es gäbe was zu feiern. Aber vermutlich nützen die Pflanzen den kurzen regenfreien Augenblick, um Sonne und Wärme zu tanken, bevor sie der nächste Schwall Nässe trifft. Der Himmel macht einen bedenklichen Eindruck, als würde meine Wetterprognose in absehbarer Zeit eintreffen.

 

Flowers along the Linth

Poppy field

Der Blick geht ins Tal hinein, ins Glarnerland mit dem Glärnisch und dem Rauti, verdeckt von dicken Wolken, die nichts Gutes für den Nachmittag bedeuten. Ich befinde mich nun sozusagen in meiner engeren Heimat, Näfels ist einen Katzensprung entfernt, ich könnte einen Abstecher zu meinen Verwandten machen, aber eben, der Weg ist wie gesagt noch weit (und der Himmel verdüstert sich einmal mehr).

 

white hats on the mountains

 

Hinaus auf die Linthebene

Der Linthkanal (oder Escherkanal) macht einen Schwenk nach rechts, passiert das Dorf Ziegelbrücke und führt dann schnurgerade in Richtung des Zürichsees.

Man kann nicht über den Linthkanal sprechen, ohne ein Wort zur Vergangenheit zu verlieren. Vor der Linthkorrektion 1807-1822 durch Hans Conrad Escher von der Linth vereinigte sich bei Ziegelbrücke die Linth mit der Maag, dem früheren Ausfluss des Walensees. Ab dort mäandrierte die Linth stark und war durch die Anlagerungen von Sandbänken nur bedingt schiffbar.

Durch den Linthkanal – die kanalisierte Maag zwischen Weesen und Ziegelbrücke und die korrigierte Linth zwischen Ziegelbrücke und Zürichsee – fliesst das Wasser seither ohne Geschiebe weiter. Der Geschieberückstau der Linth hatte zuvor zu einer Versumpfung der Linthebene und zu wiederholten Überschwemmungen in Weesen geführt.

Durch den Bau des Linthwerks mit Escher- und Linthkanal senkte sich der Pegel des Walensees um mehrere Meter, das grosse Malaria-verseuchte Sumpfgebiet zwischen Walensee und Obersee konnte trockengelegt und durch wertvolles Kulturland ersetzt werden.

 

Nordwärts auf der Linthebene

Bei Ziegelbrücke verlasse ich den Kanal und drehe nach Niederurnen ab, in der Hoffnung, ein Restaurant zu finden. Die anstehende Abstimmung (über die ich später noch einige Worte verlieren werde) hinterlässt ihre Spuren auch im kleinen Café, wo ich meine müden Knochen ausstrecke.

Und nicht zum ersten Mal befürchte ich nach den aggressiven Aussagen der Wirtin das Schlimmste (ich sollte recht behalten).

Nördlich von Niederurnen führt wider Erwarten abseits der Hauptstrasse tatsächlich ein Wanderweg dem Waldrand entlang. „Glarner Wanderwege“ heisst es auf zahlreichen Schildern. Die besagten Wanderwege sind gut, allerdings scheint man die Sitzbänke entlang des Weges vergessen zu haben. Es dauert einige Zeit, bis ich mitten in der Verbrennungsanlage wenigstens einen flachen Stein finde, auf dem ich, beobachtet von misstrauischen Arbeitern, mein Mittagessen einnehme.

Nichts gegen die Glarner Wanderwege, aber die erste Sitzbank taucht kurz nach der Kantonsgrenze zu Schwyz auf. Keine Lorbeeren für die Glarner, aber einige für die Schwyzer (es sollten die einzigen bleiben). Eine keuchende Frau mit Hund joggt vorbei, die Frage, ob der Hund keine Probleme mit dem Tempo hat, beantwortet sie mit: „er nicht, aber ich“.

 

still dry weather

 

Geschichten von Weitwanderern

Dann in Reichenburg endlich ein Restaurant, sogar mit Garten. Falls jemand meint, dass ich den Hauptteil meiner Wanderung entweder auf Sitzbänken oder in Restaurants verbringe, hat er nicht ganz unrecht. Ich muss oekonomisch wandern, meine Kräfte einteilen, sonst bleibt Genf ein ferner Traum. Also suche ich jeweils nach 90 Minuten einen Platz zum Ausruhen.

Der Wirt setzt sich zu mir, will wissen, wo’s hingeht. Er nickt bedächtig, erzählt dann allerdings von einem 75-jährigen Deutschen, der sich sozusagen seit Jahren auf allen Weitwanderwegen Europas herumtreibt. Also von Kiel nach Kroatien, dann via Italien nach Spanien und weiter quer durch den Kontinent. Sein Handy habe er zuhause gelassen, weil ihn sonst seine Frau ärgere, die dauernd wissen wolle, wo er sei.

Was soll man da sagen? Ich fühle mich mit meinen geplanten 500 Kilometern wie ein Anfänger, ein Niemand (ich werde später kurz vor Genf noch so einen Wahnsinnigen treffen, der auf dem Weg nach Jerusalem ist). Immerhin scheine ich nicht der einzige Spinner unterwegs zu sein. Was ein immerhin kleiner Trost ist.

 

 

Es regnet wieder mal

Der Wirt meint, dass es nicht so ernst sei mit dem Regen („es wird ihn sicher wegwinden“). Wie die nächste halbe Stunde zeigt, kann man sich auf solche Prognosen nicht verlassen, denn es beginnt zu pissen, was das Zeug hält.

Was ich Gottlob nicht weiss, ist, dass es bis Siebnen anhalten wird.

Eigentlich würde der Weg nun auf den weiten Feldern nördlich Reichenburg weiterführen. Angesichts des Gewitters mit Blitz und Donner ziehe ich es vor, der Hauptstrasse zu folgen.

Was nun folgt, ist eine endlos lange Wanderung entlang jämmerlich hässlicher Strassen und Dörfer. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum diese einstmals hübschen kleinen Orte derart verschandelt worden sind. Ein unansehnliches Industriegebäude nach dem anderen (die meisten davon in irgendeiner Weise mit Autos verbunden, Garagen, Autohandel, Pneuhandel, Landwirtschaftsmaschinen). Dank dem Regen schaue ich geradeaus, um mich nicht durch die vollkommene Abwesenheit von Schönheit ärgern zu lassen.

 

Schritt um Schritt

Und so trotte ich vor mich her, der Regen peitscht in mein Gesicht, die Autos und Lastwagen schleudern beim Vorbeifahren Gischt über mich, es ist mir egal. Ich spule lange, endlos lange, teilweise schnurgerade Strassen in gemächlichem Tempo ab, ich muss nicht pressieren, nass bin ich sowieso.

Nicht zum ersten Mal verspüre ich das Meditative beim Gehen. Der Geist hat sich verzogen, das Denken eingestellt, man setzt einen Fuss vor den anderen, alles verschwindet ausser den nächsten Metern, dem nächsten Dorf, der nächsten Abzweigung. Nicht-Wanderer werden es nie begreifen, aber genau diese Momente sind es, die es zu etwas Besonderem machen. Man müsste es jedem empfehlen, der in Problemen steckt, Depressionen, Burnout, Verlorenheit.

Man muss einfach nur gehen. Mit oder ohne Rucksack, bis zur Erschöpfung, bis man nicht mehr kann, bis die schlimmen Gedanken und Gefühle weggebrannt sind.

 

Endlich da

Schliesslich Schübelbach, dann Buttikon, keine Grenze mehr erkennbar, alles ist miteinander verschmolzen, doch die Umgebung gewinnt auch jetzt nicht an Attraktivität. Vielleicht ist es das schlechte Wetter, vielleicht die letzten Tage mit der Erfahrung der Schönheit der Berge und Täler, dass mir die Hässlichkeit der Umgebung derart ins Auge sticht.

Manchmal setze ich mich auf einen nassen Stein am Strassenrand, müde und mit elenden Knieschmerzen, aber es ist nicht mehr weit bis Siebnen. Die ersten Häuser tauchen auf, ein Mann in meinem Alter bleibt vor mir stehen, fragt nach meinem Befinden. „Da scheint jemand müde zu sein.“

Wir lachen, haben offenbar gemeinsame Freunde in Näfels, ein hochwillkommenes Treffen. Die letzten Meter zum Bahnhof, wo mich mein Freund Nestel erwartet, sind sehr viele Meter, denn der Bahnhof liegt natürlich am anderen Ende von Siebnen. natürlich erkennt er mich nicht in meinen Regenklamotten, kein Wunder, ich muss aussehen wie ein Fremder.

Das Zimmer ist schön, das spätere gemeinsame Nachtessen genau das, was mich von den Erfahrungen des Tages rettet. Morgen geht’s weiter. Allerdings habe ich nach den heutigen knapp 30 Kilometern und 8 Stunden keine Lust auf eine weitere Monsteretappe.

Ich werde mir eine Alternative überlegen. Mal schauen …

 

Song zum Thema:  Bruce Ruffin – Rain

Und hier geht der Trail weiter … nach Einsiedeln

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Irrungen und Wirrungen

Irgendwann möchte ich aufhören, den Tag mit Regen zu beginnen und mit Regen zu beenden.

