Michael Palin, weltbekanntes Mitglied der Monty-Python-Truppe, auch er ein vielgereister Geschichtenerzähler, sagt es so:
“Wenn dich einmal das Reisefieber packt, gibt es kein bekanntes Heilmittel, und ich bin gerne bis zum Ende meines Lebens daran erkrankt.“
Das trifft auch auf das Wandern zu, Bewegung ist letztendlich Bewegung. Und noch eine wichtige Stimme in diesem Zusammenhang, die jenige von Olga Tokarczuk:
„Als ich so in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass allen Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss un dzu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann.“ (Olga Tokarczuk – aus „Unrast“)
Fuenterroble – San Pedro de Rosados
An diesem Morgen sind die Pilger sogar schon um fünf auf, andere kurze Zeit später. Ich gehe auf die Toilette, zwei sind eben am packen, murmeln mir etwas zu, ich murmle zurück und gehe wieder schlafen.
Um halb sieben sind tatsächlich alle verschwunden, ich stehe also auch auf, packe, esse das Frühstück um 7 beim Hospitalero. Es ist so still wie in einer Kirche, und niemand sonst zu sehen. Und Adios, mis compañeros.
Ein langer Tag von 28 Kilometern erwartet mich, am Anfang der Strasse nach, dann endlose Feldwege, bolzengerade Richtung Norden. Ich habe nichts anderes erwartet, manchmal schleicht sich so ein bisschen eine gewisse Monotonie ein, vor allem während den langen Strecken, doch dann ergeben sich neue Szenerien, nie gesehene Bilder und Eindrücke, alles andere als Monotonie.
Mal wieder ein Hinweis bezüglich Miliagros: offenbar wurden die alten Meilensteine im Abstand wie vor 2000 Jahren wieder aufgerichtet. Falls man also die Schritte zählen würde (was ich nicht tue), würde man man einen Eindruck davon erhalten, wie es vor 2.000 Jahren gewesen sein muss. Die armen Legionäre …
Ansonsten gibt es nicht viel zu erzählen, die üblichen Verdächtigen am frühen Morgen: die Nacht wird besiegt, zieht sich schmollend zurück, während der Tag seinen Sieg wie immer mit Pauken und Trompeten, sprich allen Farben von hellrosa bis tieforange feiert, und sich ziemlich wichtig nimmt.
Aber wir gönnen ihm diesen Moment, sind froh um Licht und Wärme und alles andere, was zu einem zünftigen Tag gehört, und ziehen weiter, dem Horizont entgegen, wo uns nichts anderes erwartet als weitere Kilometer, weitere Stunden unter der gleissenden Sonne.
Das Ballett der Windräder
Nach gut zwei Stunden fängt der Aufstieg zum Cruz de Santiago, das auf dem Gipfel der Sierra de la Dueña thront, an. Es handelt sich dabei um einen Hügelkamm, der vollgestellt mit Windrädern sein soll. Na, das wäre doch mal eine Abwechslung.
Und tatsächlich, nach ein paar Kilometern beginnt, am Anfang kaum hörbar durch die dicht wachsenden Bäume, das leise und immer lauter werdende Geräusch der riesigen Rotorblätter. Ich weiss nicht, wieviele Windräder es sind, aber es dürften gut und gerne über 100 sein, die sich kilometerweit den ganzen Kamm entlang ziehen. Wenn man sich vorstellt, was für ein Theater bei uns für ein einziges Windrad gemacht wird …
Der Aufstieg ist allerdings alles andere als entzückend, sondern eine eigentliche Qual. Dabei spielt für einmal weder die Hitze noch die Anstrengung eine Rolle, sondern Millionen von winzigen Fliegen, die in Schwärmen vor dem Gesicht tanzen und sich auf Nase, Gesicht, Brille setzen.
Etwas Abhilfe bringt lediglich mein Taschentuch, das ich vor dem Gesicht herumwedle, Es muss aussehen wie eine holländische Windmühle. Ein Anblick für die Götter.
