Beim Erwachen, es ist noch Nacht, stelle ich aus alter Gewohnheit das iPhone ein, und da, ein paar Schlagzeugtakte, und dann steigt wie aus dichtem Nebel eine Melodie auf, eine zerbrechliche Stimme.
Joy Division. Meine Lieblingsband der späten Siebzigerjahre.
Ian Curtis. Ihr fragiler Frontmann.
Während ich mit geschlossenen Augen der sonoren Stimme von Curtis lausche, spüre ich einmal mehr die dunkle Trauer und Verlorenheit darin. Hell’s darker Chambers. So gesehen war sein Selbstmord nicht überraschend gewesen.
Einer der traurigsten Songs aller Zeiten.
Here are the young men, the weight on their shoulders
Here are the young men, well, where have they been?
We knocked on the doors of Hell’s darker chamber
Pushed to the limit, we dragged ourselves in
Watched from the wings as the scenes were replaying
We saw ourselves now as we never had seen
Portrayal of the trauma and degeneration
The sorrows we suffered and never were free
Man könnte auch mit optimistischerer Musik den Tag beginnen.
Positivere Vibes
Ich hoffe, dass die heutige Exkursion meine durch Joy Division ins Pessimistische gedrückte Stimmung aufhellt und im Vergleich zur gestrigen mehr Insight in die Besonderheiten des Nationalparks bringt. Und vor allem, dass der verantwortliche Guide mehr als nur alle dreissig Minuten den Mund öffnet.
Es ist auch eine Einsicht (die ich eigentlich schon lange habe, aber immer wieder zu vergessen scheine), dass touristische Angebote genauso zweifelhaft sein können wie die Wetterprognosen oder die Börse. Mal korrekt, mal nicht.
Aber was soll’s (oder übersetzt „what the fuck!“, passt zum wunderbaren Titel eines kürzlich gelesenen Buches):
The Subtle Art of Not Giving a F*ck: A Counterintuitive Approach to Living a Good Life
In this generation-defining self-help guide, a superstar blogger cuts through the crap to show us how to stop trying to be „positive“ all the time so that we can truly become better, happier people.
For decades, we’ve been told that positive thinking is the key to a happy, rich life. „Fuck positivity,“ Mark Manson says. „Let’s be honest, shit is fucked and we have to live with it.“ In his wildly popular Internet blog, Manson doesn’t sugarcoat or equivocate. He tells it like it is—a dose of raw, refreshing, honest truth that is sorely lacking today. The Subtle Art of Not Giving a F**k is his antidote to the coddling, let’s-all-feel-good mindset that has infected American society and spoiled a generation, rewarding them with gold medals just for showing up.
Das Kanu und die Krokodile
Der Tag beginnt geordnet, nicht so wie gestern, es gibt einen Plan, eine durchdachte Organisation des Tages, mit dem Ziel, möglichst viel Positives zu generieren.
Das TukTuk fährt zur Abwechslung mal in die andere Richtung, sodass ich nun auch in dieses abgelegene Quartier Saurahas einen kurzen Einblick erhalte.
Am Rand eines Flusses, offenbar ein Zufluss zum gestrigen, steigen wir eine Böschung zu einigen schmalen Kanus (heissen die Dinger Kanus oder Kähne oder Boote oder wie? Und was ist der Unterschied? Grösse?) hinunter, die mir in der Zwischenzeit bekannt sind. Allerdings sind wir heute allein, nur der Guide, zwei Bootsmänner (oder eher Bootsjungen) und ich.
Bedrohte Gariale
Es dauert nicht lange, und die lange, spitze Schnauze eines Garials taucht aus dem Wasser, zwei tote Augen wie bei Haien (remember „Jaws“) werfen uns einen kurzen, desinteressierten Blick zu und schliessen sich gelangweilt.
Die Ghariale sind extrem bedroht. Diese besondere Spezies lebt nur noch hier und an einigen wenigen Orten im Norden Indiens und muss mit viel Aufwand vor dem Aussterben bewahrt werden.