Ich hoffe, dass heute der Tag der Auferstehung bedeutet, der Tag mit dem letzten fucking Rain bis Genf. Natürlich wird dies ein frommer Wunsch bleiben, denn auch heute Morgen entdeckt der erste Blick aus dem Fenster das haargenau Gleiche wie gestern Abend.

Beim Morgenessen starre ich irgendwie apathisch aus dem Fenster, Lastwagen preschen vorbei, die Gischt des aufgewühlten Wassers fliegt meterhoch in die Luft. Die Berge sind nicht zu sehen, ist mir egal. Sie sehen genau gleich aus wie gestern, tief verhangen mit Nebel und Nässe.

Der Blick auf den heutigen Plan zeigt eine einfache Route durch das Tal von Stein nach Amden.

Der recht lange Aufstieg von Stein zur Vorderen Höhe wird mit einer herrlichen Aussicht auf die Glarner Berggipfel belohnt. Eine abwechslungsreiche Höhenwanderung führt um den Gulmen herum, zum Mattstock hinüber und nach Amden hinunter.

 

From Stein to Amden

 

Ein wunderlicher Entscheid am frühen Vormittag

Wie sich heute zeigen wird, kann man einen falschen Entscheid auch beliebig wiederholen. Anyway, der Regen hat tatsächlich eine Pause eingelegt, als wollte er mich davon überzeugen, dass er mir trotz allem gut gesinnt ist. Ich kenne diesen elenden Lügner in der Zwischenzeit sehr gut, also erwarte ich nichts Gutes.

Auf jeden Fall trete ich um neun aus der Tür, schaue mich um, da ist der Wegweiser, kein 3-er, aber ein Wegweiser, der garantiert in die richtige Richtung zeigt. Frohgemut – der Schlaf im hochanständig getrennten Bett war gut und tief und die Klamotten trocken – folge ich dem Weg, der in ein Tal hineinführt.

Selbstverständlich beginnt es nach einer halben Stunde zu regnen – hallo du lügenhafter Kerl – Autos und Traktoren fahren an mir vorbei, vorsichtig, wie mir scheint, um den seltsamen Wanderer nicht noch nasser zu machen, als er eh schon ist. Und wieder führt der Wanderweg auf die Wiesen hinaus, ich wiederhole meine Abneigung gegen hohes nasses Gras nicht mehr. Auf jeden Fall taucht ein spitzer Kegel am Horizont auf, kaum sichtbar durch den Nebel, aber es könnte sich um den Speer handeln.

 

Could it be the Speer on the horizon?
Könnte es der Speer am Horizont sein?

Die erste Warnung. Eigentlich dürfte ich aus dieser Perspektive noch keinen Berg sehen, auf jeden Fall nicht den Speer.

 

Scattered farms along the way
Verstreute Bauernhöfe auf dem Weg

Aber ich fühle mich wohl, es geht vorwärts, langsam und stetig, vorbei an den typischen Bauernhöfen dieser Gegend, kein Mensch ist zu sehen, manchmal höre ich ein unterdrücktes Muhen aus den Ställen. Ich scheine nicht der einzige zu sein, der auf schöneres Wetter hofft.

Die Bäche sind voll, rauschen unter den Brücken vorbei.

 

After the Flood

Aber dann werden die Wege schlechter, die Strasse hat sich irgendwohin verflüchtigt, es geht nun aufwärts. Der Dreck steckt wieder mal tonnenschwer an den Schuhsohlen, der Atem geht schwer, und alle paar Meter muss ich eine Atempause einlegen.

Aber der Wegweiser zeigt stur in die hoffentlich richtige Richtung, bergaufwärts, dem Sonnenuntergang entgegen (falls es denn Sonne hätte).

So gehe ich denn talaufwärts, beinahe wie in Ladakh auf dem Babytrail, einfach mit Regenbegleitung.

 

Immerhin würden die Wiesen bei Sonnenschein ein wunderbar farbiges Bild abgeben; heute sehen sie aus wie halb ertrunken und machen mir einmal mehr das Gehen zu einer mittleren Tortur.

Es wird steiler und steiler, und immer noch hoffe ich, endlich die 3-er Wegweiser zu entdecken. Immer noch im Glauben, am richtigen Ort zu sein, male ich mir in Gedanken eine böse e-Mail an die Organisatoren des Panoramawegs aus. Es darf doch nicht sein, dass eine ganze Etappe nicht bezeichnet wird.

 

Blooming meadows - again

 

Erste Zweifel – Das falsche Tal?

Doch langsam schleichen sich Zweifel ein. Der notwendige Blick auf die Karte oder das iPhone ist schwierig und nass bei diesem Regen und entfällt grösstenteils. Aber die umliegenden Berge und Abhänge entsprechen doch mehr oder weniger dem, was ich erwartet habe. In Kürze müsste doch eigentlich die Vorderhöhi auftauchen, oder doch nicht?

Auch der Weg wird noch schlimmer, Sumpf und Schneereste wie gestern, dazu steile Hänge, die das Gehen zur Mühsal machen. Es ist absolut keine lebende Seele zu sehen, ich höre nichts ausser dem eigenen Schnaufen und Fluchen. Der Weg sieht auf jeden Fall so aus, als hätte ihn das letzte Mal jemand im 19. Jahrhundert durchquert.

 

Really bad path

Aber plötzlich taucht von rechts eine stattliche Waldstrasse auf, die ich ganz und gar nicht erwartet habe. Auf der Karte ist nichts zu finden, aber was soll’s, viel mehr falsch kann ich heute nicht mehr machen. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit taucht so etwas wie Kamm auf, und ich kann meinen Augen kaum trauen, zum ersten Mal heute sehe ich einen 3-er Wegweiser.

Ich bin auch jetzt noch überzeugt, auf der Vorderhöhi zu sein, allerdings meint der Wegweiser, dass ich auf dem Weg zwischen Vorder- und Hinderhöhi stehe.

Ja Herrgott, wo bin ich denn da durchgegangen? Mit Hilfe der verschiedenen Wegweiser und einem verschämten Blick auf die Karte verstehe ich endlich meinen Fehler. Ich bin doch tatsächlich den ganzen Tag durch das falsche Tal gegangen, also weiter nördlich als das richtige. Das Missgeschick passierte offenbar unmittelbar nach dem Verlassen des Hotels. Ich hätte nicht nur links sondern auch rechts blicken müssen, und dort hätte ich meine geliebten 3-er Schilder entdeckt.

Einmal mehr – was für ein Idiot!

Aber irgendwie finde ich es auch lustig. Es gibt nichts Besseres für das eigene Ego bzw. dessen richtige Einordnung als solche blödsinnigen Fehlleistungen. Das hat in meinem Fall nichts mit dem Alter zu tun, ich war diesbezüglich schon immer ein ziemlicher Vollpfosten!

Wie man sieht, kann man dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen erreichen und zwar ohne es zu merken. Dazu braucht es allerdings Blindheit, Regen, der die Kontrolle auf der Karte verunmöglicht, sowie eine gehörige Portion Gleichgültigkeit. Eine wichtige Voraussetzung für entspanntes Gehen und gelassene Geisteshaltung.

 

The path I did today
Diesen Weg habe ich heute genommen – ziemlich falsch

 

Nah am Glück

Zwei ältere Biker treffen ein, ziemlich schwer atmend, ich erkundige mich, woher sie kommen. Sie lachen sich halbtot, als ich ihnen mein Missgeschick erzähle, aber wir stimmen überein, dass solche Geschichten letztendlich das Salz in der Wandersuppe sind.

Nach der Hinderhöhi, die ich nach einer halben Stunde erreiche, geht es nun zügig abwärts, am Mattstock vorbei. Im HIntergrund ragt der Speer empor, sein Auftauchen am Horizont hätte das erste Warnsignal sein sollen. Und oh Wunder, es regnet nicht mehr.

 

Way down

Und endlich eine Sitzgelegenheit, eine hölzerne Bank mitten auf einer blühenden Wiese. Ich esse, trinke, atme tief durch, sinniere über die wechselhaften Einfälle des Lebens, und da, unerwartet und so willkommen, ausgerechnet nach diesem seltsamen Tag wieder einer dieser Momente, wo alles in vollkommener Balance ist. Näher am Glück kann man nicht sein.

 

My bench for picknick

Während im Tal der Löwenzahn, meine Lieblingsblume, längst verblüht und sich fallschirmmässig über die Wiesen ergossen hat, blüht er auf dieser Höhe noch immer in voller Pracht. Gibt es ein schöneres Bild für den Frühling als eine Wiese übersät mit blühendem Löwenzahn? Für mich nicht. Da kann sich jede noch so schöne Orchidee oder Rose schleunigst verziehen.

 

Blooming dandelion whole fields of dandelion

Wie befürchtet ist die Sesselbahn nach Amden hinunter nicht in Betrieb, als muss ich die letzten Abhänge auf teuflisch steilem und glitschigem Weg zu Fuss machen. Nach kurzer Zeit scheine ich gewachsen zu sein, denn an den Schuhsohlen hat sich eine dicke Schicht Dreck angesammelt, die das Gehen noch mühsamer macht. Immer wieder kann ich mich im letzten Moment auf den Füssen halten, Kühe am Wegrand finden es wieder mal hochinteressant, dem stolpernden und fluchenden Wanderer zuzusehen.

