Alte Hotels sind wie Geschichtsbücher.
Mehr noch als jene in den grossen Städten sind es die kleinen Landgasthöfe, in deren Zimmern der Duft vergangener Zeiten zu riechen ist. Das Holz atmet, der Boden knarrt, wenn man darauf steht, manchmal geht ein Stöhnen durch die Wände, als wären kleine Kobolde darin gefangen.
Die Zimmer haben viel erlebt, viel gesehen, Gäste auf der Durchreise, Handelsvertreter, Touristen, Chauffeure, manchmal nüchtern oder betrunken, manchmal müde oder trauernd, feiernd oder einsam, vielleicht wilde Hochzeitsnächte oder die Folgen rauschender Feste.
Der Rote Thurm (kein Schreibfehler) in Signau entspricht haargenau diesen Vorstellungen. Es gibt zwar weder TV noch eine anständige Dusche, aber das Wlan ist nicht überraschend allererste Sahne. Da scheint doch die Technik-Affinität unseres Bitcoin Fans eine Rolle gespielt zu haben.
Die Wände, die Wandkästen (die ich nicht brauche), der Boden, auch das Bett sind aus Holz, dunkle Vorhänge (ach Gott, die lieben Milben) hängen über einem altertümlichen Fenster, so wie sie früher Standard waren. Aber ich fühle mich auf Anhieb sehr wohl und würde sie nie tauschen wollen gegen die überteuerten Zimmer auf der Lüdernalp.
Der Wirt hat sich Corona-bedingt samt Familie aus seiner Wohnung in ein paar der Hotelzimmer verzogen, der Grund dafür ist mir allerdings schleierhaft. Aber er scheint ein ziemlich schräger Typ zu sein, jemanden, den man kaum in einem Dorf wie Signau erwarten würde.
Aber es passt alles zusammen, auch seine euphorisch vorgebrachte Eloge über die Zukunft der Kryptowährungen (und damit über das Schicksal der Welt). Und so werde ich also zum ungewollten Zeugen familiärer Dispute und Gespräche im wunderbaren Singsang des Berndeutschen.
Das Bekannte hinter sich lassen
Der Wirt hat mich beim Frühstück ein weiteres Mal mit seinen Hypothesen zu Bitcoin zugetextet, das meiste davon habe ich nicht verstanden, und erhrlich gesagt, will ich es gar nicht verstehen. Auf jeden Fall drückt er mir eine Visitenkarte in die Hand mit dem Versprechen, mir in Sachen Kryprowährungen helfen zu wollen, falls ich irgendwann den Bedarf danach verspüre.
Also wieder ein Abschied, und wie an jedem Morgen lässt man etwas Bekanntes hinter sich.
Signau ist nicht unbedingt eine sehenswerte Erfahrung, zeigt aber, wie die Schweiz abseits der grossen mondänen Zentren lebt und arbeitet. Hier scheint auch die Zeit einen anderen Rhythmus zu haben, vielleicht steht sie manchmal still, verharrt einige Tage, Wochen, Jahre, bis sie wieder Tempo aufnimmt und erstaunt bemerkt, dass sich in diesen Pausen die Welt verändert hat.
Und trotzdem haben diese kleinen verschlafenen Dörfer ihren eigenen Charme. Manchmal vermisst man die Menschen, das Leben, das sich unbemerkt davon geschlichen hat, denn alle diese Orte leiden unter Abwanderung, und so stehen wunderbare alte Gasthöfe leer, sind seit langem geschlossen, verströmen eine eigene Art Trauer über all das, was verloren gegangen ist.
Aber so ist der Lauf der Welt. Die einzige Konstante ist die Veränderung, und diese setzt sich immer und überall durch. Je älter man wird, umso schmerzlicher werden diese Veränderungen. Man fängt an, sich dagegen zur Wehr zu setzen, ohne Erfolg natürlich, denn auch das ist der Lauf der Welt, dass das Alte immer Platz machen muss für das Neue. Auch wenn es manchmal schwerfällt.
Eher flach, eher einfach
Eigentlich müsste ich mich nun auf den Weg von der Moosegg über die Blasenfluh befinden, doch einmal mehr stehe ich ohne meine 3-er Wegweiser ein bisschen verloren da und weiss nicht recht, was mich heute erwartet.
Die Hinweise im Führer sind klar:
Die Dörfer werden grösser, die Hügel runder und niedriger, doch die Aussicht bleibt erhalten. Nach einem kurzen Aufstieg zur Blasenfluh ist die Fortsetzung des Weges fast nur noch ein gemütliches Abwärtsgehen bis ins breite Aaretal bei Münsingen.
Länge: 18 km, Aufstieg | Abstieg: 420 m | 840 m, Wanderzeit: 4 h 45 min
Länge: 20 km, Aufstieg | Abstieg: 650 m | 755 m, Wanderzeit: 6 h 40 min
Auf der Karte ist ersichtlich, wo meine alternative Route durchführt. Anstelle der Blasenfluh wird Oberhofen und Zätziwil geboten, eine ziemlich flacher und einfacher Abschnitt bis Grosshöchstetten, wo ich mich wieder mit dem Panoramaweg vereinen werde.
Es dauert wieder mal, bis ich den Weg finde, aber wer hätte gedacht, dass es hier einen prächtigen Wanderweg abseits der Strasse gibt. Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann ist es die Tatsache, dass es entgegen der Meinung von Google Maps, die öfters falsch liegt, fast immer Wanderwege gibt, auch wenn sie nicht eingezeichnet sind.
