Macht man sich je Gedanken über ein mögliches Szenario, das einen vollkommenen Zusammenbruch des Internets beschreibt?

Kaum.

Wie sich zeigen sollte, kann dieses Sandkastenspiel als Live-Experiment in Ladakh geprüft werden.

Und als Hinweis: Thomas Harris hat in seinem neuesten Roman „The Second Sleep“ sehr genau beschrieben, wie sich die Gefahren eines weltweiten Kollapses der Internet-.Infrastrukur auswirken könnte. Rückfall ins dunkelste Mittelalter.

 

Wenn die Welt plötzlich offline ist

Der allmorgendliche Griff zum iPhone oder iPad läuft diesmal ins Leere. Wahrscheinlich funktioniert das Hotel-eigene WLAN wieder mal nicht, aber die Nachfrage an der Rezeption entlockt dem entsprechenden Herrn lediglich ein müdes Lächeln.

Das Grinsen auf seinem Gesicht bereitet mir erstens etwas Mühe, denn da dringt viel Schadenfreude durch, und zweitens kann ich es partout nicht glauben. Das Internet einfach down? Das gibt’s doch nicht, nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert. Doch, das gibt’s und zwar – wie sich später herausstellen wird – ziemlich heftig und über mehrere Tage.

Da sind ein paar grundsätzliche Gedanken angebracht. Der folgende Artikel gibt einen ungefähren Einblick in diese Thematik.

 

Apokalyptische Szenarien

Just a normal day in Leh
Ein normaler Tag in Leh

Habe ich etwas vergessen? Natürlich. Sehr vieles, aber das würden wir schnell merken. Grundsätzlich sind alle lebensnotwendigen Dinge (Nahrung, Wohnen/Wärme, Wasser, Transport, Gesundheit …) nicht mehr gewährleistet. Es gibt Szenarien, die analytisch hinter die Sache gegangen sind, und ein Beispiel durchgespielt haben.

Irgendwo in Europa (oder sonstwo auf der Welt) fällt das Internet im Umkreis von ein paar hundert Kilometer aus. Es wurde dabei sehr schnell und sehr erschreckend klar, wie dünn der Firnis unserer Zivilisation ist.

Nach ein paar Tagen, wenn der richtige Hunger einsetzt, die Kinder nichts mehr zu essen haben, die Kranken nicht mehr gepflegt werden können, usw., bricht die Gesellschaft zusammen. Es wird zu Plünderungen, zu Kämpfen, zum Zusammenbruch der Zivilisation kommen.

Das alles nur, weil unser geliebtes Internet, dem wir alles unter seine Kontrolle gegeben haben, nicht mehr funktioniert.

Und es gibt (wahrscheinlich) keine Notfallpläne.

Macht doch ziemlich nachdenklich.

Sind wir eigentlich komplett verrückt?

 

„Internet completely down in whole of Ladakh“

Das ist die Meldung, die man aus jeder Quelle in Leh erhält, wenn man sich nach dem Stand erkundigt.

Dass nicht nur ich und ein paar Tausend andere Touristen ihre liebe Mühe mit dem Intenet-losen Zustand haben, wird spätestens beim Frühstück – und wenig überraschend – später auch in der Stadt klar.

Wo immer man sich aufhält, das nicht mehr existente Internet ist DAS Hauptthema des Tages. Und dies nicht ohne Grund, denn es führt dazu, dass nicht nur kein Web, kein Mail, keine SMS oder Whatsapp, sondern auch verwunderlicherweise auch fast kein Telefon mehr funktioniert.

VOIP, also die digitale Telefonie, hat auch hier ihren Einzug gehalten. Jedermann regt sich fürchterlich auf, denn damit entfallen Hotelreservationen, Grüsse nach Hause, Bearbeitung von Mails und was es der schönen Dinge so alles gibt. Allerdings, und das freut die Einheimischen noch viel mehr: ihre eigenen Handys funktionieren prächtig. Man könnte sich also überlegen, ein indisches Prepaid-Natel zu kaufen, aber oha, weit gefehlt, denn da vergisst man doch glatt die indische Bürokratie.