Im Hintergrund tauchen die Glarneralpen auf, ein Stück Walensee glänzt in der Tiefe. Ich bin fast da.

 

The Glarner Alps

Aber irgendwann ist das letzte Stück dieser unseligen Etappe geschafft, und tatsächlich, die Sonne ist aufgegangen, es wird schnell warm, eine Einladung, sich vor dem Café mit Bäckerei einen Kaffee mit Meitschibei zu gönnen. Selten hat mich diese Kombination in eine derart positive Stimmung gebracht.

 

A well-deserved Coffee

 

Übernachtung im Punjab

Das Hotel Schäfli hält eine Überraschung bereit, denn ich werde von einem waschechten Sikh begrüsst. Schon der erste Blick im Inneren zeigt eine wunderbare Vermischung von indischer und einheimischer Kultur. Aber im Moment interessiert mich nur eine heisse Dusche und anschliessend etwas zu essen.

Ich erkundige mich bei einem alten Freund, ob er Lust auf ein Bier mit mir hat, leider ist er aber momentan abwesend in den Ferien. Und so esse ich halt allein im Hotel Rössli. Und übrigens – draussen regnet es wie aus Kübeln (nur um die alte Tradition fortzusetzen, den Tag mit einer Regenmeldung zu beenden).

 

Song zum Thema:  Bob Dylan – Idiot Wind

Und hier geht es weiter … nach Siebnen

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Regen, sonst nichts

Der schläfrige Blick nach draussen entdeckt nicht viel Neues. Und nicht viel Positives.

Es ist immer noch grau und nass, auch wenn der Regen eine kurze Pause eingelegt hat. Die Verabschiedung vom Hüttenpersonal ist herzlich, man lacht über den gestrigen Abend, der auch ein paar überraschende Erkenntnisse gebracht hat.

Ich befinde mich ja nun wieder in Appenzell Ausserrhoden. Das Verhältnis der beiden Kantone ist mir unbekannt, nur dass Innerrhoden katholisch und Ausserrhoden protestantisch ist. Mein Bericht über das touristische Treiben in Appenzell löst sofort  Unwillen aus. „Typisch katholisch. Immer nur den Profit im Sinn! Das wäre hier ganz anders.“

Finde ich überraschend und sehr lustig.

 

Nebel, Dunst, Regen

Wieder eine Wanderung durch ein Spinnennetz aus Nebel und Dunst und Regen. Der Pfad bis zur Schwägalp ist zwar breit und angenehm zu gehen, aber das, was sich am Himmel zusammenbraut, ist weniger angenehm. Aber ich erwarte eine schöne Wanderung nach Lutertannen und über den Aussichtspunkt Risipass nach Stein im Toggenburg. Es ist ja  nicht das erste Mal, dass ich von Regen und Nebel und Schnee belästigt werde, sei es in Kolumbien oder andernorts.

Wiesen und Alpweiden, naturnahe Flachmoore und Nadelwälder wechseln sich in bunter Folge ab, behauptet der Führer. Die Buntheit möchte ich ansgesichts des trüben Himmels eher in Frage stellen.

 

from Chamhaldenhütte to Stein

Mist, Haze, whatever you desire

Das Restaurant auf der Schwägalp ist trotz schlechtem Wetter gut besucht, ich gehe vorbei, und nach nicht mal fünfhundert Metern beginnt das erwartete: Regen in allen Formen der Feuchtigkeit. Mal nieselt es, mal schlägt auf mich nieder wie ein Strafgericht Gottes.

Ist mir aber egal, also folge ich dem mal abwärts, dann wieder steil aufsteigenden Wanderpfad. Nicht überraschend führt er schon nach kurzer Zeit wieder abseits der Strasse über völlig durchnässtes hohes Gras, das mir um die Beine schlägt. Aber was soll’s, irgendwann wird alles besser.

 

Path down the woods

 

Das Wetter als Metapher

Es ist nicht wirklich angenehm, allerdings entwickelt man nach einiger Zeit eine stoische Beziehung zum Wetter.

Was ganz gut dient als Metapher für das Leben an sich. In Zeiten wie diesen (die mich auch während des Wanderns beschäftigen) gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich den aktuellen Themen zu entziehen. Man kann selbstverständlich auf stumm und taub stellen, alles ignorieren, was Unruhe und Zweifel und Pessimismus fördert, aber das funktioniert nur bedingt.

Ich habe es vor einigen Monaten ausprobiert, eine Woche lang alles Medienmässige ausgesperrt, um meinen Ärgerlevel wieder auf ein normales Mass zurückzubringen. Es hat teilweise sogar geklappt, aber eben, sobald man sich wieder in die Welt einklickt, ist die Lawine wieder da. Die Pandemie hat vieles, was vorher schon da war, verstärkt. Vieles hat schlummernd auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um nun, wenn die Grenzen des Sagbaren verschoben wurden, den alten Hass hervorzuholen. Risse gehen durch die Gesellschaft, Lebenswelten kollidieren, Konflikte brechen aus. Nicht gut.

Eine bessere Möglichkeit, vielleicht die einzige, besteht darin, eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln. Ein dickes Fell gegen alles Trumpsche der Welt, alles, was momentan schlecht läuft, Ängste hervorruft, Untergangsszenarien generiert. Man kann/darf sich nicht über alles ärgern, auch wenn es schwierig ist.

Die Ziegen am Strassenrand zeigen, wie’s geht. Was interessiert uns das Wetter? Oder sonstwas. Hauptsache ein bisschen fast trockenen Boden (es hat zwischenzeitllich wieder mal aufgehört zu regnen), Futter in Hülle und Fülle und ein paar Freunde und Verwandte, mit denen es sich gut gehen lässt.

 

Goats in peace

Deswegen sind die Wetterkapriolen während des Wanderns zwar manchmal ärgerlich, aber es bringt nichts, dem Regen und Nebel den Finger zu zeigen. Also gehe ich weiter und kümmere mich nicht um den schwarzen Himmel, der sich auch heute gegen mich verschworen hat. Ich gehe jede Wette ein, dass es in ein paar Minuten wieder giessen wird.

 

Schneefelder, Sümpfe

Auch wenn der heutige Tag kein Ruhmesblatt für das Wetter ist, so strahlt die nasse Landschaft doch eine eigenartige Schönheit aus. Wie ein Bild, gemalt von einem depressiven Maler, der nur noch weiss, grau und grünlich auf seiner Palette hat. Es genügt, um einen regnerischen, nebligen Tag in den Alpen in allen Facetten darzustellen. Man könnte von dieser Melancholie angesteckt werden, aber eigentlich gibt es doch nichts Schöneres als eben dieses Schauspiel der Elemente.

Wie langweilig ist doch dagegen ein schöner Tag mit blauem Himmel und strahlender Sonne, aber wahrscheinlich versuche ich ganz einfach, aus einem miesen Tag ein Juwel zu machen. Aber gut …

 

Not the weather preferred

Die Liebe zur traurig-nassen Landschaft hört spätestens dann auf, wenn der Weg durch Frühlingsschnee und aufgeweichten Sumpfboden führt. Offenbar wäre ich hier vor ein paar Wochen noch vor einem Problem gestanden, den Starttermin auf Anfang Juni zu setzen, war also richtig.

Meine Schuhe versinken im dem nassen Boden, manchmal habe ich Mühe, die Füsse wieder aus dem Sog des Bodens zu  befreien. Ist das mit den naturnahen Flachmooren gemeint? Irgendwann zweigt der Weg in Richtung des Risipasses ab, natürlich regnet es erneut, was ein bisschen blöd ist, denn man kann sich nirgends mehr setzen.

Also marschiert man weiter, setzt einen Fuss vor den anderen, versucht, die Umstände zu vergessen und denkt an einen trockenen Ort im Toggenburg, das Tal, das schon bald auftauchen sollte. Es erinnert mich an Skiferien auf der Sellamatt, an den Essraum im Hotel, der immer nach nichts anderem roch als nach Pommes Frites, an einen schlimmen Hexenschuss und anderê Gegebenheiten, die hier ungesagt bleiben müssen. Eine schöne Zeit.

 

the last spring snow

 

Wet wet wet

Nach dem Risipass zweigt der Wanderweg – wie könnte es anders sein – wieder zurück auf die tropfenden Wiesen. Meine Schuhe sehen in der Zwischenzeit sehr nass und sehr mitgenommen aus, also entschliesse ich mich, den Rest des Weges die Strasse zu nehmen.

 

Wet and dirty shoes

Obwohl  meine Knie wie immer auf abwärtsführenden Asphaltstrassen sehr ungnädig reagieren und schon bald höllisch zu schmerzen beginnen, folge ich den unzähligen Kehren ins Tal hinunter. Manchmal grüssen mich ein paar Kühe, haben sich extra für mich in einer sauberen Reihe aufgestellt. Ich fühle mich willkommen geheissen, ziehe meinen Hut und muhe ihnen zu. Was allerdings nicht wirklich zu Reaktionen führt. Man kann beinahe spüren, was in ihren merkwürdigen Gehirnen vorgeht: Wieder so ein Spinner, der bei diesem Wetter spazieren geht.

