Zurück in Kabul, etwas müde vom anstrengenden Trip, aber gleichzeitig glücklich über die Erlebnisse im Baniyantal, über die Buddhas und die Seen von Band-e-Amir. Wir fühlen uns einmal mehr beglückt, beschenkt, und wenn man an die unerträglichen Veränderungen der letzten Jahre denkt, dann bleibt nur Trauer und Unverständnis.
Der Aufenthalt in Kabul geht dem Ende entgegen, Pakistan ruft, der Kyberpass, eine neue Welt, eine neue Entdeckung, so hoffen wir. Unsere Bündnerfreunde Beatrice und Ruedi sind bereits abgereist, ein Visumproblem zwingt sie zur früheren Abreise. Wir werden sie wiedersehen.
Doch Kabul hat noch einiges zu bieten, nicht umsonst ist die Stadt in den 70-Jahren ein Ort des Aufbruchs, der kulturellen und sozialen Veränderungen. Es gibt Theater, Kinos und Kunstgalerien. Eine lebendige afghanische Musikszene, insbesondere für die traditionelle Musik.
Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, aber es war auch eine Zeit des Wohlstands und der Modernisierung, ein wichtiger Ort für die afghanische Kultur und Kunstszene.
Alles vorbei, alles Vergangenheit.
Wir tauchen also ein in alles, was die Stadt ausmacht. Wir schlendern durch die nun bekannten Strassen und Gassen, kaufen Lebensmittel und ärgern uns dabei, dass man auch beim Kauf von ein paar Äpfeln für ein paar Afghanis nicht ums Feilschen herumkommt.
Die Strassen sind voll, an den Ständen drängen sich die vollverschleierten Damen, die Männer tragen Bärte und Turbane und lange luftige Beinkleider, die man nur mit etwas Phantasie als Hosen bezeichnen kann.
Es ist laut, das Stimmengewirr zeugt von heftigen Diskussionen, wahrscheinlich geht es um den Preis, erinnert an Herat und Kandahar. Viele Einwohner sind immer noch arm, die von ausserhalb kommenden Besucher noch ärmer. Da bedeuten ein paar Afghanis mehr oder weniger einen grossen Unterschied.
Fremde Welten
Wir werden kaum beachtet, die Touristen aus den fernen Ländern sind längst ein Teil des Stadtbilds geworden. Allerdings weist der eine oder andere Blick etwas auf, das mehr als nur Neugier beinhaltet. Sobald man den Blick erwidert, weicht er aus, als wäre er bei etwas erwischt worden, was geheim bleiben muss.
Liegt in diesem Blick bereits das, was Jahre später die gestörte Beziehung zwischen den islamischen Ländern und dem Westen erklären würde? Abwehr, Unverständnis? Wir wissen es nicht, doch es bleibt ein Fragezeichen.
An einem Abend, es ist in der Zwischenzeit recht kalt geworden, streune ich durch die Strassen auf der Suche nach einem passenden Geburtstagsgeschenk für Monika, und werde bei einer vollverschleierten Dame am Strassenrand fündig. Ihre Augen schauen mich durch das Netz vor dem Gesicht an, doch ich kann ihren Blick nicht deuten. Zuviel an unterschiedlicher Welt liegt zwischen uns.
Doch mindestens einen Höhepunkt wartet noch auf uns, es ist Wochenende, und so wie in unseren Breitengraden Fussball gespielt wird, treffen sich hier stattliche Männer auf stattlichen Pferden, um den afghanischen Nationalsport zu betreiben.
Buzkashi – das Spiel für Männer auf Pferden und einem Schafkadaver.
Wer hätte ahnen können, dass dieser Anlass eines der aufregensten Spiele meines ganzen Lebens sein würde.
Buzkashi
Wir finden uns also zeitlich im riesigen Stadion ein, man könnte meinen, es mit dem Endspiel einer Fussball-WM zu tun haben. Tausende Zuschauer haben sich im Ring versammelt, in Erwartung des Spektakels, das hier abgehalten werden soll.
Nun, ehrlich gesagt haben wir keine Ahnung, was uns erwartet. Wir sind durch andere Traveler darauf aufmerksam gemacht worden. „Auf keinen Fall verpassen, das Beste überhaupt!“
Nun gut, wir sind gespannt.
Aber hier ein paar Hinweise auf das Spiel und seine Regeln.
Buzkashi ist ein traditionelles Reiterspiel in Afghanistan und anderen persisch- und turksprachigen Teilen Zentralasiens. Es ist auch der Nationalsport von Afghanistan. Das Spiel wird von 20 und mehr Spielern gespielt, wobei bereits Spiele mit mehr als 1000 Teilnehmern stattgefunden haben.
Zu Beginn des Spiels wird eine tote Ziege, manchmal auch ein totes Kalb, auf dem Spielfeld abgelegt. Das Ziel des Spiels ist es, die tote Ziege im Galopp aufzunehmen und vor dem Preisrichter abzulegen. Gespielt wird jeder gegen jeden, was das Spiel sehr unberechenbar macht. Es ist alles erlaubt, um an die Ziege zu kommen.
Wem es gelungen ist, die Ziege an sich zu bringen, der ist im nächsten Moment auch mit ziemlicher Sicherheit Mittelpunkt eines dichten Reiterpulks, der in vollem Galopp über die Steppe fegt und dessen einziges Ziel es ist, den momentanen Inhaber der Ziege davon abzuhalten, zum Preisrichter zu gelangen.
Das Spiel kann durch die mitunter sehr große Zahl an Reitern sehr lange – bis zu einigen Tagen – dauern. Da das Spiel sehr hart ausgetragen wird und selbst der Gebrauch der Reitpeitsche gestattet ist, tragen die Spieler normalerweise dicke Schutzkleidung und einen Kopfschutz. Vorgeschrieben ist ein solcher Schutz nicht. Der Gewinn eines Buzkaschi ist mit hohem sozialen Prestige verbunden und kann auch einen hohen Preis – oftmals ein wertvolles Pferd – bedeuten.
