Als Wanderer ist man per se jemand, der die Umwelt schützt, der das Klima schont, keine Parkplätze braucht und auch sonst – mein eigener Beitrag zu dieser Theorie – ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist.
Zu meinem Erstaunen findet der Patron des Hotels genau das gleiche und gewährt mir doch gleich einen Rabatt von 10 Franken für meinen grossherzigen Beitrag zur Erhaltung der Welt. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber für einmal komme ich mir doch glatt vor wie ein Held und stolziere mit geschwellter Brust aus dem Hotel, dem heutigen Etappenziel Neuenburg (oder Neuchatel auf gut französisch) entgegen.
Der Patron gibt mir noch einen Tipp: nicht die übliche Route gemäss Trans Swiss Trail nehmen, sondern den Weg über den Chaumont.
Gut, werde ich mir merken.
Der Guide weiss natürlich nichts davon und erzählt zur Etappe folgendes:
Das Val de Ruz entpuppt sich als ideales Wandergebiet. Auffallend die vielen Dorfbrunnen und massiven Kirchtürme. In Engollon befinden sich die einzigen Wandmalereien des Kantons Neuenburg aus der Zeit vor der Reformation. Aussichtsreicher Abstieg nach Neuchâtel.
Länge 11 km; Aufstieg | Abstieg 200 m | 560 m; Wanderzeit 2 h 55 min
Das klingt ja alles wunderbar, aber der Chaumont besitzt eindeutig mehr Überzeugungskraft, also wende ich mich kurz nach Dombresson dem alternativen Weg zu. Und meine tatsächlichen Werte sehen dementsprechend etwas anders aus:
Länge 16.10 km; Wanderzeit 6 h 16 min
Alleen und Schweine und der Chaumont
Der Patron hat nicht zu viel versprochen. Der Weg über die weite Ebene des Val de Ruiz ist ein einziges Vergnügen, auch wenn es meistens entlang Asphaltstrassen geht. Die Umgebung ist aber derart bezaubernd, dass dies zur Nebensache wird.
Und so werde ich einmal mehr zum wandelnden Meditationskünstler, tief in Gedanken versunken, auch wenn alle Sinne offen und empfänglich sind für alles, was mich umgibt.
Nur ein paar zarte Wolken sind die Garnitur zum blauen Himmel, und sonst – nichts, nur Sonne und Wärme und ein Windchen, das mir sachte ums Gesicht weht, ein Gruss vom Himmel. Manchmal gehen mir die Superlative aus, bei so viel Schönheit muss sogar die Poesie schweigen.
Zur Abwechslung grunzen und blöken mir ein paar niedliche Tiere entgegen, man möchte sie am liebsten mitnehmen. Ob der Wirt im Hotel in Neuenburg Freude daran hätte, ist allerdings eine andere Frage.
Das Schaf findet den seltsamen Kerl für knapp zwei Sekunden interessant, dann widmet es sich wieder der Suche nach Essbarem. Das Schwein hingegen, mit ziemlichem Hängebauch (handelt es sich um ein Hängebauchschwein?), ignoriert mich mit leisem Grunzen. Dem sage ich Desinteresse. Ich kann es ihm nicht verdenken.
Man bekommt unwillkürlich den Eindruck, dass dieser blaue Himmel, diese beinahe religiöse Stille rings herum, diese sich im Wind wiegenden Bäume, nur für mich gemacht sind. Für wen denn sonst, denn es ist niemand da, keine lebende Seele, nicht mal ein Auto oder ein Traktor oder sonstwas.
Also labe ich mich in diesem erhabenen Gefühl, für einmal der einzige Mensch auf Erden zu sein. Na ja, nicht ganz, da scheint doch tatsächlich jemand auf dem Acker zu stehen, ein Bauer? Auf jeden Fall zerstört er meine salbungsvollen Gedanken. Was auch sein Gutes hat …
Aufwärts – dem Chaumont entgegen
In Savagnier, kurz bevor der Aufstieg zum Chaumont beginnt, quatsche ich einen freundlichen älteren Mann an, man will ja gelegentlich sein Französisch anbringen. Er entpuppt sich aber als waschechter Berner, und so ist wieder nichts mit meinen Sprachbemühungen.
