Von Sevilla nach Guillena
Die Stadt liegt noch in frühmorgentlichem Schlummer, da verabschiede ich mich vom Nuevo Suizo (ohne herausgefunden zu haben, was es mit dem Namen auf sich hat) und mache die ersten Schritte auf der Via de la Plata, die mich in ein paar Wochen nach Santiago de Compostela führen soll.
Der Weg beginnt natürlich vor der Kathedrale, wo denn sonst. Ein Herr erkennt meine Absicht, und ich höre zum ersten Mal die beiden Worte, die mir von nun an tagtäglich begleiten werden:
Buen Camino
Er macht mit Freuden ein Bild vom frischgebackenen Pilger, der keiner ist, und macht mich darauf aufmerksam, dass vor dem Start ein Besuch der Frühmesse angebracht wäre. Nun, ich gebe ihm recht, was mich aber nicht hindert, mich höflich zu verabschieden und loszulaufen. Denn der Camino ruft …
Es geht los
Es ist keine Kunst, nicht mal für den grössten Irrläufer, wie ich es bin, den Weg zu finden. Die ersten Hinweistafeln oder Markierungen sind schon nach ein paar Metern zu erkennen. Sie werden mir von jetzt an Begleiter sein, sie werden Freunde werden, die immer der richtigen Weg anzeigen.
Was mich aber nicht hindert, bereits in Triana, dem berühmten Quartier, zum ersten Mal die falsche Richtung zu erwischen. Ich hoffe auf ein gutes Omen, und nehme mir fest vor, von nun an konzentrierter zu sein. Ob das gelingt, ist angesichts meiner eher durchwachsenen Orientierungs-Vita stark zu bezweifeln.
Und wenn wir schon bei andalusischer Musik sind, hier mein All-Time Favorite (Erinnerungen an 1979):
Alameda – Alamecer en el Puerto
Nach der Überquerung des Guadalquivir, folge ich dem langen Weg dem Fluss entlang bis Santiponce, zum ersten Mal kommt das Gefühl auf, unterwegs zu sein. He, ich bin auf dem Camino de Santiago, wie die Via de la Plata überall genannt wir. Ich lege in Santiponce den ersten Kaffeebreak ein, „Camino“ fragt der Wirt, und ich nicke zum ersten Mal ziemlich stolz.
Italica
Die Ruinen von Italica sind das erste römische Zeugnis entlang der Via de la Plata. Feldherr Scipio Africanus legte diese bedeutende und älteste Römersiedlung auf der Iberischen Halbinsel an. Die Altstadt liegt heute unter Santiponce begraben. Die Ausgrabungen zeigen beispielsweise das Amphitheater, das 25000 Personen Platz bot. Zum ersten Mal – es wird nicht das letzte Mal sein – bin ich beeindruckt, was die alten Römer geschafft haben.
Es ist Samstag, ganze Heerscharen von Besuchern bevölkern die Ruinen. In Anbetracht der kommenden Tage entlang des Camino, wo ich mich die ganze Zeit auf römischen Spuren bewegen werde, kürze ich den Besuch ab, um mich dem zu widmen, wozu ich hergekommen bin.
Denn auf mich wartet das erste unendlich lange Teilstück bis Guillena.
Ein schnurgerader Weg
Es handelt sich um 12 km schnurgerader Strecke in Richtung Guillena, mal sanft rauf und wieder runter, der Horizont bildet die Grenze, nichts drumherum. Eine tote Welt könnte man meinen.
Und es gibt keine Möglichkeit, um einen Stop einzulegen, keine Sitzbank, keine Steine oder sonstwas, um die müden Beine zu schonen, es ist eine Gegend, die absolut leblos scheint. Doch dann ein paar Bäume und Sträucher, tatsächlich sowas wie Leben, ein Flüsschen, das beim letzten Regen ein tiefes Loch hinterlassen hat, ein beinahe so breites Loch wie der Weg ist, also muss man sich am Ufer entlang hangeln. Immerhin folgen dann doch die letzten Kilometer bis Guillena.
Herbergen und neue Freunde
Aus irgendwelchen, auf den ersten Blick unerfindlichen Gründen ist die Herberge geschlossen, und ich werde von einer älteren Dame, die Mutter des Hospitaleros, zu einer anderen gebracht.
