Nicht das, was du nicht weisst, bringt dich in Schwierigkeiten. Sondern das, was du sicher zu wissen glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist. (Mark Twain)

Auf dieser langen Wanderung ist mir oft aufgegangen, wie wenig ich eigentlich weiss, und wie wenig, was ich zu wissen glaubte, korrekt ist.

Das hat vielleicht mit dem Alter zu tun. Erst in fortgeschrittenen Jahren erkennt man, dass man eigentlich wenig oder gar nichts weiss. Ich finde den Gedanken irgendwie tröstlich … und irritierend zugleich.

Doch das ist ja gerade das Schöne an solchen Wanderungen: man hat endlich Zeit sich über Dinge Gedanken zu machen, für die sonst keine Zeit da ist. Auch darüber, dass man (endlich) die eigene Begrenztheit erkennt.

Aber was soll’s, es geht weiter, Genf entgegen, und jetzt kann ich tatsächlich, noch weit entfernt, das Ende des Sees erkennen, dort, wo Genf im frühmorgentlichen Nebel liegt. Morgen werde ich dort sein.

Soweit ist es aber noch nicht, heute wartet eine anspruchsvolle, ziemlich lange Wanderung auf mich. Natürlich spricht der Travelguide von Dingen, die mich nicht mehr betreffen, denn auch heute ist mein Weg ein anderer.

Von der verkehrsreichen, verbauten Uferzone schwenkt der Wanderweg ins flache Hinterland zwischen Genfersee und Jura mit seinen verträumten Dörfern, alten Schlössern, lauschigen Bächen, lichten Eichenwäldern und kultivierten Feldern.

 

From Gland to Commugny

 

Lärmend durch den Wald

Ich starte am See und bin in wenigen Minuten bereits wieder mitten im Wald, und das wird sich so bald nicht ändern. Manchmal kommt es mir vor, als wären es die gleichen Pfade und Bäume und Gebüsche wie gestern oder vorgestern. Was sie natürlich nicht sind, aber sie sehen auf jeden Fall absolut gleich aus. Sogar die Pfützen und tiefen Gräben erinnern mich an gestern.

Der Weg nach Prangins führt einige Kilometer im Zickzack durch einen dichten Wald und an einem Golfplatz vorbei, wo sich trotz des schlechten Wetters ein paar Unentwegte ihrem geliebten Sport hingeben.

Heute bin ich für einmal nicht allein im Wald, Gruppen junger Leute, begleitet von ihrem Lehrer, lärmen entlang der Wege. Offenbar steht ein Ausflug in die Natur auf der heutigen Tagesordnung. Manchmal bin ich ihnen voraus, dann wieder schliessen sie auf, überholen mich, bis ich wieder die Vorhut übernehme.

 

Eternal similar paths through dense forest Are they the same paths as yesterday?

 

Wildes Wasser

Der See begrüsst mich mit wütendem Rauschen und Toben, als wäre er empört, dass er schon bald allein gelassen wird. Die Wellen preschen gegen das Ufer, nasse eiskalte Böen fallen über die Tische und Stühle des geschlossenen Gartenrestaurants her, es ist niemand da, nur ich. Es verschafft mir die Gelegenheit, eine Pause einzulegen, ein Brötchen zu essen und dem wilden Getue des Sees zuzuschauen.

Meine einsame Kontemplation hat schon bald ein Ende, als die Gruppe junger Leute eintrifft. Man kennt sich in der Zwischenzeit, man grüsst sich, nickt sich freundlich zu, doch die Jugendlichen sind zurückhaltend. Obwohl ich den einen oder anderen neugierigen Blick erhalte, spricht mich keiner an. Welch höfliche Jugend.

 

Bad weather at the lake

 

Abgründe

Prangins und Nyon sind zusammengewachsen, ich laufe ohne grosse Begeisterung durch die lauten Strassen, ohne zu wissen, ob ich noch in Prangins oder bereits in Nyon bin.

Am Bahnhof in Nyon habe ich endlich Gelegenheit, meine Vorräte aufzufrischen, viel brauche ich nicht mehr bis morgen Abend. Ich setze mich auf eine Bank, trinke, esse, beobachtet von einer älteren, verloren aussehenden Frau. Auch hier hat das Paradies Grenzen, man ist wie meistens blind für die Abgründe, die sich unweit auftun.

Kurz nach Nyon zweigt der Weg wieder ab, er folgt zuerst der Eisenbahn, dann wieder dem Wald, über schmale Brücken, morastigem Boden, bis endlich wieder Wiesen entlang, so wie ich es gern habe. Abwechslungsreich, auf jeden Fall wird einem nicht langweilig.

 

Along the train tracks

... over bridges ...

... and very dirty paths ...

... but then again along the forest on beautiful paths

 

Van Gogh Country

Da steht man nun und wundert sich. Hat man sich irrtümlich in ein Bild von Vincent Van Gogh verirrt? Oder bin ich nicht mehr in der Nähe des Genfersees sondern irgendwo in der Provence?

Bei einem kleinen schnuckligen Häuschen mit Turm zweigt der Weg in eine Wunderwelt aus gelben Weizenfeldern ab. Nicht erstaunlich, dass ich mich vom ersten Augenblick an wie in einem Bild von Van Gogh glaube. Fehlen eigentlich nur noch die Zypressen, oder – in einem anderen berühmten Bild – die Rabenschwärme am Himmel.

 

Is it a small castle or just a house with small tower?

Dark sky above a wheat field

Van Gogh Wheatfield

It's Van Gogh country - sky and yellow fields

Der Rest der Etappe ist schnell erzählt. Irgendwann wird der Weg aufgesogen durch Dörfer und Weiler, er führt durch dichtbesiedeltes Gebiet, entlang ziemlich mühsamer Asphaltstrassen, bis endlich Commugny auftaucht, und da ist auch schon mein Hotel, und es sieht genauso geschlossen aus wie dasjenige in Etoy.

Immerhin zeigt sich nach kurzer Zeit eine junge Dame am Fenster, sie ist sozusagen die Hüterin des Lichts an diesem Tag und öffnet mir die Tür. Es wäre schade gewesen, wenn ich auch bei der letzten Übernachtung Probleme gehabt hätte. Aber alles gut, das Zimmer ist erstklassig, und zum letzten Mal strecke ich meine müden Glieder aus.

Aber meinen Füssen, die bis jetzt bravourös durchgehalten haben, scheint die Lust an noch mehr Kilometern definitiv vergangen zu sein. Vor allem die Zehen an meinem rechten Fuss sehen irgendwie seltsam aus. Sie sind geschwollen und schmerzen, vor allem am Morgen und nach den Pausen. Manchmal werde ich angesprochen, wenn ich wie ein uralter Mann vorbeihumple. Aber eben, liebe Füsse, es ist nicht mehr weit.

 

Song zum Thema:  Mule and Man – 10k Types of Tortures

Und hier geht die Tour dem Ende entgegen … nach Genf

 

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