Auf jeden Fall findet er die Idee, über den Chaumont nach Neuchatel zu wandern, grossartig und schwärmt von der Schönheit des Hügels, der im übrigen eine topographische Fortsetzung des Chasseral bildet.
Diese Auskünfte versüssen mir natürlich den Aufstieg, auch wenn ich mich nach einer dreiviertel Stunde frage, wann denn dieser steile Weg endlich ein Ende hat. Denn er geht eigentlich in die komplett falsche Richtung, aber was soll’s, die Wegweiser werden es wohl wissen.
Und so wandere ich, langsam und mit geblähten Nüstern, aufwärts, bis doch tatsächlich das Ende des schnurgeraden Wanderweges auftaucht.
Er mündet allerdings in eine befestigte Strasse, an der heftig gebaut wird. Baumaschinen rattern, Arbeiter wuseln herum, man will der Strasse offenbar neuen Glanz verleihen. Zum Glück zweigt der Wanderweg von der Strasse weg, der Lärm der Baumaschienen verklingt zwischen den Bäumen.
Nicht mehr allein
Eine ganze Weile bin ich noch allein, der Wald riecht nach Sommer, nach Feuchtigkeit, nach verstecktem Leben. Ich setze mich auf einen Baumstrunk, esse geruhsam, lausche den Geräuschen des Waldes und bin wieder mal sehr glücklich.
Eigentlich habe ich auf dem beliebten Ausflugshügel massenweise Leute erwartet, aber die sind offenbar alle am Arbeiten oder was auch immer. Aber kaum gedacht, schon ändert sich alles, denn eine Schulklasse lärmt den Weg entlang, es wird laut, aber irgendwie auch schön, die Kinder und Jugendlichen in fröhlicher Stimmung zu sehen. Der Dialekt weist auf die Ostschweiz hin, ein Schulausflug zu den Welschen, wie’s aussieht.
Man wirft mir ein paar neugierige Blicke zu, denkt sich vermutlich, wie man sich freiwillig sowas antun kann.
Egal, der Weg führt nun bergab, es ist viel weiter als gedacht, immerhin blinkt ein blauer Gruss zwischen den Bäumen hindurch. Der See ist nicht mehr weit, so scheint es, aber wie immer wird man an der Nase herumgeführt. Es ist nämlich noch weit, sehr weit.
Immerhin gibt es nahe am Weg ein Restaurant, die Aussicht auf den See und die malerische Umgebung ist perfekt. Ich genehmige mir einen Kaffee, strecke die Beine aus, lausche den Gespräche der zahlreichen Gäste. Es ist wie immer eine Wohltat, allein zu sitzen, sich nicht zugehörig zu fühlen und trotzdem ein Teil davon zu sein.
Ein Teil wovon? Keine Ahnung …
Anyway, der endlos scheinende Weg trifft irgendwann auf den Trans Swiss Trail, back on track, die Stadt kommt näher, saugt mich in Blitzesschnelle auf. Verkehr, Gehupe, Nervosität, alles, was zu einer modernen Stadt gehört. Während ich etwas irritiert durch die lärmige Umgebung stadtabwärts dem See zustrebe, erreicht mich ein SMS eines alten Freundes, der eben auf einem Ausflugsschiff in den Hafen einfährt. Ich eile zwar, nur nützt es nicht viel, denn die Passagiere bleiben auf dem Schiff. Also bleibt nur ein langer Blick, und schon verschwindet das Schiff wieder.
Jinghong revisited
Eigentlich verrückt – ich bin mehrere Male in dieser Stadt gewesen und kenne sie doch nicht. Vom Bahnhof mit dem Bus zum Kunden und am Abend wieder zurück. Keine Zeit für Sightseeing, keine Chance, ausserhalb des Jobs etwas kennenzulernen.