Die kastilische Hochebene
Die Aussicht auf die kastilische Hochebene ist traumhaft, doch ob die endlos lange Durchquerung immer noch einem schönen Traum entspricht, sei dahingestellt. Auf jeden Fall muss ich da durch, ob es mir gefällt oder nicht.
Ich verlasse die Dueña mit leiser Wehmut, ich habe mich eine Stunde lang sehr erhaben gefühlt, sozusagen über der Welt schwebend.
Himmel, Einöde und Pfad
Die Route führt sehr lange der Strasse nach, wie immer keine Freude, aber notwendig. Immerhin wird man gnädigerweise etwas später auf einen Weg geführt, der parallel zur Strasse verläuft, er ist allerdings fast zugewachsen. Immerhin weisen Abdrücke von Schuhen und Reifen darauf hin, dass es noch ein paar andere Benutzer gibt.
Und dann ist wirklich nichts mehr da ausser Himmel, Einöde und Weg. Der Himmel zeigt sich wieder mal in tadellosem Gewand, allerdings ohne Gnade für die armen Wanderer, im Gegenteil. Was er heute zu bieten hat, ist eine schwere, lastende Hitze, die sich in die Knochen schleicht, den Geist trübt, die Beine lähmt. Ich muss jetzt ein bisschen kämpfen, was eher selten geschieht, aber der Pfad macht es auch nicht leichter, steigt immer wieder an.
Die peitschende Weide
Es ist interessant, wie sehr uns die kulturellen Ikonen verfolgen und begleiten. Wer würde angesichts der Bäume, die einzigen festen Punkte auf den endlosen Wüsten, nicht an die Peitschende Weide, die Whomping Willow, aus der Harry Potter Welt denken. Sie steht am Rande des Verbotenen Walds auf dem Schulgelände von Hogwarts und schlägt mit seinen Ästen auf alle Menschen und Dinge ein, die in seine Reichweite kommen.
Soweit wird es heute nicht kommen, aber etwas Abwechslung auf dem Weg, der sich heute besonders lang und mühsam erweist, wäre durchaus willkommen. Nur schon die Erinnerung an die Szene, wo Harry und Ron mit ihrem fliegenden Auto ausgerechnet in diesem Baum landen und eine gehörige Tracht Prügel beziehen, lockert die Stimmung auf.
San Pedro de los Rosados
San Pedro de Rosados erweist sich als erstaunlich grosses Dorf inmitten von nichts. Da fragt man sich doch gleich, was sich die Gründer des Dorfes dabei gedacht haben. Es muss, für mich allerdings ein nicht lösbares Rätsel, irgendeinen vernünftigen Grund gegeben haben.
Aber was soll’s, Hauptsache ein offenes Restaurant, ein Fanta Limon, umgeben von haufenweise Leuten die aber alle, inklusive Baby, zum Restaurant zu gehören scheinen. Ich verabschiede mich höflich und merke erst vor der Tür, dass es ja auch mein Hotel ist.
Das Zimmer ist okay, der hohe Preis ist allerdings mehr Phantasie als dem Standard entsprechend. Der Spaziergang durchs Dorf bringt nichts Neues, es ist einfach ein Kaff wie jedes andere.
Viele verschlafene Häuser mit wunderlich schönen Gärten, enge Gassen, in denen das Echo von Stimmen nachhallen würde, gäbe es denn auch Stimmen. Aber nein, Siesta, alles ruht den Schlaf der Gerechten, zu denen ich mich ebenfalls zugehörig fühle und mich in meine Gemächer zurückziehe.
Von San Pedro de Rosados nach Salamanca
He, die letzte Etappe bis Salamanca, Halbzeit!
Der Abschnitt von San Pedro de Rozados nach Salamanca führt über etwa 23 Kilometer durch überwiegend flaches Gelände. Unterwegs kann man die Kirche El Salvador in Morille, dem einzigen Dorf an der Strecke, besichtigen und die Natur und Einsamkeit der Dehesas, der typischen Landschaft dieser Region, geniessen.