Nichts Besonderes, die üblichen Kajütenbetten, Duschen und Toiletten, eine Art Gemeinschaftsraum, sonst nichts. Aber daran werde ich mich gewöhnen müssen.
Immerhin lernt man die ersten Mitstreiter kennen. Da ist Frank aus Ludwigshafen („die hässlichste Stadt Deutschlands“), eine schüchterne junge Dame aus Deutschland namens Nina, und eine unglaublich laute und sehr seltsame Spanierin namens Soraya. Am Abend gesellt sich eine Asiatin zu uns, Shilin, und wie sich später herausstellt, eine wunderbare Wanderfreundin.
Doch der Grund für die vorübergehende Schliessung der Herberge wird nach einem Besuch in der Stadt klar. Es ist ein Riesenfest im Gang, so eine Art Jahrmarkt, mit zahlreichen Zelten und Restaurants und Attraktionen und einer Million Menschen, die den Samstagabend geniessen. Ich bin ein kleiner Teil, ein Beobachter von aussen, trinke mein Bier, beobachte das wilde Treiben und fühle mich glücklich.
Von Guillena nach Castilblanco
Das erste Frühstück ist gelinde gesagt eine Zumutung. Eigentlich ist für die 15 Euro nichts vorhanden, ein Rest vertrockneter Konfitüre, ein noch kleinerer Rest Margarine, die auch schon bessere Tage gesehen hat, und an Kaffee kann ich mich nicht erinnern.
Anyway, um Acht Uhr gehe ich los, könnte es sein, dass ich schon wieder der letzte bin, ach egal. Es geht über eine Brücke, dann in ein Industriequartier und schliesslich auf einem ziemlich schlechten Weg in Richtung Norden.
Unter blauem Himmel
Es wird immer besser, die Stimmung ringsherum ist zum ersten Mal so, wie ich mir das vorstelle. Eine schwere, von der zunehmenden Hitze erfüllte Stille, nur gelegentlich unterbrochen durch das ferne Krächzen eines Vogels.
Ein Phänomen, das nun zur Gewohnheit wird – man trifft sich immer wieder, manchmal ist der eine voraus, dann der andere, man picknickt zusammen, quatscht mit Frank und Soraya und erhält langsam Informationen über die seltsamen Leute, die ebenfalls den Camino bewandern.
Nach und nach beginnt der Weg zu steigen, man erreicht eine Hochebene, der Blick geht hinaus auf Oliven- und Orangenplantagen, gesäumt von Weiden und Feldern.
Doch es wird noch besser, denn nun wandert man entlang locker stehenden Korkeichen, Büsche und Sträucher, es könnten Rosmarin und Zistrosen sein, wie ich mir später sagen lasse.
Ein Schild über dem Weg will wohl witzig sein, Cheer up, ruft es den Wanderern zu, um gleichzeitig ziemlich boshaft darauf hinzuweisen, dass es nur noch 927 Kilometer bis Santiago sind. Und auch das ist noch untertrieben, denn ab Castilblanco sind es nämlich 940 km.
Aber was soll’s, man nimmt es gelassen, es ist nur eine Zahl, wir vergessen sie.
Die Herberge ist okay, hoffentlich die letzte bis Merida, der Hospitalero ist okay, aber geschwätzig, immerhin hat die Bar gegenüber geöffnet, also erstes Bier, dann einrichten, quatschen, einkaufen.
Abendessen mit Nina in der Bar (die gemäss Hospitalero geschlossen ist), wir zahlen 9 Euro für das sogenannte Pilgermenu. Auf dem Weg zum Shoppen entdecken wir eine Bar, die speziell darauf hinweist, dass es bei ihr ab sechs Uhr Frühstück gibt. Na denn, dann kann ja nichts passieren.
Von Castilblanco nach Almaden de la Plata
Und noch eine neue Erfahrung, die mir in Zukunft bei jeder Herberge massiv auf den Geist geht: Punkt halb sechs stehen die (vor allem alten) Pilger auf und machen sich mit einigem Lärm auf, den Tag zu beginnen. Nun, an diesem Morgen bin ich nicht unglücklich, es gilt ja, an diesem Morgen die erste grosse Herausforderung zu meistern – die 16 km der Strasse entlang. Und da die gesamte Strecke fast 30 km misst, heisst es früh aufstehen und loslegen.