Die Aufzucht und spätere Auswilderung in der Krokodil-Station, so wie gestern gesehen, ist also notwendig, weil die frei lebenden Krokodile keine Überlebenschance haben. Einer der Hauptgründe: von der Industrie verseuchtes Wasser im oberen Teil des Flusses.
Einmal mehr spielt also der Mensch die Rolle des Richters und Henkers in einem. Es ist zum Kotzen.
Langsame Fahrt den Fluss hinunter
Mit gemächlichen Schlägen bringen uns die beiden Bootsjungen den Fluss hinunter. Das leise Klatschen der Ruder und ein vielstimmiges Konzert von Vogelstimmen sind die einzigen Geräusche in der lastenden Stille.
Manchmal kreuzen oder überholen wir ein anderes Boot, ein kurzes Nicken, vielleicht sogar ein Lächeln.
Der Himmel ist noch grau, auf jeden Fall hat sich ein vorgestelltes morgendliches Blau rar gemacht. Aber wir nehmen an diesem stillen Morgen auch jede Schattierung von Grau, auch grau passt zum Cocktail aus süss-bitteren Aromen, die um die Nase schweben, den Klängen von Wasser und Tieren und sonst nichts.
Reiher, Störche und andere Vögel
Immerhin kriege ich nun – Fotos sei Dank – die ersehnte Auskunft zu den Vögeln in Pokhara. Es handelt sich tatsächlich um Reiher (Egrets), genauer gesagt Fischreiher, sie sind im Unterschied zu vielen anderen Vogelarten (noch) nicht bedroht.
Was allerdings für die seltenen Störche, die hier leben, nicht zutrifft. Wie für so viele andere Tiere wird ihr Lebensraum immer begrenzter.
Manchmal denke ich, dass der Song am frühen Morgen haargenau zu diesen Beobachtungen und Erkenntnissen passt.
The weight on their shoulders.
Diese Last haben wir zu tragen. Für immer und ewig.
Pessimistische Erkenntnisse
Man kann sich allem entziehen. Indem man den Kopf in den Sand steckt. Oder nicht hinsieht und nicht hinhört.
Aber alles, was mir an diesem wunderschönen Morgen Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass wir – wenn wir nicht aufpassen – am Rande eines gigantischen Friedhofs stehen. Der Friedhof ist gefüllt mit all den Tieren und Pflanzen, die durch den Mensch, durch uns, für immer verschwunden sind.
Und jetzt stehe ich hier, an einem Ort, der vermeintlich dafür steht, dass sich der Mensch (oder zumindest einige) sich kümmert. Dass es ihm nicht egal ist, was mit der Natur geschieht. Dass wir etwas tun müssen. Einhalt gebieten.
Aber alles, was ich höre, ist erschreckend.
Dass die Tigerpopulation zwar wächst, aber durch Inzucht gefährdet ist.
Dass viele andere Tierarten durch das gleiche Problem bedroht sind.
Dass – wie oben festgestellt – Ghariale nur noch mittels Aufzucht überleben können.
Dass eine ganze Storchenart vom Aussterben bedroht ist.
Dass durch die Klimaveränderung und die daraus entstehenden Überschwemmungen zahlreiche Nashörner einfach weggeschwemmt werden und kläglich ertrinken.
Dass die Elefanten, die für Touristenausflüge benutzt werden, durch die ungewohnten schweren Lasten Rückenprobleme entwickeln.
Dass der drohende Klimawandel bereits jetzt schlimme Folgen für den ganzen Park hat.
Was soll man da sagen? Ich weiss es nicht.