Deswegen stehe ich früh auf, doch um sieben ist es noch stockdunkel im Restaurant. Die Dame des Hauses hat mir hoch und heilig versprochen, dass das Frühstück um sieben bereitsteht.
Da steht allerdings gar nichts bereit. Na denn, seien wir mal etwas ecklig und beharren auf das Versprechen der Dame. Meine Rufe – Desayuno, son los siete, Señora – hallen durch das Hotel, ich bin sicher, dass nun auch der letzte Gast hellwach ist. Vor allem meine ergänzenden Flüche in Schweizerdeutsch dürften einiges dazu beitragen.
Und tatsächlich, nach ein paar Minuten taucht aus dem Dunkel die Wirtin auf, den Tiefschlaf um die Augen und auf den ersten Blick erkennbar, dass sie mich zum Teufel wünscht. Immerhin macht sie Kaffee, während sich langsam ein Gespräch entwickelt, anfänglich über den Camino, dann das Wetter und schliesslich, wie könnte es anders sein, über das Klima.
Aber oh mein Gott, schon am frühen Morgen eine Verschwörungsanhängerin. Da bleibt nichts unerwähnt, von Bill Gates über die Coronalüge bis zu den merkwürdigen Streifen am Himmel, die von den Flugzeugen hinterlassen werden. Da fehlt eigentlich nur noch die Mondlandung und Flat Earth und 9/11.
Ich mache mich einigermassen erschüttert aus dem Staub.
Unruhige Affen
Es fängt ganz normal an. Dunkle Wege, am Horizont das Aufleuchten des neuen Tages. Nichts Neues unter der Sonne. Aber heute ist ein besonderer Tag – Salamanca, die Hälfte des Weges.
Grund zum Feiern, was die Beine automatisch ein bisschen flinker macht. Die Anstrengungen des gestrigen Tages sind verschwunden, der Geist, dieser unruhige Affe, freut sich noch mehr als an anderen Tagen.
Aber nicht vergessen, die Distanz ist ziemlich weit. Ich habe mich zwar langsam an die langen Strecken gewöhnt, doch manchmal meldet sich doch das Alter. Wenn es ein Gesicht hätte, würde sich seine Stirn in Falten legen.
Stille und Düsternis haben immer ihre Wirkung. Wenn ich stehenbleibe, was bei dieser Zeit zwischen Nacht und Tag öfters der Fall ist, meine ich zu spüren, wie die Landschaft lebt, wie sie auf das Licht wartet, die Sonne, die Wärme.
Der Himmel, obwohl immer noch Nacht, ist von einem seltsamen Blau, das nur gelegentlich durch die Scheinwerfer eines Autos erhellt wird. Dann verklingt das Motorengeräusch in der Ferne, die Stille übernimmt wieder das Kommando.
Neblige Gespinste
Je weiter ich gehe, desto heller wird es, und jetzt sehe ich es. Ein Gespinst aus Nebel verwandelt die Landschaft in ein Märchen, legt sich über die Gebüsche und Bäume, die sich zu ducken scheinen. Das Licht ist von dämmriger Unklarheit, der Weg verschwindet für einmal nicht am Horizont, sondern im Nebel.
Nebel und Sonne
Und dann, ich kann es nicht anders ausdrücken, bleibe ich stehen, irgendwie fassungslos ob soviel Schönheit. Denn jetzt geht die Sonne auf.
Die Bing KI meint dazu:
Der Sonnenaufgang ist ein faszinierendes Phänomen, das viele Menschen zu philosophischen Betrachtungen anregt. Der Sonnenaufgang symbolisiert den Beginn eines neuen Tages, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Schönheit der Natur und die Erkenntnis der Vergänglichkeit. Der Sonnenaufgang kann auch als Metapher für das Erwachen des Geistes, die Suche nach der Wahrheit oder die Überwindung der Dunkelheit verstanden werden.