Fast ein bisschen befürchtet – die vermeintliche Frühstücksbar ist so dunkel, wie es nur sein kann. Also zurück zur Herberge, wo ich mir eine Tasse Kakao kredenze und wo mir der grosszügige Frank ein Sandwich schenkt, damit ich wenigsten etwas im Magen habe. Seltsamerweise scheine ich der einzige zu sein, der die Strapazen der 16 km auf sich nehmen will, die anderen nehmen ein Taxi bis zum Eingang des Parks.
16 Kilometer der Strasse entlang
Ich bezweifle, dass ich je so früh und in derart stockdunkler Nacht gewandert bin. Andalusien liegt weit im Westen, also wird es sehr spät hell, was bedeutet, dass ich um 7 Uhr immer noch in tiefer Nacht loslege.
Nun also auf ins Glück, 16 Km der Strasse entlang. Ich fühle mich vom ersten Augenblick an völlig wohl, der gelegentliche Blick auf die Rother-App (erkläre ich später) ist überflüssig, man folgt einfach der Strasse, auf der zu dieser Zeit keine Autos verkehren, ich bin froh.
Und zum ersten Mal erlebe ich das, was ich noch viele Male erleben werde, das Laufen wie in Trance, Schritt um Schritt, Meter um Meter, Kilometer um Kilometer.
Dann wird es langsam hell, der Horizont beginnt zu leuchten, die ersten Autos rasen vorbei. Ich geniesse es in allen Zügen, rational ist diese Freude nicht zu erklären. Einzig das Klappern der Stöcke auf dem Asphalt unterbricht die Stille. Nach 1.5 Stunden auf einem Mäuerchen die erste Pause am Strassenrand. Einer der Spanier, ebenfalls auf dem Camino, eilt vorbei – Todo bien? Todo bien.
Irgendwie besitzt der Trip eine eigene Schönheit. Auf und ab, selten geradeaus, Kurve um Kurve. Ein langer Aufstieg zum höchsten Punkt macht sich in den langsam etwas müden Beinen bemerkbar, doch die Strapaze geht dem Ende zu.
Der Park El Berrocal
Kurz danach endlich der Eingang zum El Berrocal. Ich habe die verfluchten, wunderbaren 16 km hinter mich gebracht, ohne Wehklagen, sogar mit unerklärlichem Genuss. Ein langer ebener Feldweg führt eine halbe Stunde bis zur Forstwacht La Morilla. Dort Mittagessen unter leise im Wind neigenden Föhren, umgeben von vielen Katzen. Doch ihre Augen sehen krank aus- Katzenblindheit? Sie tun mir leid, ich füttere sie mit allem, was ich habe, doch mehr kann ich nicht tun für sie.
Almaden entgegen
Weiter gehts, auf und ab in Richtung Almaden, die Wege werden nun wilder, manchmal wie ein ausgewaschenes Bachbett, dann wieder weich und sanft wir auf Daunen. Sie führen entlang endlos scheinenden Reihen von Steineichen, später Föhrenwälder, und so folge ich dem Camino, der zum ersten Mal zeigt, welche Schönheiten er am Wegrand bereithält.
Letzter Aufstieg zum Cerro de Calvaria zieht sich hin, nach fast 30 Km und über 9 Stunden eine mittlere Tortur.
Am Wegrand beim Aufstieg eine Tafel, sie gedenkt Michel Laurent, der an dieser Stelle starb.
Ein Todesfall auf dem Camino, nicht so selten, wie man denkt. Überschätzung, Hitze, Durst, Erschöpfung – es gibt einige Risiken, die man beachten sollte. RIP Michel!
Am Fuss des Hügels wird Almaden sichtbar, die letzten Meter geht es steil bergab, dann ein Gartenrestaurant, ein Bier. Anstossen auf den ersten grossen Erfolg auf dem Camino.
Das Hotel Concha ist okay, trotz fehlendem Wlan im Zimmer. Etwas später, müde und glücklich, essen mit Frank und Lin, man kommt sich näher. Da bildet sich offenbar eine Wandertrio. Todo bien!
Passender Song: Govi – Noches en Andalucia
Und hier geht der Camino weiter … von Almadén nach Funte de Cantos