Ich muss ihnen recht geben.

 

some cows greeting me
Eine Parade unterschiedlich gefärbter Kühe begrüsst mich

Das Tagesziel Stein taucht im Tal auf, genauso eingespinnt in Nebel und Dunst wie alles andere, aber ich bin sicher, dass sich das Gasthaus Ochsen als die Herberge entpuppt, die ich mir in meinen trockenen und warmen Träumen vorstelle.

 

Stein in the Toggenburg Valley

Die Wirtin hat mich offenbar erwartet (viele Gäste werden an diesem garstigen Tag wohl kaum eintreffen), ich darf den Trocknungsraum benutzen, in der Hoffnung, dass wenigsten bis morgen früh das Zeug wieder in einen trockenen Zustand zurückfindet.

Ich fühle mich gut, auch wenn die Gäste im Restaurant dem komischen tropfnassen Kauz mitleidige Blicke zuwerfen. Das Hotel ist aus altem Schrot und Korn, das Hotelzimmer ist allerdings von erstaunlich fortschrittlicher Qualität. Ich finde es irgendwie lustig, dass die beiden Betten durch einen Zwischenraum getrennt sind. Es erinnert mich an alte Hollywood Filme, wo auch nur der kleinste Hinweis auf etwaige sexuelle Aktivitäten im Schlafzimmer unmöglich war (und bei Übertreten dieses Verbots eine sofortige Sperre oder Schlimmeres bedeutet hätte).

 

Song zum Thema:  Wet Wet Wet – Love is all around

Und hier geht der Trail weiter … nach Amden

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Falsche Wege

Meine Befürchtung hat sich bestätigt – beim Aufwachen dröhnt mein Kopf wie eine alte Kirchenglocke. Elendes Schlafmittel! Es hat mich zwar ein paar Stunden in einen bewusstlosen Zustand befördert, aber das ist auch schon alles, was man positiv dazu sagen kann.

Nun denn, mit wenig euphorischen Gefühlen wanke ich zum Frühstück, schaue mich um, alles alte Leute, viele Ehepaare, ergraut und erstummt, sitzen an ihren Tischen, in ihren Tellern stochernd. Immer, wenn ich sie sehe, denke ich an die Leben, die hinter ihnen liegen. Harte Arbeit, viel Mühsal, aber wer weiss, vielleicht auch ein Leben voller Freude. Niemand kann das wissen, und das ist auch gut so.

 

Plan B

Währenddessen checke ich nochmals das Wetter, vor dem Fenster und auf der Wetter-App. Nicht gut. Weitere schwere Gewitter sind für heute genau für diese Gegend angesagt. Plan B muss her.

Denn ein ziemlich anspruchsvoller Tag liegt an. Den Grat hinauf zum Kronberg, dann auf der anderen Seite in Richtung Schwägalp zur Chamhaldenhütte.

 

Stage 3: Appenzell - Chamhaldenhütte
Etappe 3: Appenzell – Chamhaldenhütte

Da ich keine Lust habe, im mondänen Hotel auf der Schwägalp zu übernachten, habe ich mir eine Alternative gesucht, und in der SAC Chamhaldenhütte eine Lösung gefunden. Sie hat zwei Vorteile: erstens eine alternative Übernachtungsmöglichkeit, und zweitens eine Verkürzung der Etappe 3 (was natürlich zu einer Verlängerung von Etappe 4 führt, aber das ist alles durchgerechnet, das klappt).

Ich habe immer noch keine Lust, auf dem Grat zum Kronberg zu wandern, wenn ich dauernd von Blitz und Donner heimgesucht werde, also muss wetterbedingt eine weitere Option gefunden werden. Die notwendige Flexibilität im Anpassen von Routen habe ich mir auf meinen Reisen angewöhnt. Man muss schnell und entschieden reagieren, entscheiden und durchziehen.

Genau das habe ich für heute vor. Warum nicht nach Urnäsch wandern (so wie es die alte Route vorsah), und dann ab Urnäsch das Postauto bis zur Schwägalp und anschliessend den Weg auf dem 3-er zurück zur Hütte. Klingt doch gut.

 

Der Weg nach Urnäsch

Ich gehe davon aus, dass ich in der Hütte keine Wlan Verbindung haben werde, ich muss also meinen täglichen Russischkurs auf Duolingo möglichst noch vor dem Abmarsch durchführen (seit 2 Jahren plane ich ja mit der Transib nach Peking oder Wladiwostok zu fahren, deshalb meine Bemühungen um die russische Sprache). Mit leichterem Kopf (das Morgenessen tut immer seine positive Wirkung) arbeite ich ein paar Minuten ein Thema durch und bin froh, den Streak behalten zu können (einen Streak bezeichnet man im Duolingo Kontext als eine ununterbrochene Serie von Tagen, an denen eine Sprache geübt wird; fehlt ein Tag, geht der Streak auf Null zurück). Поздравляю, мой друг!

Und so verlasse ich Appenzell, es hat mir gut gefallen, ich werde sicher irgendwann zurückkehren. Der Himmel kann gar nicht grauer und unappetlicher aussehen, als er es heute Morgen tut, es riecht nach weiterem Regen, die Strassen sind nass und die Menschen schlechter Laune. Es geht nun also via Gonten in Richtung von Urnäsch.

Wie erwartet beginnt es kurz nach dem Abmarsch zu regnen, aber ich bin vorbereitet und lege den Regenponcho um. Das knallrote Ding ist garantiert 40 Jahre alt, mit allerhand Erfahrungen von zahlreichen Wanderungen und Trecks in Nepal und Ladakh und auf dem Kilimandscharo. Es sieht langsam ein bisschen derangiert aus, so wie der Träger, hat Falten und Risse und riecht irgendwie seltsam.

 

Ich trotze dem Regen

Eigentlich muss ich zugeben, dass ich das Wandern im Regen – natürlich mit dem entsprechenden Schutzmaterial – liebe. Es vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit, während die Regentropfen auf den Kopf prasseln und der Wind die Hosenbeine flattern lässt.

Was ich weniger schätze, sind die Ausflüge ins tropfnasse Gras, das der Wanderweg nun des öfteren befiehlt. In schönem Wetter etwas Wunderbares, bei Regen eher eine Belästigung, geht doch der Weg unweit der Strasse entlang, um sich über kurz oder lang wieder mit ihm zu vereinen. Schuhe und Gamaschen sind total durchnässt, immerhin scheinen meine Wanderschuhe dicht zu sein. Zumindest für den Moment.

 

grassy path to Urnäsch

Es ist eine recht merkwürdige Gegend, durch das schlechte Wetter noch düsterer erscheinend. Der Nebel klebt auf den Hängen, verleiht den dahinter liegenden Berge einen geisterhaften Umhang. Die Häuser und Ställe auf dem Weg scheinen in der Distanz auf, kaum sichtbar, nur Silhouetten im Dunst, dann kommen sie näher, erhalten Form und Farbe und verschwinden hinter mir im Nebel.

 

Überraschend – eine Seilbahn zum Kronberg

Gonten liegt unter dem Wanderweg, ein kurzes Stück durch das wie verlassen und still scheinende Dorf, dann bleibt es hinter mir zurück, eine kurzfristige Fatamorgana. Die Gegend muss wider Erwarten doch eine touristische Anziehungskraft haben, denn immer wieder passiere ich Zeltplätze und einmal sogar einen riesigen Spielplatz.

 

Children's playground

Vielleicht trägt der Barfussweg dazu bei. Er führt einen Teil der Strecke dem Wanderweg entlang, doch Barfusswanderer sind selten bzw. nicht vorhanden. Einige Hündeler kreuzen meinen Weg, der Blick auf ihre Füsse vermag nur dicke Schuhe und Stiefel zu entdecken. Wahrscheinlich ist Barfusslaufen eher für besseres Wetter gedacht.

Und dann, wirklich überrachend, denn auf der Karte habe ich nichts Derartiges gesehen, taucht in Jakobsbad die Talstation einer Luftseilbahn auf, die auf den Gipfel des Kronbergs führt. Halleluah! Das ist eine überraschende Möglichkeit, die heutige Tour doch noch zu einem vernünftigen Ende zu bringen.

Gedacht, getan, in wenigen Minuten stehe ich mit einigen anderen vom Wetter Unbeeindruckten in der Kabine und sehe das düstere Tal unter mir verschwinden, während wir hinauf zum schwarzen Himmel steigen. Vom Berg ist nichts zu sehen.

 

Ein weiteres Kapitel meiner Orientierungsqualitäten

Der Berg ist einsam und scheint, mit Ausnahme einiger Touristen, verlassen und allein. Immerhin hat es aufgehört zu regnen, und so mache ich mich den steilen Weg hinunter in Richtung Chamhaldenhütte. ich bin zeitlich gut unterwegs, fast ein bisschen stolz, dass ich mich trotz fehlendem Nachtschlaf körperlich topfit fühle.

