Um sieben Uhr holt mich Lynyrd Skynyrd aus tiefem Schlaf, natürlich mit Free Bird (siehe unten) in der 1977-er Live Version mit Ronnie, Steve und Cassie. Ein paar Monate waren alle drei tot. RIP.
Straight up American fucking rock n roll.
Es gibt nicht wenige Experten, die das dreistimmige Guitarrensolo als das beste aller Zeiten ansehen. Ich stimme ihnen zu.
Free Bird?
Passt doch irgendwie zu meinem Marsch.. So komme ich mir in den besseren Tagen vor, in den anderen eher wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln.
Der heutige Tag ist nichts Besonderes, ein Tag, um den Muskeln einen Beinahe-Ruhetag zu bescheren. Knapp vier Stunden? Lohnt sich kaum loszuziehen.
Länge: 13 km, Aufstieg | Abstieg: 500 m | 440 m, Wanderzeit: 3 h 45 min
Der Sonnenberg
Es gibt nichts Schöneres als an einem Sonntagmorgen durch die leeren Strassen einer Stadt zu gehen. Die Luft riecht für einmal nicht nach Abgasen, Stille anstelle des gewohnten Krachs, niemand weit und breit, vielleicht ein paar Hündeler oder andere Frühaufsteher wie ich.
Der Aufstieg zum Luzerner Hausberg, dem Sonnenberg, führt ein paar Quartierstrassen hoch, bis man etwas weiter oben in den Schatten von Bäumen eintritt.
Es ist die übliche stadtnahe Umgebung, sorgfältig nach den Anforderungen der urbanen Bevölkerung angelegt. Für einmal gibt es genügend Sitzbänke, die Wege sind angenehm, nicht zu steil, nicht zu anstrengend, abwechselnd in der Sonne, dann wieder im Wald.
Und nun sind sie plötzlich da, die Jogger und Spaziergänger, die Familien mit kleinen Kindern, die alten Männer an Stöcken mit ihren Damen an der Hand. Wanderer gibt es keine, zumindest sind keine zu entdecken.
Heute werde ich es langsam angehen, die Pausen noch etwas länger machen als sonst, was bedeutet, dass ich schon nach einer Stunde meine erste Rast einlege, während der Blick über den verdunkelnden Himmel geht, hinunter nach Kriens.
Schönes Wetter? Da haben die Wetterpropheten wohl wieder mal in die falsche Schublade gegriffen.
Die Sonnenbergbahn
Wieder einmal bin ich ohne detaillierte Informationen über die Etappe losgegangen. Die Infos auf der WebSite sind mehr als karg:
Vom Sonnenberg lassen sich Luzern und seine Aussengemeinden trefflich überblicken. Einblick in die Geologie der Region bietet sodann die Ränggschlucht. Auf dem letzten Teilstück bis Malters wandelt man auf den Spuren des heiligen Jakobus.
Und da, ganz unerwartet, treffe ich auf eine Bahn, ein Bähnchen würde man wohl besser sagen. Es handelt sich um die Sonnenbergbahn, eine altehrwürdige Standseilbahn, die von Kriens heraufführt, während ihre Schwester, die Gütschbahn, von Luzern her hochfährt.
Ich liebe diese kleinen alten Bähnchen, sie erinnern an die Poly-Bahn in Zürich und dürfte höchstens ein bisschen länger sein. Sie überwindet bei einer Länge von 839 m eine Höhendifferenz von 210 m, startet in Kriens und fährt praktisch kurvenlos mit einer Steigung von maximal 42,4 % bis oberhalb des Hotels Sonnenberg (Wikipedia).
Die anrückende Zivilisation
Der Weg verschwindet für ein paar Minuten im Gigelwald, doch sobald man ihn verlässt, steht man vor einer Million Einfamilienhäuser, die sich bis auf ein paar Meter dem Waldrand genähert haben. Es sieht aus wie ein Krebsgeschwür, das sich immer weiter ausbreitet.
Ich stelle mir den Wald vor, wie er sich bedroht fühlt von all den Häusern, dem Lärm, dem Beton. Ob er sich dem zunehmenden Druck erwehren kann? Ich bin skeptisch.
Dieser komische Sonntag
Ich bin nun seit Tagen durch ganze Wälder von Abstimmungsplakaten gegangen, rechts und links des Weges, und immer mit der gleichen Botschaft „2x Nein zu den extremen Agrarvorlagen“.
Für Nicht-Eingeweihte: unsere sogenannte direkte Demokratie verschafft den Stimmbürgern vier Mal pro Jahr die Gelegenheit, über bestimmte Themen abzustimmen. Es handelt sich dabei entweder um Gesetze oder Verfassungsänderungen, die vom Bundesrat und/oder Parlament, beschlossen wurden und gegen die mit jeweils 100’000 beglaubigten Unterschriften ein Referendum ergriffen werden kann.
Oder irgendjemand, eine Partei oder sogar eine Einzelperson oder wer auch immer, hat die Möglichkeit, 100’000 Unterschriften für eine Initiative zu sammeln. Es gibt ein paar wenige Einschränkungen, aber grundsätzlich kann jedes Thema aufgegriffen werden (wir mussten schon darüber abstimmen, ob unsere Kühe Hörner tragen sollen oder nicht).
Beide Varianten kommen irgendwann vor die Volksabstimmung.