Versuch einer Aufheiterung
Der Guide, dem meine zunehmende Schweigsamkeit nicht entgangen ist, versucht ein paar aufheiternde Informationen. Immerhin ist vorläufig das Schlimmste verhindert worden. Die Populationen sind trotz der obig beschriebenen Probleme gewachsen, die Wilderei hat dank Unterstützung durch die Regierung sprich Armee abgenommen. Durch den Tourismus ist vorläufig auch die Finanzierung gesichert.
Ich bin nur ein bisschen beruhigt.
Tiger oder Nashorn?
Beinahe am Ende unserer Tour erklingt aus dem nahen Wald ein archaisches Geheul. So stellt man sich die Zeit der Dinosaurier vor, mit wildem Angriffsgebrüll und Todesschreien.
Der Guide glaubt zuerst an den Angriff eines Tigers, ändert dann aber die Meinung und denkt eher an den Kampf zweier Nashörner. Eines der beiden scheint aber definitiv den Kürzeren gezogen zu haben. Was dann geschieht, wage ich mir lieber nicht vorzustellen.
Elefantencamp
Am Ende der Tour ein Elefantencamp. Es ist grosszügig angelegt; es sind mindestens zwanzig stattliche Elefanten untergebracht. Riesige Bullen mit gewaltigen Stosszähnen stehen angebunden an ihren Plätzen. Offenbar wäre es zu gefährlich, sie frei laufen zu lassen.
Man möchte ihnen nicht im Freien begegnen.
Andere kommen zurück, vom Feld, von der Arbeit? Sie scheinen es zu geniessen, genauso wie ihre Betreuer, die Mahuts.
Menschliche Dummheit
Manchmal nimmt die menschliche Dummheit Züge an, die angesichts der Erkenntnisse des Morgens noch erschreckender wirken. Auf den ersten Blick scheinen sie lustig, es ist sozusagen der Mensch in seiner ursprünglichsten Form: etwas dumm, ungeduldig, aggressiv, auf seltsame Weise unschuldig in seiner Blödheit.
Eine einfache dramaturgische Versuchsanordnung: da die Strasse an einigen Stellen tiefe Löcher aufweist, die sich bei Regen mit Wasser füllen, soll sie ausgebessert werden. Es fahren nun also Lastwagen heran, leeren Schotter und Sand aus, sodass die Strasse alle paar Meter mit einem meterhohen Haufen bedeckt ist.
Die entsprechenden Maschinen zum Verteilen des Schotters stehen bereit, man kann annehmen, dass in einer Stunde wieder gefahren werden kann.
Eine Stunde warten? Auf keinen Fall. Also fahren ein paar Vehikel auf Teufel komm raus los, Jeeps, Minibusse, alles, was Räder hat. Und alle bleiben stecken. Versuchen es vorwärts. Rückwärts. Die Motoren heulen, der Sand spritzt nach allen Seiten, die Räder fressen sich tief ein. Erfolgslos.
In der Zwischenzeit hat sich eine stattliche Menge Zuschauer versammelt, und alle lachen, klatschen, verspotten die unglücklichen Driver, die mit hochrotem Gesicht versuchen, sich aus der selbst angerichteten Bredouille zu retten.
Wie sagte ich doch vom Mensch? Auf seltsame Weise unschuldig in seiner Blödheit.
Auf dem Heimweg ein aufmunterndes Bild – Elefanten auf dem Weg nach Hause.
Und wieder kein Strom
Langsam wird es zur Gewohnheit, dass jeweils am Abend der Strom ausfällt. Mal durch Gewitter, dann wieder durch Reparaturarbeiten oder was auch immer.
Dies bedeutet jeweils auch, dass der hauseigene Generator zwar Strom fürs Licht und anderes Notwendige bereitstellt, nicht jedoch für den Ventilator im Zimmer. Also komme ich auch in der letzten Nacht zu einem Schlaf in heisser (>35 Grad) und feuchter Luft, während draussen ein kühlendes Gewitter tobt, das allerdings nicht bis in meine Unterkunft gelangen kann …
PS Song zum Thema: The last Words – Animal World
Und hier geht die Reise weiter …