 

downhill to Chamhalden hut

Ein junges Paar, er asiatisch erscheinend und sehr gelangweilt, kreuzt ein paar Mal meine Wege, sie hasten schweigend an mir vorbei, während ich unter einem Baum picknicke.

Kurze Zeit später führt der Weg in einen dichten Wald, der Pfad wird mühsam, steil, nass und glitschig, und man muss höllisch aufpassen. Bei einer kleinen Brücke schauen ein paar Wanderer auf mich herunter, während ich mich hochquäle, nicken mir zu und gehen nach rechts ab. Eine dicke Buche versperrt den Weg, ich folge den Männern über die Brücke.

Der Weg wird immer schlimmer, Wegweiser sind keine mehr da, es ist kalt und düster, und ich bin froh, den Wald endlich verlassen zu können. Die vier Männer sind auf dem Aufstieg, ich folge ihnen. Es dauert keine fünf Minuten, bis sie keuchend und irgendwie komisch blickend an mir vorbeihetzen, den Weg zurück.

 

really bad path

Kopfschüttelnd gehe ich weiter, bis zu einem Wegweiser. Er weist mir die Richtung zum … Kronberg. Ich starre einen Moment lang verständnislos um mich, bis ich endlich begreife, warum die Männer in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei gehetzt sind. Irgendwo im Wald, ich ahne wo, habe ich wie die Männer ungeachtet den Weg zurück eingeschlagen.

Und jetzt beginnt es erst richtig zu pissen.

Entsetzlich fluchend gehe ich den Weg zurück, bis zur elenden Brücke. Und nun erkenne ich den Fehler. Die dicke Buche hat den Blick auf den richtigen Weg versperrt. Wenn man um sie herumgeht, erkennt man sofort, in welcher Richtung es weitergeht.

Und tatsächlich, es ist nicht sehr weit bis zur Hütte, ohne den Fehler hätte ich es problemlos ohne Regen ins Trockene geschafft. Aber Gott straft sofort, und so pretscht nun ein Gewitter auf mich nieder, dass es mich beinahe aus den Schuhen haut. Der Sturm bläst von allen Seiten, vor allem horizontal, peitscht mir das Wasser ins Gesicht, durchnässt Hosen und Ärmel.

Die Chamhaldenhütte vor Augen kämpfe ich mich schwer atmend den Abhang hinauf, und lasse mich in der Sicherheit und Trockenheit des Vorraums erschöpft auf den erstbesten Stuhl fallen.

Was für ein Idiot ich doch bin!

 

Aber die Hütte ist Klasse

Offenbar bin ich der einzige Gast, man begrüsst mich herzlich, weist mir ein Bett im riesigen Schlafgemach zu, es wird eine ziemlich einsame Nacht werden. Allerdings dafür auch ohne Schnarcher und andere Störenfriede.

Es bleibt nass, kein gutes Omen für morgen.

 

view from the window - bad weather

Ausser dem Hüttenpersonal, bestehend aus zwei Damen, sind ihre Angehörigen zu Besuch, so dass sich beim Nachtessen doch eine stattliche Zahl einfindet. Ich bin Gast im familiären Kreis, es wird angesichts der leeren Wein- und Bierflaschen immer lustiger, bis endlich um beinahe 23 Uhr Feierabend schlägt.

 

Inside the hut

Es ist kalt geworden, draussen und auch im Schlafraum. Ein paar Decken umhüllen meinen seidenen Schlafsack wie ein Kokon, und so dauert es nicht lange, bis ich in einen wohligen Schlaf hinüberdämmere. Draussen regnet es in Strömen …

 

Song zum Thema:  Albert Lee & Jimmy Page: Everything I do is wrong

Und hier geht die Wanderung weiter … nach Stein im Toggenburg

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Eine andere Schweiz

Murmelnde Geräusche wecken mich aus tiefer Ohnmacht. Der Blick auf die Uhr zeigt, dass ich zehn Stunden geschlafen habe, nicht überraschend nach der gestrigen Tortur. Aber heute soll es gemäss Wanderführer etwas gemächlicher gehen.

Von Trogen (AR) über zwei sanfte Hügel mit grossartiger Aussicht auf den Säntis, die Stadt St.Gallen, den Bodensee und das coupierte Appenzellerland in den weiten Talkessel von Appenzell mit seinen reich verzierten Bürgerhäusern.

Ein Klacks im Vergleich zu gestern.

 

Stage 2: Trogen - Appenzell
Etappe 2: Von Trogen nach Appenzell

 

Frühstück mit Leidgenossen

Das Murmeln dringt aus dem Zimmer neben meinem, seltsam.

Anyway, ich mache mich mit erstaunlicherweise kaum noch schmerzenden Gelenken auf zum Frühstück und tatsächlich, aus unerfindlichen Gründen wurde das Gästezimmer zum Frühstückszimmer umfunktioniert. Welchen Vorteil daraus im Vergleich zum viel grösseren normalen Gästeraum im Restaurant zu gewinnen ist, entzieht sich mir.

Auf jeden Fall sitzen bereits vier Personen eng zusammen am Tisch, darunter überraschend auch das Paar aus dem Zug (der Hund musste aber im Zimmer bleiben) und die beiden Biker. Die Wirtin, korpulent und freundlich und gesprächig, führt mich zu einem Einertisch, wo ein ziemlich opulentes Frühstück auf mich wartet.

Das Ehepaar ist tatsächlich auch auf dem Panoramaweg, allerdings nur ein paar Etappen bis Amden, dann steigen sie aus. Wir fühlen uns alle ein bisschen als Helden, vor allem ich, der die ganze Strecke absolvieren will. Ich meine in den ungläubigen Gesichtern allerhand Zweifel zu entdecken, ist es das Alter?

An ihrer Stelle hätte ich die gleichen Zweifel. Einer der Biker fragt doch tatsächlich, ob ich ein zweites Paar Wanderschuhe mitgenommen habe. Na ja …

 

Das Pestalozzi Kinderdorf

Die Wirtin erklärt mir die Route nach Appenzell, und so starte ich den zweiten Wandertag frohgemut und mit frischem Elan.

Der Weg führt schnell aus Trogen hinaus ins Grüne, der Tag ist so schön wie er nur sein kann. Man kann gar nichts anders als langsam gehen, die würzige Luft einatmen, das Glück spüren. Immer wieder tauchen schmucke Häuser auf, ihre Gärten voll blühender und duftender Blumen, eine einzige Augenweide.

Nicht weit oberhalb von Trogen liegt das Pestalozzi Kinderdorf.

Seit 1946 stehen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt der Tätigkeit dieses Hilfswerks. In zwölf Ländern weltweit ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern den Zugang zu qualitativ guter Bildung. Im Kinderdorf treffen Schweizer Schulklassen auf Jugendliche aus Osteuropa. Ziel der Projektwochen ist es, Vorurteile abzubauen und mit kulturellen, religiösen und ideellen Unterschieden konstruktiv umzugehen (Wikipedia).

Das Kinderdorf wurde international bekannt. In den ersten zehn Jahren zählte es gegen 500’000 Besucher. Prominente Besucher waren unter anderem Konrad Lorenz, der 14. Dalai Lama, Auguste Piccard, Henri Guisan, Josephine Baker, Pablo Casals, Martin Buber, Königin Friederike und König Paul von Griechenland, Gustav Wyneken, Werner Bergengruen, Carl Jacob Burckhardt, Hermann Gmeiner. (Wikipedia)

Schon von weitem ist sichtbar, dass es sich um eine besondere Siedlung handelt. Der Zugang zu den Hauptgebäuden zeigt Tafeln mit Werken der Kinder, viele aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Sprachregionen, alle mit einem vergleichbaren Schicksal, Armut, Unterernährung, Benachteiligung.

Manchmal frage ich mich, wie diese Leute wie Pestalozzi oder Henri Dunant ticken. Irgendwas unterscheidet sie von uns. Etwas Entscheidendes. Vielleicht liegt es schlicht und einfach darin, dass sie ein Problem erkennen (so wie wir) und sich entscheiden, etwas dagegen zu tun (so wie wir nicht). Ihnen sollte für immer unser Respekt gelten.

Man muss nicht lange überlegen, um einzusehen, dass Pestalozzis Gründung dieses Hilfswerks für das Image der Schweiz weitaus wichtiger ist als der Reichtum, die Banken, die Sauberkeit, Roche und Nestlé und Glencore und alle anderen.

 

The Pestalozzi Children's Village

Die Werke sind wunderschön, man möchte die Kinder treffen, ihre Geschichte hören, ihnen alles Gute dieser Welt wünschen. Doch man bleibt ein Eindringling, man belässt es besser bei den Gedanken und Wünschen für eine bessere Zukunft dieser Kinder und Jugendlichen.

 

Paintings done by the children

Paintings done by the children 2

 

Der richtige und der falsche Weg

Erwartungsgemäss dauert es nicht lange, bis ich in einem tiefen, dunklen, morastigen Wald stehe und nicht mehr weiss, wo es weitergeht. Der Weg dahin war sorgenlos, entspannt, beinahe euphorisch, durch eine grüne saftige Landschaft die Hügel hinauf. Keine Schmerzen, Rücken und Knie haben sich für den Moment abgemeldet, ich werde es ihnen heute Abend mit einer weiteren Portion Voltaren vergelten.