Eine Schande, wie ich jetzt feststelle.
Denn die Stadt hat mich innerhalb Minuten mit ihrem Charme, ihrer Offenheit, ihrer Freundlichkeit überwältigt. Mein Hotel liegt überraschenderweise direkt am zentralen Platz in der Altstadt. Also langweilig wird es mir hier nicht werden.
Und noch überraschender ist die Tatsache, dass das Hotel du Marché von Chinesen geführt wird. Ich trete hinein und fühle mich gleich an Jinghong erinnert. Eine Gruppe chinesisch sprechenden Personen mit sehr chinesisch aussehenden Gesichtern sitzt um einen Tisch herum und mustert den komischen Kerl mit den verdreckten Wanderschuhen. Ich vernehme leises Lachen, was mich wiederum an China bzw. Hongkong erinnert.
In Jinghong wurde ich schwupps in den Kreis einer mehrköpfigen Familie mit Baby aufgenommen, nachdem ich ihr meinen Tisch im Restaurant zur Verfügung gestellt hatte. Und in Hongkong merkte ich erst nach einer Weile, dass ich das ungewollte Objekt grosser Belustigung wurde, weil man meine äusserst untalentierten Versuche, mit Stäbchen zu essen, am Nebentisch beobachtet hatte.
Wie auch immer, die Dame des Hauses schaut zwar etwas verblüfft, doch dann nickt sie, und ich nehme stolz meinen einzigen Ausdruck auf chinesisch hervor und bedanke mich. 谢谢你 (Danke, Deepl Translate, ich hoffe, es stimmt).
Neuchâtel – unbekannte Stadt
Der Gang durch die Feierabend Stadt erinnert mich einmal mehr daran, was man alles verpassen kann, weil man vermeintlich keine Zeit hat. Ich muss es wiederholen: diese Stadt ist ein Besuch wert.
Der Guide meint dazu:
Neuchâtel hat einen mittelalterlichen Stadtkern mit vielen Cafés und Restaurants, Museen und Theatern. Die Uhrenindustrie spielt auch hier eine wichtige Rolle. Das Observatorium im Forschungszentrum zeigt die Schweizer Zeit auf Sekundenbruchteile genau an. Am Hafen endet die sechste Etappe des Trans Swiss Trail. Von Porrentruy bis Neuenburg konnte man den ganzen Weg über knapp 100 Kilometer zu Fuss zurücklegen. Die Etappe sieben beginnt dann mit der Schifffahrt nach Cudrefin.
Am Ufer des Sees, der in allen Nuancen von blau den späten Nachmittag beleuchtet, stehen still und wahrscheinlich seit Ewigkeiten Gestalten, denen ich aber keine Namen zuweisen kann. Vielleicht handelt es sich um den anonymen Bürger namens Jeanneret (der häufigste Name in der Stadt), oder eine Dame mit Namen Madame Huguenin. Möglicherweise sind es historische Einwohner der Stadt, denen man hier ein Denkmal gesetzt hat.
Auf jeden Fall sind sie sehr beliebt bei jedem Fotographen und dienen ausserdem als wunderbare Sujets für die unausweichlichen Selfies.
Der Abend und die Nacht fallen langsam und unausweichlich über die Stadt mit seinen den Feierabend geniessenden Bürgern, zu denen ich mich heute ausnahmsweise auch zähle. Ich setze mich inmitten der fröhlich schwatzenden Gesellschaft an einen Tisch und trinke langsam und genussvoll mein Bier.
Das gleiche Gefühl wie letztes Jahr in Vevey – hier könnte ich leben. Mehr Gutes kann man über einen Ort nicht sagen.
Passender Song: Bob Seger – Fire Lake
Und hier geht der Trail weiter – nach Murten und bye bye la Suisse française