Sollte man etwas spüren an einem solchen Morgen? Gibt es Statistiken über Unfälle? Todesstürze? Ich nehme ein betriebswirtschaftliches Argumentarium zu Hilfe.
Jeder Unfall, verursacht durch suboptimale Qualität des Piloten, würde das Geschäft sofort zum Erliegen bringen. Also müssen die Veranstalter alles tun, um ein solches Szenario zu vermeiden. Alles klar? Mit diesen (vermeintlichen) Erkenntnissen widme ich mich beruhigt dem Frühstück und verpasse beinahe den Zeitpunkt, wo ich vom Veranstalter abgeholt werde.
Perfekte Aussichten für einen erfolgreichen Jungfernflug
Wie alles in Asien geht es igendwie vorwärts und doch nicht. Irgendwo in einem Büro muss ich ein Dokument ausfüllen, darunter auch eine Adresse, an die man sich im Fall der Fälle wenden könnte. Der freundliche Herr, ein beinahe perfektes Englisch sprechend, erzählt, dass an diesem Tag auch eine Competition stattfindet, an der die besten Piloten teilnehmen.
„It means that there are only the bad ones left for today’s flights?“ Meine Frage klingt lustig, ist aber eigentlich ernst gemeint.
Er lacht lauthals und gibt mir recht. „Exactly. Only the bad ones.“
Nicht überraschend, dass ich in sein Lachen etwas verkrampft einstimme.
Der Startplatz
Ja, und dann sind wir da, der Startplatz ist eine leicht abfallende Wiese, wo sich zahlreiche Männer (wo sind die Frauen?) eingefunden haben, um sich in die Tiefe zu stürzen. Der nette Herr, der sich um mich gekümmert hat, stellt sich auch als mein Pilot vor, sein Name ist Anil, was mir nun doch einen sehr willkommenen Schubs in positiver Richtung verschafft (für Eingeweihte: siehe „Der Fährmann“, Protagonist, überlebt jedoch nicht mal die ersten zwanzig Seiten der Geschichte).
Ich werde mit entsprechender Ausrüstung versehen, Helm, Gurten, viele Verschlüsse. Der wunderbar knallrote Schirm liegt ausgebreitet am Boden, und schon werde ich über die ersten entscheidenden Schritte informiert. Erstaunlicherweise bleibt mein Puls ruhig, habe ich doch eine ziemliche Aufregung erwartet.
Wo ist der angekündigte Adrenalin-Schub?
Aber schon laufen wir den Hang hinunter, ein kurzer Ruck, und der Boden bleibt unter uns zurück.
Wir fliegen
So sanft wie eine Feder. Lautlos, ganz ruhig, die Erde entgleitet uns, wir werden hinausgetragen ins scheinbare Nichts. Eine seltsame Ruhe überkommt mich. Anil fotographiert und filmt, während er bedächtig sein Gerät steuert. Die Thermik ist perfekt, langsam schrauben wir uns höher und höher …
Ich fühle mich zwar nicht gerade als Gott, aber das Gefühl ist schon etwas ausserirdisch. Zahlreiche andere Flieger zirkeln um uns herum, manchmal bedrohlich nahe, doch die Piloten verstehen ihr Handwerk. Schliesslich ist das etwas, was sie tagtäglich vollziehen.
Ich kann mich allerdings an ein Gespräch in der Schweiz erinnern, beim Zusehen der startenden Gleitschirmflieger. Offenbar sind es nicht die ganz Jungen oder die Neulinge, die verantwortlich für die meisten Unfälle sind. Es sind die älteren, erfahrenen Piloten, die sich duch ihre Erfahrungen so sicher fühlen, dass sie übermütig werden.
Aber das gilt wohl für alles. Man denke nur ans Kochen. Der erste Versuch ist meistens der beste. Dann glaubt man, die Sache im Griff zu haben und scheitert kläglich.
Ja, die menschliche Natur. Immer wieder ein Rätsel …
Die Welt im Auge des Adlers
Zum Rätsel soll mir aber dieser Flug nicht werden. Es sieht auch gar nicht danach aus.Ganz ruhig drehen wir unsere Runden, mal etwas weiter hinunter, bis man beinahe in die Küche der dortigen Häuser blicken kann. Dann wieder aufwärts, unter Ausnützen der perfekten Thermik, bis die Welt im Auge des Vogels ganz klein und unbedeutend erscheint.
Keinen Moment scheint irgendeine Gefahr da zu sein. Der Puls schlägt ruhig, als würde ich gemütlich vor dem TV sitzen. Erstaunlich, ich hätte anderes erwartet. Soll mir aber recht sein. Die Berge scheinen weit weg und gleichzeitig ganz nahe zu sein. So hoch oben in der Luft ist man ein Teil der Welt, ein anderer als sonst. Berge, Hügel, kühle Luft, darüber der blaue Himmel. Und wir.
Ein bisschen Akrobatik gefällig?
Ich könnte endlos zu weiter gleiten, doch die Zeit vergeht schnell. Wir nähern uns dem See, fliegen darüber hinweg, unter und über uns nur noch blau, der See an seinen nördlichen Enden allerdings braun und voller Dreck.
Anil erzählt, dass der Klimawandel auch hier seine Auswirkungen zeigt, dass immer wieder ganze Hänge in den See stürzen und ihn langsam verlanden lassen.
„You want some Acrobatics?“
„Acrobatics? What do you mean?“
„I show you.“
Im nächsten Moment schlagen wir die verrücktesten Dreher, ein altes Gefühl nach Chilbi macht sich bemerkbar. Mein Magen hüpft nach alter Manier in alle Richtungen, genauso wie ich es schon als Kind über alles liebte.
Ein wunderbarer Abschluss eines wunderbaren Fluges.
Wir gleiten nun schnell nach unten,ein paar kurze Anweisungen zur Landung, und schon stehen wir auf der Wiese, wie zahlreiche andere Flieger, und alle, wirklich alle, auch der junge Chinese, der eine Flagge seines Heimatlandes umgebunden hatte, zeigen ein stolzes Gesicht. Ich auch.
Man bringt mich mit dem gleichen Wagen zurück zum Hotel. Der Wirt empfängt mich mit einem wissenden Grinsen.
„All well?“
„I survived.“