 

this is definitely not the right path this one's better

Irgendwo ist also ein Fehler passiert, nur, wie komme ich hier heraus, ohne den ganzen Weg zurückzugehen? Ich kämpfe mich bis zum Ende des Waldes, anschliessend eine steile, bewachsene Wiese hinauf, worauf sich die eben noch vielgelobten Knie melden (wer mehr über meine blöden Knie wissen will, der schaue mal im Südamerika Blog nach).

Schwer schnaufend erreiche ich die Strasse, wo ein Bauer eben dabei ist, den Zaun zu flicken. Da ich die Vorliebe der Bauern für Trampeltiere durch ihre Wiesen kenne, entschuldige ich mich bei dem Herrn. Er lacht nur und zuckt die Schultern. „Nicht meine Wiese, ich flicke nur den Zaun.“ Na dann.

Ich gelange schliesslich hinauf auf die obersten Hügel, zum Ort mit dem Namen Hohe Buche, wo ich allerdings weder einen Baum noch eine hohe Buche finden kann. Dafür zwei Wegweiser mit der 3, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Damn it! Dass darf doch nicht wahr sein. Meine geliebten 3-er Wegweiser wollen mich veräppeln?

Immerhin steht in der Nähe ein Restaurant, wo ich mich nach dem richtigen Weg erkundige. Der Wirt lacht und kann es nicht fassen, dass die Wegweiser verschiedene Richtungen anzeigen. Nun, immerhin kennt er die richtige Abzweigung, und so geht es hügelabwärts, manchmal nicht überraschend auch aufwärts, dem Dorf Bühler entgegen.

Das Bänklein, gerade richtig für einen Schluck Wasser und etwas Süsses, liegt auf der anderen Seite eines Zauns. Neugierige Kühe verfolgen interessiert mein Picknick, kommen näher, wollen genauer wissen, was sich da in meinem Rucksack versteckt hält. Ach die Kühe, ich liebe sie unendlich, diese Furzmaschinen, Klimazerstörer, Methanabsonderer …

 

Curious cows

 

Dunkle Wolken

Das Gebräu am Himmel, das Sonne und gute Laune ins Verderben schickt, macht mir etwas Bauchweh. Sollte da ein Gewitter aufziehen? Was ich in diesem Moment noch nicht weiss, ist, dass dies der Beginn einer mehrtägigen Regenperiode sein wird. Manchmal, vor allem bei solchen Unternehmungen, ist es gut, die Zukunft im Dunkel zu belassen.

 

The clouds are getting darker
Die Wolken werden dunkler

Auf jeden Fall ist mein Einzug in Bühler, einem nachgerade schrecklichen Kaff, eher von Sorgenfalten begleitet. Ein Gewitter ist nicht das, was mein Herz in diesem Augenblick begehrt, also entschliesse ich mich, ein Restaurant zu suchen und den Regen abzuwarten. Ein Einheimischer mit leichtem Balkanakzent zeigt mir die Richtung, ich eile der Strasse entlang, während die ersten Tropfen auf das heisse Pflaster klatschen. Das Restaurant entpuppt sich als sehr geschlossen, und offenbar gibt es kein anderes.

Sollte sich das Wetter tatsächlich unangenehm entwickeln, werde ich die Bahn nach Appenzell nehmen. Der Bahnhof ist nahe, ein guter Platz für das Mittagessen und eine halbe Stunde Warten auf das Gewitter, das sich aber rar macht und nach Norden verzieht. Auch gut.

 

Junge Dame mit Labrador

Eigentlich ist der weitere Weg sehr angenehm, wären da nicht immer wieder die Streckenabschnitte, die auf Asphaltstrassen bergabwärts führen.

Immerhin gibt es gelegentlich eine hochwillkommene Abwechslung, heute in Gestalt einer jungen Dame, mit der ich ins Gespräch komme. Offenbar ist ihr Labrador derart voller Zecken, dass nur noch ein Gang zum Tierarzt helfen kann. Der Hund erhält ein paar Schmusestreicheleinheiten und beruhigende Worte meinerseits, dann verschwindet die Dame mit einem Tschüss und alles Gute in einem Wäldchen, das hinunter nach Appenzell führt.

Der Talkessel mit dem Hauptort Appenzell des Kantons Appenzell Innerrhoden liegt vor mir, doch die Strasse (natürlich eine Teerstrasse) ist ein Mühsal, und ich bin heilfroh, als endlich die ersten Häuser auf der Talsohle auftauchen. Und da ist auch schon Labrador mit Begleitung, der Arztbesuch bereits erledigt.

 

Appenzell

Von oben sieht Appenzell genauso aus wie vorgestellt. Ich muss zugeben, dass ich noch nie hier war, zwar in Luang Prabang oder Bogota oder Mandalay, aber noch nie in Appenzell. Warum das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass in dieser Kleinstadt ein sehr seltsames Völklein lebt, störrische, eigensinnige Menschen, die gerne etwas tun oder denken oder entscheiden, was nicht dem allgemeinen Trend entspricht.

 

Appenzell from afar
Appenzell von oben – der Misthaufen steht nicht zufällig da

 

Das äussert sich in unterschiedlicher Weise. Beispielsweise mit dem Beharren der männlichen Bevölkerung, die Frauen von den politischen Prozessen auszuschliessen. Ich bin überzeugt, dass ohne die übergeordnete richterliche Instanz es heute noch kein Stimmrecht für die Frauen geben würde.

Und da ist das sogenannte Ständemehr. Für nicht eingeweihte Leser: die direkte Demokratie der Schweiz sieht vor, dass Referenden und Initiativen, die von der Bevölkerung angeschoben werden können und gleichzeitig Änderungen der Verfassung beinhalten, nicht nur eine Mehrheit der Volksstimmen, sondern auch eine Mehrheit der Kantone erreichen müssen.

Das ist eine Art Checks and Balances Politik nach Schweizer Art. Konkret bedeutet es, dass ein kleiner Kanton wie Appenzell mit ein paar tausend Einwohnern genau gleich viel Einfluss auf die Entscheidung hat wie der bevölkerungsreiche Kanton Zürich.

War dieses Verhältnis früher einigermassen stimmig, so stimmt das heute nicht mehr. Heute entspricht 1 Appenzeller ca. 150 Zürchern. Was natürlich zu Problemen führt und das Ständemehr immer wieder in Frage stellt. Um es abzuschaffen, gibt es allerdings ein kleines Problem. Dazu wäre ein Ständemehr notwendig.

Die Konsequenz: da der Kanton und mit ihm einige andere in der Zentralschweiz zutiefst konservativ sind, haben eher urbane, zukunftsgerichtete Vorlagen reduzierte Chancen, angenommen zu werden. Was natürlich zu Frust und Widerstand der eher progressiven Kantone und Einwohner führt.

Aber sehen wir mal, wie es tatsächlich aussieht in diesem störrischen kleinen Ort. Man sollte schliesslich seinen Gegnern immer zuerst in die Augen sehen, bevor man urteilt.

 

Appenzell – the real one

Eigentlich fühle ich mich vom ersten Augenblick an sehr wohl. Der Kaffee im Garten eines Restaurants am Eingang der Altstadt, serviert von einer sympathischen jungen Dame, trägt viel dazu bei. Aber es lässt sich nicht verleugnen, dass Appenzell ein touristischer Hotspot erster Ordnung ist.

Die Altstadt wimmelt von Touristen aus aller Welt (ich dachte, dass Corona die meisten vom Reisen abhält; offenbar habe ich da was nicht verstanden. Vorerst gilt es aber, mein Hotel zu finden, und da die Batterie meines Handys leer ist, muss ich auf altmodische Weise versuchen, die Adresse zu finden. Die junge Dame im Restaurant holt ihr eigenes Handy hervor, öffnet Google Maps und erklärt mir die Richtung. Besten Dank, aber wie schon oft habe ich nach ein paar Minuten die Richtungsangaben vergessen und muss jemand anderes um Hilfe bitten. Dieser junge Herr ist ebenfalls sehr hilfsbereit, nur dass er mich in eine ganz andere Richtung weist.

Aber was soll’s, auch blinde Hühner finden irgendwann ein Korn, und so stehe ich schliesslich vor dem Hotel Stossplatz (ein äusserst seltsamer Name), doch das Etablissement hat noch geschlossen. Ich bin aber nicht geneigt, noch einen einzigen zusätzlichen Meter zu gehen, also mache ich es mir vor dem Eingang bequem, bis die Dame des Hauses auftaucht und mir Einlass gewährt.

 

Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle

Man kommt in Appenzell natürlich drum herum, die wunderbaren bemalten Häuser zu bewundern. Dies dürfte einer der Hauptgründe für den touristischen Erfolg sein. Ich bin tatsächlich beeindruckt, aber nicht nur der Häuser willen, sondern der Atmosphäre in der Stadt. Obwohl ein ziemliches Gewusel herrscht, ist die Stimmung entspannt, freundlich, mit einem Schuss Schlauheit, der so gut zu diesem Volk passt.