Ein bisschen sehr pathetisch, aber okay, auf jeden Fall sind Bilder des Sonnenuntergangs viel häufiger, was wohl eher damit zusammenhängt, dass mehr Menschen beim Untergang wach sind als beim Sonnenaufgang.
Happiness is a warm Gun
Ich erreiche nach einer Stunde Morille, nichts besonderes, alles geschlossen. Agressive Hunde bellen mich an, das hat gerade noch gefehlt, also renne ich mit den Stöcken hinter ihnen her, bis sie den Schwanz einziehen und verschwinden. Von den frommen Pilgern sind sie offenbar ein ängstlicheres Verhalten gewohnt.
Es geht schnell vorwärts, und tatsächlich, ich fühle mich pudelwohl (und merke nichts/wenig von den Achillesfersen), eigentlich wieder einmal nahe am Glück. Und natürlich erinnert mich das gleich an John Lennon und „Happiness is a warm Gun“, eines meiner Lieblingslieder der Beatles.
Ja, das Glück, ein seltsames Phänomen. Jeder strebt es an, doch sobald es da ist, neigt es dazu, sich schnell wieder zu verziehen. Sein Einfluss auf die menschliche Existenz ist und bleibt ein ewiges Mysterium.
Was bedeutet schon Glück dem einsam weidenden Pferd inmitten verdorrten Grases? Es weiss nichts davon. Auch die friedlich versammelten Kühe, die offenbar eine Art Jamboree feiern, auch sie wissen nichts. Und das trifft, mit zunehmendem Alter, auch für mich zu. „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, behauptete Sokrates, und er war alles andere als dumm.
Aber alles in allem – die Einsicht. nichts zu wissen, kann auch beruhigend wirken. (Mein Gott, bin ich heute wieder philosophisch unterwegs; es muss am Morgenrot liegen).
Die Schlacht bei den Arapiles
Das Geräusch eines Traktors zerschneidet die Stille und lässt alles andere verstummen. Die Wege, die Bilder, ich kenne sie nun. Manchmal geradeaus, manchmal eine Kuppe, meistens gar nichts.
Und weit und breit keine Sitzgelegenheit, kein Baum, lediglich ein Gebüsch, unter deren spärlichem Schatten ich mich setze und durchatme. Ein Motorradfahrer fährt mehrmals vorbei und hinterlässt eine Staubwolke, der Idiot. Mein Fundus an Schlötterlingen ist gross, er kriegt sie alle zu hören.
Aber das Tagesziel nähert sich, auf einer Anhöhe die Umrisse der Stadt in der Ferne. Von hier aus schlängelt sich der Weg dahin, dann ein Kreuz, und jetzt ist es definitiv, die ersten 500 Kilometer sind geschafft.
Übrigens habe ich mir sagen lassen, dass es hier offenbar eine bedeutende Schlacht gegeben hat, und zwar die Schlacht bei den Arapiles. Hier erzielte der englische General Wellington einen Sieg, der wesentlich zum Untergang Napoleons und seines Strebens nach Alleinherrschaft in Europa darstellte.
Also man merke: auch das Wandern, eine eigentlich einfache Beschäftigung, kann viel zur Allgemeinbildung beitragen.
Glas halbvoll oder halbleer?
Und dann bin ich da, über dem Fluss leuchten die Umrisse der Kathedrale, wie erwartet von blauem Himmel und grünem Tand umrahmt. Schräg einfallende Sonnenstrahlen erhitzen das Pflaster, dem ich nun auf dem langen Weg ins Stadtzentrum ausgeliefert bin.
Vergessen ist der Geruch nach staubigem Laub und zertrampeltem Gras und feuchter Erde, jetzt dominieren giftige Abgase und der Duft von Mauern und Stadt und Strassen.
Es bleibt die eine Frage: ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Egal, Halbzeit, 500 Kilometer liegen hinter mir, noch einmal 500 vor mir. Das wird eine harte Sache werden.
Ich freue mich darauf.
Passender Song: Sueño y Aliento
Und hier geht der Camino weiter … in Salamanca