Besser als Fussball
Hier sitzen wir nun also, inmitten enthusmiasierter Zuschauer, die meisten Einheimische, dazwischen ein paar wenige Ausländer, an ihren Kleidern und hellen Gesichtern zu erkennen. Ich weiss nicht, ob sich ihre Gesichter, so wie meines, im Verlauf des Spiels ebenso schnell röten werden, denn das, was sich in den nächsten Stunden abspielt, hat alles, um den Puls in die Höhe schnellen zu lassen.
Es gibt im Fussball Spiele, die für alle Ewigkeiten ins kollektive Gedächtnis eingeflossen sind. Ich erinnere mich mit einem leisen Schauer der Freude an den Adrenalinstoss anlässlich des Jahrhundertspiels zwischen Deutschland und Italien an der WM 1970 in Mexiko. Dieser Halbfinal für die Annalen, dieses permanente Hin- und Her zwischen den beiden Mannschaften, vielleicht die besten, die sie je hatten, ein Höhepunkt in der fussballerischen Welt, nie mehr erreicht, nie mehr in gleichem Mass bedauert, als das Spiel nach 120 Minuten zu Ende war.
Die wilden Männer
Nach dem Anpfiff oder wie immer man dem Zeichen sagen soll, dass die Hatz starten soll, sind wir erst einmal ziemlich ahnungslos, was die Regeln des Spiels anbetrifft.
Es gibt einen Kadaver (ein Schaf oder eine Ziege oder die Überreste eines anderen beklagenswerten Wesens?), offenbar im Zentrum des Interesses. Es könnten grob geschätzt etwa zwanzig Reiter beteiligt sein, vielleicht sind es auch mehr, denn der dichte Haufen von Pferden und Reitern ist ziemlich unübersichtlich.
Auf jeden Fall geht sofort nach dem Start eine Hatz los, die nicht nur den Pferden und Spielern den Atem raubt, sondern auch den Zuschauern.
Überwältigt
Ich frage mich nach einigen Minuten, ob ich jemals etwas Vergleichbares gesehen habe. Die Antwort ist definitiv nein. Obwohl sich das Gedränge manchmal am anderen Ende des Stadions abspielt, reckt man den Hals, um zu sehen, was vor sich geht, ob einer der furchtlosen Reiter es geschafft hat, den Kadaver zu packen und davonzureiten.
Es dauert eine Weile, bis wir verstanden haben, dass nicht zwei Mannschaften gegeneinander kämpfen, sondern dass jeder gegen jeden spielt. Im günstigsten Fall erkennen wir, wo sich der Kadaver befindet, doch meistens sehen wir nur einen wilden Tanz von Reitern und Pferden.
Wenn wir Glück haben, preschen die Kämpfer an unserem Standort vorbei, schnell wie der Wind, und einen winzigen Augenblick lang wird klar, dass einer der schnellsten Reiter den Kadaver auf sein Pferd gezogen hat, und nun in einem Tempo über die Wiese galoppiert, dass der Rest der Bande nur noch hinterherhetzen kann. Staub wirbelt auf, die Pferde schnauben, die Zuschauer toben, als er den Kadaver in den Kreidekreis legen kann.
Wir haben lediglich eine geringe Ahnung, was geschieht, und trotzdem spürt man das Herz in der Brust schlagen, fühlt den Schweiss auf der Stirn, und ist der festen Überzeugung, noch nie ein derart aufregendes Spektakel gesehen zu haben.
Huldigung
Irgendwann, keine Ahnung ob es ein Zeitlimit gibt, ist das Spiel zu Ende, wer gewonnen hat, ist unklar, vielleicht der grossgewachsene Mann mit dem grimmigen Gesicht, der sich den Kameras und den Blicken der Bewunderer stellt. Auf jeden Fall ist die Begeisterung gross. Seine Brust ist stolz gereckt, sein soziales Prestige erfährt an diesem Tag wohl einen gewaltigen Schub.
Die Reiter setzen sich nieder, eine dichte Traube aus begeisterten Zuschauern schart sich um sie herum, sie sind die Helden der Stunde. Es erinnert an die Ovationen im Fussballstadion, die Fangesänge, die bewundernden Blicke, die den Spielern zugeworfen werden.
Anyway, zeimlich erschöpft durch die Ereignisse im Stadion verlassen wir den Ort des Wunderns.
Und dann noch ein Erdbeben
Auch die schönste Zeit geht einmal zu Ende, wir werden unruhig, spüren den Drang, die Reise fortzusetzen. Wir sind noch lange nicht am Ziel, zuerst kommt Pakistan, ein weiteres riesiges Land, das zu durchqueren ist, und dann erst erreichen wir Indien.
Und so sitzen wir eines Abends auf der Terrasse eines Restaurants, geniessen ein letztes Mal die Aussicht, das Leben aus der Helikopterperspektive, das Essen, die Anwesenheit der Freunde.
Und dann, sozusagen zum Abschied, werden wir durchgeschüttelt, ein Erdbeben. Einige Sekunden lang sind wir starr, hören die Schreie der Menschen, irgendwo bricht was zusammen, und dann ist der Spuk vorbei. Wir sitzen immer noch da, erschreckt, erleichtert, das erste richtige Erdbeben überlebt zu haben.
Wir werten es als eindeutiges Zeichen. Es ist Zeit, weiterzuziehen.
Song zum Jahr: The Rolling Stones – It’s only Rock ’n‘ Roll (but I like it)
Und hier geht die Reise weiter … nach Dschallalabad