Im Unterschied zu seinem Schwesterkanton Appenzell Ausserrhoden hat sich hier die Landsgemeinde erhalten. Der Landsgemeindeplatz scheint geradezu von demokratischer Urkraft zu atmen, auf jeden Fall vermeint man die früheren Herren des Universums ihre Hände (oder ist es das Schwert?) zu heben, um dem lästigen Frauenstimmrecht ein weiteres Mal den Garaus zu machen.

 

One of those wonderfully painted Houses in Appenzell

... and another one of many

Ich gönne mir – obwohl des Wetter wieder in Richtung Regen kippt – im Garten eines Restaurants eine Appenzeller Spezialität, die man nicht verpassen sollte. Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle. Zahlreiche Touristen, aber auch viele Einheimische spazieren vorbei, man grüsst sich, es scheint, als würde sich hier jeder kennen. Was wahrscheinlich auch so ist.

Dann endgültig Rückzug ins Hotel, es dauert nicht lange, bis Blitze die Nacht erhellen, und der Regen voller Wut und Kraft an meine Fenster schlägt, so dass ich sie schleunigst schliessen muss. Es sieht nicht gut aus für den nächsten Tag. Weitere starke Gewitter sind angesagt, und wenn ich an die Gratwanderung in Richtung Kronberg denke, wird mir etwas mulmig. Wenn ich etwas hasse beim Wandern, sind es Gewitter.

Aber mal sehen. Ich möchte schlafen, aber es scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben. Zuerst ärgert mich eine Mücke im Zimmer, dann weckt mich der Donner wieder auf, schliesslich bin ich hellwach und denke an die anstrengende Etappe vom Samstag. Nach Mitternacht gebe ich auf und schlucke eine Schlaftablette, was mich am Morgen garantiert als schlafwandelnden Zombie wecken wird.

 

Song zum Thema:  Muse – Resistance

Und hier geht die Wanderung weiter … zur Chamhaldenhütte nahe der Schwägalp

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die ersten Schritte

Seltsam.

Für ein paar Augenblicke taucht ein grüner Dschungel vor dem Fenster auf, kaum zu glauben, aber für ganz kurze Zeit ist weder ein Gebäude noch eine Strasse noch irgendein Zeichen der Zivilisation zu sehen. Ein seltener Anblick in unserem zugepflasterten Land.

Ich sitze im Zug in Richtung Bodensee, schaue mit immer noch müden Augen aus dem Fenster, bis Winterthur eine bekannte Strecke zur HWV (heute ZHAW genannt, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften), damals ein wöchentlicher Ausflug vor eine Klasse gelangweilter Studenten. Sind irgendwelche Erinnerungen geblieben? Nicht viel.

Wenn ich von einem guten Schlaf sprechen wollte, wäre er entschieden anders als die mühsamen 5 Stunden der vergangenen Nacht. Was mich überrascht, denn normalerweise schlafe ich auch vor langen Reisen wie ein Baby. Es muss wohl etwas damit zu tun haben, dass ich diesmal alles andere als sicher bin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Anyway, auch wenn das Omen ein schlechtes gewesen sein sollte, so bin ich trotzdem mit Vorfreude und einem schweren Rucksack auf dem Weg. Keine Ahnung, ob ich diese Strecke schon mal gefahren bin, die Ostschweiz ist bis anhin eher selten auf meiner Reiseliste gestanden. Auf jeden Fall geniesse ich die letzten Stunden in sitzender Stellung, denn dieses Privileg wird in den nächsten Wochen ein eher seltenes Phänomen sein.

 

Der heutige Plan

Die Angaben in der schweizmobil Plattform sind klar und unmissverständllich:

Da wartet also bereits am ersten Tag eine ziemliche Herausforderung. Aber mal sehen, wie heiss die Suppe gegessen wird …

 

Stage 1: from Rorschach to Trogen
Etappe 1: von Rorschach nach Trogen

 

Die ersten Schritte (von geschätzten 800’000)

Dann nochmals ein Zugwechsel, die Züge werden immer kleiner, die Passagiere weniger, und so bin ich für kurze Zeit beinahe allein im Abteil. Neben mir hat sich ein Paar mit einem ziemlich grossen Hund breit gemacht. Sie sehen aus wie Wanderer, auf jeden Fall trägt der Hund sein eigenes Gepäck umgeschnallt. Der Herr des Hauses spricht an seinem Handy englisch, es klingt nach sehr wichtigen Problemen. Für ihn ziemlich weltbewegend, den anderen (auch der Ehefrau) entlocken sie im besten Fall ein müdes Lächeln.

Dann Rorschach am Bodensee. Und wieder keinen blassen Schimmer, ob ich schon mal da war. Der See spiegelt einen grauen Himmel, durchzogen mit blauen Einsprengseln, vielleicht gibt es doch noch einen sonnigen Tag. Was mir sehr entgegenkommen würde. Ich nehme zum ersten Mal die Karte zur Hand und befinde mich – hurra – auf dem Alpenpanoramaweg.

Das grüne Schild mit der Nummer 3 und der Bezeichnung Alpenpanoramaweg wird mich nun begleiten, als Führer, als Wegweiser, als Begleiter durch Stock und Stein, als Fluchtort, wenn alle Richtungen unklar sind. Was ich noch nicht weiss, ist die tiefe Verbundenheit mit diesem blöden Schild, die sich im Verlauf der Wanderung ergeben wird. Aber dazu sehr viel mehr später …

Auf jeden Fall vergesse ich, das allererste Schild zu fotografieren, aber voilà, das hier ist das zweite, kurz bevor der Weg zum ersten Mal ansteigt. Nicht zum letzten Mal, wie man annehmen darf …

 

Endlich Wald, Wiesen, Natur

Die ersten Schritte führen durch bewohnbares Gebiet, man grüsst mich beiläufig, offenbar sind schwerbepackte Wanderer kein seltenes Phänomen. Oder entdecke ich da ein leises mitleidiges Grinsen im Gesicht des Mannes, der den Hund spazieren führt? Egal.

Und siehe da, das Ehepaar mit dem Hund scheint tatsächlich den gleichen Weg zu nehmen. Sieht doch schon mal gut aus. Ich bin nicht der einzige Spinner.

 

Path leading upwards
Endlich der erste Wanderweg

Und dann bleibt Rorschach hinter mir zurück, es geht aufwärts, die erste Abzweigung auf eine Wiese, die steil hinauf direkt in den Wald führt. Nun erlebe ich zum ersten Mal das, worauf ich mich gefreut habe – Waldwege, schattig, nach Tannen und Kräutern riechend, manchmal steil, dann wieder eben, abwechselnd schweisstreibend und wieder entspannend.

 

through dense forest

Der See blickt ein letztes Mal herauf, blinkend, ganz blau, immer kleiner werdend. Manchmal ist die Schweiz wirklich eine Postkartenidylle.

Schön. Einfach nur schön.

 

Just beautifil, the lake in the background

 

Und schon fehlt der Wegweiser

Es dauert tatsächlich nicht lange, bis ich etwas verloren (nicht das letzte Mal) vor einer Kreuzung stehe. Kein Wegweiser, es gibt zwei Optionen rechts oder links. Ich hasse das, denn meine Erfahrung zeigt, dass wenn ich auf meine Intuition zähle, es garantiert schief geht. Ein älteres Ehepaar, stockbewaffnet, aber mit leichtem Gepäck unterwegs, leistet Hilfe. Danke schön!

Das erste Zwischenziel Wiehnachttobel taucht in der Ferne auf. Ein eigenartiger Name. Während des Wanderns hat man viel Zeit, über Dinge nachzudenken, die einem normalerweise total schnuppe sind. Beispielsweise über diesen seltsamen Namen. Hat das was mit Christi Geburt zu tun? Ist Jesus möglicherweise gar nicht in Bethlehem, sondern in diesem winzigen Kaff geboren worden? Und keine Seele hat davon Kenntnis? Man müsste den Papst darüber informieren, aber eben, das sind diese komplett blödsinnigen Gedanken beim Wandern.

Ich hoffe auf sinnvollere Überlegungen im Verlauf des Weges.

Selbstverständlich fehlt im Dorf schon wieder der Wegweiser, und wieder ist das Ehepaar zur Stelle. Wir gehen eine halbe Stunde gemeinsam weiter, während ich von meiner geplanten Wanderung schwärme (was den beiden ein kritisches Grinsen entlockt) und sie als Entgegnung von einer eigenen, sehr besonderen Wanderung erzählen. Sie haben es geschafft, sämtliche Kantonshauptorte zu durchwandern, ohne ein einziges Mal eine Strecke zu kreuzen. Eine über mehrere Jahre in Etappen erfolgte Wanderung, eher ein logistisches als ein anstrengendes Unternehmen.

 

Heiden

Die Sonne ist nun ein brennendes rundes Ding am Himmel, der Rucksack wird schwerer, doch der Spirit ist da.

Eine Verzweigung. Nach meiner Karte müsste der Weg nach Heiden rechts abbiegen, aber das Ehepaar rät mir, den linken, offenbar kürzeren Weg zu nehmen. Okay, warum nicht. Allerdings führt die Asphaltstrasse den Hang hinunter, Kuhglocken begleiten mich, und schon bald frage ich mich, ob mich die beiden loshaben wollten. Wer will es ihnen verübeln.

