Dann also die letzten 420 Kilometer. Der 10 Uhr-Bus ist reserviert, nichts steht dem letzten Teilstück meiner Reise entgegen.
Allerdings schleicht sich das unbestimmte Gefühl ein, dass die Fahrt länger als die angegebenen acht Stunden dauern könnte.
Aber mal sehen. Ich nehme ein weiteres Mal die Metro, diesmal ohne Unterbrüche (bei der gestrigen Fahrt am frühen Morgen musste man zwei Stationen zu Fuss gehen, weil sich eine Frau unter die Metro geworfen hatte).
Der bereitgestellte Bus gefällt mir allerdings gar nicht. Er stammt zwar aus der gleichen Gesellschaft wie mein Ticket, sieht aber etwas heruntergekommen aus, und auch der unfreundliche Chauffeur („Un poco de cortesia, por favor!“) lässt Schlimmes erahnen.
Und so kommt es auch.
Geistlose Idioten
Man sollte sich ja vor Pauschalurteilen hüten, und aus einer statistischen Grösse von grade mal 7-8 Fahrten eine zutreffende Erkenntnis zu ziehen, ist gefährlich.
Jeder Statistiker wird sich beim folgenden die Haare raufen, ist mir aber egal. Also, ich muss es loswerden. Alle, wirklich alle Buschauffeure in Kolumbien sind hirn- und geistlose Idioten, komplett durchgeknallte Schwachköpfe. Was sich diese Rattenärsche, diese No-Brainers von Gottes Gnaden, auf den Strassen leisten, sind, gelinde gesagt, Mordversuche an den Passagieren, die mit Gefängnis und dem lebenslangen Entzug der Fahrlizenz bestraft werden sollten.
Ich habe schon des öfteren darauf hingewiesen, dass allgemein gültige Verkehrsregeln in ganz Südamerika keinen interessieren, aber ausserhalb Kolumbien werden sie wenigstens mit einer gewissen Schamgrenze befolgt. Hier nicht. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass es unter den Chauffeuren Wettbewerbe gibt, wahrscheinlich eine Tafel an der Wand im Hauptbüro, auf der die schnellsten Fahrten zwischen Medellin und Bogota aufgeführt sind. Pablo Gonzales, 12 Stunden 14 Minuten. Pedro Ibanez, 12 Stunden 15 Minuten.
Sibirien im Bus
Der heutige Chauffeur, wie gesagt ein Charmeur erster Ordnung, der im halbleeren Bus eine Frau mit ihren Kindern zurechtweist, weil sie sich auf drei Sitzen niedergelassen haben, obwohl sie nur für zwei bezahlt haben, ist ein besonders fieses Exemplar.
Nicht nur, dass er fährt wie vom Teufel gebissen, er gehört offenbar auch zur Spezies, die ihre Kunden mit besonders tief eingestellten Temperaturen der AirCon drangsalieren. Es ist so kalt, dass ich zuerst den Pullover, dann die dicke Helly-Hansen-Jacke, dann den Schal und schliesslich die Wollmütze überziehe. Der eiskalte Luftstrahl von der Decke, bei geschlossen Düsen übrigens, ist so stark, dass ich durch die Hosen hindurch kalte Beine kriege und sie behelfsmässig mit dem Rucksack zudecke.
Es sind Familien im Bus, kleine Kinder, Babys, und die wenigsten Leute haben warme Klamotten bei sich, doch niemand beschwert sich. Als wäre die Kälte gottgegeben, wird still gelitten, geniest, gehustet, geschnäuzt, geschnieft.
Ich habe mich einmal mit einem Chauffeur bezüglich Temperatur angelegt („Porque hace tanto frio? Es una locura, una estupidez!“ und nur ein höhnisches Grinsen und ein paar blöde Sprüche geerntet, also lasse ich es bleiben. Draussen ist Hochsommer, T-Shirt-Wetter, kurze Hosen, drinnen ist Sibirien. Na wunderbar … Der junge Mann, der einen Welpen bei sich hat, packt ihn in eine warme Decke ein, während die Frau auf dem Sitz vor mir ihre kleine Tochter an die Brust drückt, um ihr etwas Wärme zu vermitteln.
Namenlose Flüsse und einsame Bauernhöfe
Und so gehen die letzten paar hundert Kilometer vorbei. Bald sind die knapp 10’000 Kilometer geschafft.
Erstaunlicherweise bin ich körperlich nicht müde, aber der Geist wird schlapp. Er bräuchte jetzt dringend eine Pause von ein paar Wochen, um Ordnung zu schaffen, die tausend Eindrücke zu verarbeiten, Platz zu machen für Neues. Vielleicht merkt er auch, dass das Ende in Sicht ist, dass in ein paar Tagen wieder die Langeweile des Alltags Einzug hält. Genug Zeit, um auszuruhen, herunterzufahren, den Dingen wieder ihren gewohnten Gang zu geben …
Doch das Auge bleibt neugierig. Immer wieder streift der Blick aus dem Fenster, lässt die letzten Eindrücke vorüberhuschen. Wir überqueren Flüsse, namenslos, unbekannt, aber eindrücklich … Die Welt scheint kalt und grau und furchterregend in ihrer Einsamkeit. Es gibt hier nichts, nur Wasser und Wolken und Nebel und abgrundtiefes Nichts.
Oder auch Bauernhöfe, ebenso namenlos, unbekannt, im Nirgendwo, versteckt in der grünen Hölle … Ich frage mich, wer hier wohnt. Wie das Leben in der Einöde ist. Sind Kinder da, Tiere, gibt es genug zu essen, zu arbeiten. Oder ist Hunger und Armut der permanente Begleiter durch Zeit und Raum?
Man weiss es nicht. Es ist die immergleiche Frage, die ich mir auf jeder meiner Reisen gestellt habe. Und nie eine Antwort erhalten habe.
Bye-bye Moron Driver, hello Bogota
Natürlich ist es stockdunkel in Bogotà, bald neun Uhr, als der Bus im Terminal einfährt, also wie befürchtet knapp 11 und nicht 8 Stunden. Das war’s also. Bye bye, du Schweinebauch von einem Chauffeur. Mögest du in der tiefsten Hölle zu Tode frieren …
Das Taxi bringt mich zur letzten Adresse, einem hochgelobten Hotel in einem alten Kolonialhaus mitten in der Candelaria, dem alten Zentrum.
Der Besitzer Joshua soll besonders nett und hilfsbereit sein, was sich in meinem Fall allerdings schnell ändert. Wenn ich – müde und gereizt vom stundenlangen Frieren – obwohl bestellt und reserviert ein Zimmer ohne eigenes Bad erhalte, werde ich doch etwas muffig.
Wir einigen uns angesichts der späten Stunde auf eine einzige Nacht, dann suche ich mir was Besseres. Zugegeben, das Hotel ist wirklich schön, und wer riesige, hundert Meter hohe Räume mag, ist im Paradies. Ich nicht, ich fühle mich fehl am Platz und verziehe mich schleunigst unter die Decken, die allerdings vom Feinsten sind …
Kilometerstand: 10118
Song zum Thema: Green Day – American Idiot
Und hier geht die Reise weiter, dem Ende zu