An diesem Sonntag sind insgesamt 5 Vorlagen zu entscheiden, eine zum CO2 Gesetz (Referendum), eine zum Covid-19 Gesetz (Referendum), eine zur Bekämpfung des Terrorismus (Referendum) und zwei Initiativen im BereichLandwirtschaft. Diese beiden hätten einen besseren Schutz des Trinkwassers und ein ein Verbot von synthetischen Pestiziden vorgesehen. Natürlich hat die Agrar-Lobby einen aggressiven Abstimmungskampf geführt, die beiden Themen haben zu einer kaum gesehenen Emotionalisierung der Bevölkerung geführt.
Heute ist endlich Abstimmungstag, und dann hoffe ich, dass sich unsere kleine Welt wieder beruhigt..
Schottland und steile Treppen
Eine weite Wiese liegt zwischen dem Gigelwald und dem eigentlichen Sonnenbergwald, natürlich wieder voll gepflastert mit oben genannten Schildern und Plakaten. Sie hängen mir gewaltig zum Hals heraus. Immerhin – die Hitze hat ziemlich zugenommen – verschafft mir der Wald eine wohlverdiente Abkühlung.
Bei einem seltsamen Felsen, der mitten im Wald steht und dessen Sinn und Zweck sich mir nicht erschliesst, treffe ich auf eine englisch sprechende Familie. Ich komme mir vor wie ein Inder auf der Suche nach Konversation mit Ausländern. „Where do you come from?“
„Scotland“, antwortet die Lady des Hauses. Ich kann es nicht lassen und spreche sie auf eine mögliche zweite Abstimmung über den Austritt Schottlands vom Vereinigten Königreich an (was man nicht alles tut, um den aufgestauten Konversationsdurst zu mildern). Auf jeden Fall ergibt sich aus meinen Annäherungsversuchen eine lebhafte Diskussion, die mich irgendwie an unseren Abstimmungssonntag erinnert. Nichts ist klar, es gibt immer mehrere Wahrheiten, alles eine Frage der Optik.
Manchmal liegen umgestürzte Bäume quer über den Weg, man fühlt sich beinahe in einem urtümlichen Wald. Eigentlich wäre der Weg eine Freude, wenn ich nicht immer wieder von steilen Treppen geärgert würde. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Stufen, die mit hölzernen Balken quer über den Weg gesichert sind. Wenn man nicht höllisch aufpasst, könnte der nächste Stolperer das Ende der Wanderung bedeuten. Von den malträtierten Knien mal völlig abgesehen.
Ich verabschiede die hoffentlich letzte Treppe mit einem bösen Schimpfwort (ich bin sicher nicht der einzige, der hier seinen Frust loswerden muss) und wende mich dem Bach zu, von dem ich fälschlicherweise annehme, dass es sich um die Kleine Emme handelt. Ein Mann, der gleichzeitig über die Brücke geht, wirft mir einen ziemlich mitleidigen Blick zu, als ich ihn nach dem Bach frage. „Die kleine Emme? Sicher nicht!“ Und geht weiter.
Natürlich hat er recht. Es ist bestenfalls ein mickriger kleiner Zufluss zur Kleinen Emme, die erst nach einigen Kilometern auftauchen wird. Ein weiteres Hurra für meine Orientierungstalente. Aber die Schlucht sieht irgendwie schon eindrücklich aus, auch wenn es nur ein kleiner Bach ist.
Wiedersehen mit einem alten Freund
Während ich oberhalb eines Abhangs, mit hohem, sich im Wind duckendem Gras bewachsen, eine Verschnaufpause einlege, gönne ich mir die letzten Einsiedler Schafböcke, und bin eigentlich ganz zufrieden mit mir. Ganze Heerscharen von Spaziergängern – Wanderer wäre in diesem Zusammenhang eine zu nette Bezeichnung – marschieren an meinem okkupierten Sitzbank vorbei und werfen mir neidische Blicke zu. Tja, first come, first serve.
Dann aber erwartet mich eine Überraschung. Ich habe eben frohgemut den Hang hinter mir gelassen, da steht doch tatsächlich ein alter Freund aus Mittelschulzeit vor mir und grinst über das ganze Gesicht. Meine Wanderung ist offenbar nicht unbemerkt geblieben.
Und so gehe ich kurze Zeit später der Kleinen Emme entlang (diesmal die richtige) zum ersten Mal in Begleitung. Es gibt viel zu erzählen, auch er ein praktizierender Traveler zu Fuss oder mit dem Fahrrad, der die halbe Welt befahren oder erwandert hat.
Irgendwie wandert man zu zweit in einem anderen Rhythmus, sehr gemächlich und entspannt, dem wunderbaren Pfad dem Fluss entlang und vergisst beinahe alles ringsherum. Man schwatzt und geht und sitzt und schwatzt weiter. Grossartig. Ein wirklich willkommene Abwechslung nach all den Stunden und Tagen allein auf weiter Flur.
Und irgendwann sind wir plötzlich in Malters, genehmigen uns ein kühles Bier, bevor sich mein Freund wieder auf die Heimreise macht.
Song zum Thema: Lynyrd Skynyrd – Free Bird (1977 Live Oakland Coliseum Stadium)
Und hier geht der Trip weiter … nach Wolhusen (und wieder allein)