 

My first Bench, just wonderful

Der Weg führt in eine tiefe Schlucht hinunter und logischerweise ebenso schweisstreibend wieder hinauf. Immerhin ist da ein Baum, ein Bank, ein Plätzchen für das erste Picknick. Das erste von zahlreichen weiteren, die folgen werden.

Dann erreiche ich Heiden, nun mitten im Herz des Appenzellerlands, genau richtig für einen wohlverdienten Kaffee. Meine beiden Bekannten haben das Dorf ebenfalls erreicht, grüssen beim Vorbeigehen.

Allzu viel weiss ich nicht über das sogenannte Biedermeierdorf, offenbar wegen seines klassizistischen Ortskerns (den ich aber nicht entdecken kann; möglicherweise fehlt mir dazu die klassizistische Ausbildung). Es ist vor allem bekannt als Kurort. Viele Leute sind nach einem Herzinfarkt hier gelandet, um in der bezaubernden, vor allem wahrscheinlich unglaublich langweiligen Umgebung, ihre Pumpe wieder auf Vordermann zu bringen.

Wahrscheinlich gäbe es noch einiges zu sagen über das wirklich schöne Dorf, aber der Wanderer muss weiter.

 

Der Kaienspitz

Es geht nun aufwärts, dem Kaienspitz entgegen, der höchsten Erhebung des heutigen Abschnitts. Der Aufstieg ist lang und mühsam, wenn auch die Anstrengung durch ein leichtes kühles Lüftchen gemildert wird. Ich kreuze einen seltsamen Bauernhof mit Hunden, frei laufenden Ziegen, Gänsen, Hühnern und wohlig grunzenden Schweinen, die mir einen gelangweilten Blick zuwerfen.

 

Landscape overlooking lake of Constance typical Appenzeller houses

Während einer der Hunde begeistert an meinen Beinen hochspringt und dafür eine Portion Streicheleinheiten erhält, grüsse ich eine junge Frau, die offenbar zum Hof gehört, aber nur gebrochen Deutsch spricht. Wenn es heutzutage noch von Hippies bewirtschaftete Höfe gibt, dann muss das einer davon sein. Leider macht das Girl einen scheuen und abweisenden Eindruck, sonst hätte ich nachgefragt. Es sind ja genau diese Begegnungen, die das Wandern so besonders machen.

Der Kaienspitz entpuppt sich als wunderbarer Aussichtspunkt für die ganze Umgebung. Der Blick streift bis weit nach St. Gallen und Wil hinaus, will sich gar nicht mehr lösen von der hinreissenden Landschaft.

 

Allerdings geht es anschliessend genau so steil abwärts wie vorher aufwärts, und zum ersten Mal melden sich meine Knie, die die ungewohnte Anstrengung offenbar alles andere als angenehm empfinden. Habe ich erwähnt, dass am Tag vor der Abreise mein rechtes Knie bei einer dummen Bewegung im Garten arg gezwickt hat? Es hat mir einige Sorgen bereitet, aber bis zum Abstieg vom Kaienspitz habe ich dies erfolgreich verdrängt.

Nun, sie werden sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, sind wir doch erst ein paar wenige Stunden unterwegs. Ich versuche also, langsam und vorsichtig zu gehen, bemüht, die Belastung möglichst gering zu halten.

 

Rehetobel

Dann Rehetobel, und schon der nächste Fehltritt im übertragenen Sinn. Man folgt – gemäss Karte – der Asphaltstrasse ins Dorf hinunter, oder man könnte doch, wie ich spekuliere, einem schmalen Pfad dem Abhang nach ans Ziel gelangen. Aber eben, Lektion Nummer eins, man folge der Karte und nicht der eigenen, meist falsch liegenden Intuition.

Auf jeden Fall führt der Weg anfänglich wie gedacht einer duftenden Wiese entlang bis zu einem Baum, der unbedingt fotografiert werden will. Er öffnet den Blick auf Rehetobel und scheint auch sonst ein Exemplar besonderer Baumschönheit zu sein.

 

View to Rehetobelproud tree, with afternoon sun

Leider entpuppt sich die von mir gewählte Variante als ziemlich blöd, weil ich einen grossen Umweg durch steil abwärts führenden Teerstrassen nehmen muss, die meinen lädierten Knien empörte Aufschreie entlocken. Ansonsten gibt es zu diesem Dorf nicht viel zu sagen, es macht den Anschein, dass hier wohlhabende Leute wohnen, die zahlreichen SUVs und die stillen Strassen, die nach Schlafdorf riechen, zeugen nach Geld, viel Geld.

 

Das elende Chaschtenloch

Wenn mich nichts täuscht, entdecke ich auf dem gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Trogen. Mit neuem Elan mache ich mich an das letzte Teilstück, genannt Chaschtenloch. Anfänglich ist nicht viel von einem Loch zu sehen, obwohl der Weg immer weiter nach unten führt und der Abhang zu Trogen hinauf immer steiler erscheint.

Der Weg ist aber leider nicht so nett, wie ich sie liebe, sondern steil und mühsam. Immerhin durch schattige Wälder, dann wieder entlang blühender Wiesen, die das Gehen dazwischen zu einer einzigen Freude machen.

 

Walk through blossoming meadows

Allerdings, sobald die Talsohle bei einem munter sprudelnden Bach erreicht ist, beginnt ein Aufstieg, der es in sich hat. Ich habe der Wirtin des Hotels Schäfli versprochen, sie anzurufen, wenn ich in der Nähe bin, sie weist mich darauf hin, dass ich den letzten Aufstieg nach Trogen langsam angehen soll.

Es hätte diese Warnung nicht gebraucht, denn nach bald 7 Stunden ist der Level meiner Batterie in den roten Bereich gerutscht. Mamma mia! Es handelt sich um eine an sich breite, aber äusserst steile Naturstrasse, ohne Stufen, ohne irgendwas, was den Tritt einfacher machen könnte, also mühe ich mich schwer atmend, schwitzend und fluchend den Abhang hinauf, muss mich dazwischen mal in den Klee fallen lassen, um den Puls auf ein normaleres Level zu bringen.

Der Rucksack scheint nun tonnenschwer zu sein, in ganz schwachen Momenten frage ich mich, warum ich mir das antue. Wird aber nicht das letzte Mal sein.

 

Trogen

Nicht mal mehr fluchend (dazu fehlt mir die Puste), nur noch keuchend erreiche ich schliesslich den alten Landsgemeindeort, wo abwechselnd mit Hundwil bis in die 90-er Jahre die Landsgemeine stattfand. Lange vorbei, schade wie mir scheint, aber es haben wohl einige schwerwiegende Faktoren dazu beigetragen (z.B. auch die Wahlen, die im Unterschied zum Kanton Glarus auch anlässlich der Landsgemeinde durchgeführt wurden).

Das Hotel Schäfli hat heute Ruhetag, also muss ich der Hausherrin per Handy meine Ankunft bekanntgeben. Zwei Biker, die einen Teil des Panoramawegs mit den Mountainbikes absolvieren wollen, sind gleichzeitig eingetroffen, und so okkupieren wir gemeinsam das alte Hotel, dessen Vergangenheit aus allen Ritzen zu dringen scheint. Aber das Zimmer ist okay, mehr brauche ich eigentlich nicht für die nächste Nacht.

Was allerdings erstaunt, ist die Tatsache, dass es neben dem Schäfli, das geschlossen hat, noch ein einziges Restaurant im ganzen Dorf gibt, das geöffnet ist (heute zum ersten Mal seit der Coronapandemie). Ich sitze also kurze Zeit später geduscht und mit schmerzenden Knien im Outdoorbereich des Restaurants vor einem Bier. Es ist nicht nur das erste und wohlverdiente, sondern auch das erste in einer langen Reihe von ebenfalls wohlverdienten Bieren.

Eigentlich bin ich bereits zum zweiten Mal hier, aber auch heute Abend erscheint mir das Dorf zwar architektonisch eine Augenweide zu sein, aber ansonsten so tot wie ein Dorf nur sein kann. Ich stelle mich nach dem Essen auf den grossen Platz, wo früher die Landsgemeinde stattfand, und warte auf Leben. Aber da ist nichts. Keine Menschenseele, kein Laut ausser Vogelgezwitscher, nicht mal ein Auto oder ein Motorrad. Ein seltsames Gefühl macht sich breit.

 

typical architecture in Trogen

With the famous tavern signs

Was ist hier geschehen? Ist es wie der Niedergang vieler Gemeinden in dieser Grössenordnung, die den Jungen keine Zukunft bieten und langsam aber sicher einem sanften Schlaf entgegendämmern?

Mit diesem etwas traurigen Gedanken mache ich mich auf, meine müden Gelenke (mit grosszügigen Spenden von Ibuprofen und Voltaren) und alles Dazugehörige flach zu legen. Es ist noch hell vor dem Fenster, als ich mich aufstöhnend hinlege, in Gedanken bereits beim morgigen Tag, der die nächsten Herausforderungen bereit hält …

 

Song zum Thema:  The Prodigy – Firestarter

Und hier geht der Trail weiter … nach Appenzell