Der Kauf eines indischen Prepaid-Handys dauert nämlich geschätzte vier bis fünf Tage.

 

Shop with analog phone
Das ist der Laden mit dem einzigen Analog-Telefon der Stadt

Aber eigentlich wäre es nicht schlecht, vor dem Treck noch ein Lebenszeichen von mir zu geben, aber eben – wie soll das gehen ohne Internet? Nach etwas Suchen finde ich doch tatsächlich das wahrscheinlich letzte Analog-Telefon in ganz Leh, ein Artefakt aus dem letzten Jahrhundert, dem ich nichts, aber rein gar nichts zutraue.

Ich dränge mich also in eine winzige Kabine, deren Tür sich nicht schliessen lässt, und überlege, wen ich anrufen könnte. Schliesslich ist es in Switzerland erst halb Acht am Morgen, meine Kids werden also eher noch nicht ansprechbar sein (oder sie nehmen Anrufe um diese Zeit schon gar nicht entgegen). Ein Kerl vor der Kabine schreit pausenlos in sein Handy, was die Erfolgsaussichten für ein halbwegs verständliches Gespräch weiter mindert. Aber schliesslich klappt es doch irgendwie, und ich kann mich beruhigt dem widmen, was jetzt ansteht, nämlich den Local Bus nach Likir zu finden.

 

Telephonieren wie vor hundert Jahren

Es kommt mir vor wie vor hundert Jahren, als man im Ausland im Büro der Telefongesellschaft ein Gespräch anmelden musste, eine endlose Zeit wartete, um schliesslich eine grottenschlechte Verbindung benutzen zu dürfen, deren Latenzzeit bis zur Antwort des Gesprächspartners eine gefühlte Ewigkeit dauerte.

Aber wir mit unseren kleinkarierten Sorgen sind kleine Fische im Vergleich zu den Hotels, die keine Buchungen mehr erhalten, keine Bestätigungen mehr versenden können, keine Informationen mehr bereitstellen können. Oder zu den Läden, die weder Bestellungen noch Nachfragen noch Auslieferungen noch alles andere durchführen können.

Aber im Gegensatz zu unseren Breitengraden sind die Ladakhis flexibel. Irgendwie funktioniert doch irgendwie alles. Vielleicht ein bisschen langsamer, aber alles in allem gar nicht schlecht … Man könnte sich von ihnen eine Scheibe abschneiden, falls wir mal in eine ähnliche Situation kommen sollten …

 

Digital Detox

Dann geniessen wir doch einfach mal die Zeit ohne das Internet, ohne das permanente Schielen auf die neuesten Nachrichten, ohne Mails und ohne Nachrichten. Man erinnere sich. Es ist ja schliesslich noch gar nicht solange her, 1988 in Hongkong um genau zu sein, als wir jemanden mit einem (riesigen) Handy am Ohr an einem Lichtsignal bemerkten. Nachdem wir herausgefunden hatten, um was es sich handelt, schien es uns damals eine vollkommen überflüssige Erfindung ohne die geringsten Erfolgschancen zu sein. So kann man sich irren.

Ein  neuerlicher Spaziergang durch Leh zeigt wunderbare Einblicke in eine uns fremde Kultur. Ladakh ist wirklich das Reich der kleinen Dinge. Aber es gilt, mit offenen Augen und Ohren durch die Strassen und Gassen zu gehen, um all die kleinen und vermeintlich unwichtigen Dinge zu entdecken.

 

Internet? What's that`?  Backyards

Everything takes its usual course  Colorful ladies strolling

PS Song zum Thema:  Annette Peacock – My Momma Never Taught Me how to Cook

Und hier geht die Reise weiter …

 

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