Ich habe diese flachen breiten Wege in der Zwischenzeit lieben gelernt. Man fühlt sich irgendwie schwerelos, es ist wie bei langem Joggen, wenn das Endorphin einfährt und man endlos weiterlaufen möchte.
Der Blick geht links und rechts, die Bewunderung bleibt, auch wenn es nur ganz normale Hügel sind, einige davon bewaldet, andere grün und gelb. Bauernhöfe mit den hier typischen Dächern grüssen von weitem, sie scheinen da schon seit Jahrhunderten zu stehen, und wenn sie Glück haben, werden sie weitere Epochen überdauern.
Und so gehe ich vor mich hin, wie in den vergangenen zwei Wochen, einen Fuss vor den anderen setzend, der Kopf voll oder auch leer, die Gedanken springen wilden Affen gleich von einem Thema zum anderen, ungeordnet, ungeplant. Dabei möchte man Achtsamkeit üben, nichts denken, nur gehen und nichts anderes.
Wie immer ein beinahe unlösbares Problem.
Begegnungen
Es ist zwar kaum zu glauben, aber in Oberhofen grüsst mich eine Frau, und tatsächlich, es handelt sich um eine der Frauen mit Hund, denen ich gestern am Fluss entlang begegnet bin. Wir sind schon beinahe alte Bekannte, sie fragt nach dem Befinden, ich nach ihrem, und dann trennen sich unsere Wege wieder, wahrscheinlich für immer.
Ich folge den Wegweisern, die mich irgendwohin führen, nur nicht dorthin, wo ich hinmöchte. Der Waldweg wird steiler, da merke ich endlich, dass ich genarrt worden bin, und kehre um. Wie vermisse ich doch meine Panorama-Wegweiser. Abseits kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Richtung immer die richtige ist.
In Zäziwil (wieder so ein Name) stolpere ich mehr durch Zufall über ein wunderbares Gartenrestaurant, alte Männer mit Hunden (in dieser Gegend scheint jeder einen zu haben) sitzen entspannt an ihrem Tisch, lachen, rauchen, diskutieren, man könnte ihnen stundenlang zuhören.
Müde und ein Hungerast
Es ist wieder mal drückend heiss geworden, sogar meine eisenharte Widerstandskraft gegen Hitze scheint an ihre Grenzen zu kommen. In Grosshöchstetten treffe ich auf meine geliebten Panorama Wegweiser, von da an geht es wieder der Standard-Route entlang.
Die flachen Wege sind Vergangenheit, jetzt geht es wieder die Hügel hinauf und hinunter, Wälder bringen etwas Schatten, vermögen etwas Kühlung zu verschaffen.
Und dann, auf einem nicht besonders steilen Aufstieg, spüre ich das, was die Fahrer der Tour-de-France fürchten wie der Teufel das Weihwasser – einen handfesten Hungerast.
Offenbar habe ich zuwenig gegessen (wahrscheinlich auch schon einiges an Gewicht verloren), auf jeden Fall fühlen sich meine Beine auf einmal an wie aus Gummi, ich muss tief durchatmen und mich ein paar Minuten hinsetzen.
Oder ist das ganz einfach die Meldung meines malträtierten Körpers, dass es nun langsam genug ist? Meine Pulsuhr verkündet jeden einzelnen Tag, dass ich mich überfordert hätte und nun mindestens drei Tage keine weitere Anstrengung unternehmen dürfe. Was mir natürlich vollkommen egal ist.
Glücklicherweise taucht am Waldrand genau das auf, was ich jetzt brauche, eine Sitzbank mit Aussicht. Die Aussicht ist mir zwar im Moment ziemlich egal, der nahrungsmässige Inhalt meines Rucksacks interessiert mich um einiges mehr.
Und hoppla, nach einigen Minuten und ein paar hundert Kalorien mehr im Magen fühle ich mich wieder zehn Jahre jünger (was allerdings immer noch ziemlich alt ist).
Lange Wege und ein Feld aus Klatschmohn
Und dann bin ich definitiv raus aus dem Wald, lange Felder mit endlos scheinenden Wiesen säumen links und rechts den Wanderweg. Es gibt Momente, wo ich für einmal nur den Weg als einziges zivilisatorisches Zeichen erkennen kann. Kein Haus, kein Hof, keine Strasse, nur Wiesen und Hügel und Himmel und Wolken und mich.
Doch dann stehe ich berührt vor einem Weizenfeld voller Klatschmohn, ach, was sage ich Feld, es ist ein Meer aus hunderten, tausenden roter Flecken, die sich im Wind beugen. Ich weiss nicht, wie die Weizenernte vor sich geht, wenn es soviele ungebetene Gäste im Feld hat.
Aber soviel Schöhneit und trotzdem in so kurzer Zeit dem Untergang geweiht.
Münsingen und ein mehr als seltsamer Übernachtungsort
Ich erreiche das Aaretal, Bern ist nur noch einen Katzensprung entfernt. Und Münsingen kommt näher, langsamer als gewünscht, es sieht wieder mal nach einem abendlichen Gewitter aus.
Der Übernachtungsort Bio-Schwand liegt etwas ausserhalb der Stadt, also noch einmal ein paar Zusatzkilometer über lange Feldwege. Als ich den Bio-Schwand-Komplex erreiche, bin ich irritiert, weiss nicht so recht, worum es sich hier handelt.
Es ist gar nicht so einfach sich zurechtzufinden. Wo sich allerdings das Wöschhüsli befindet, das mir die Hausherrin am Telefon bekanntgibt, weiss ich nicht, also brauche ich Hilfe. Der ganze Komplex ist sehr weitläufig, man kann sich schnell verirren.
Nun, irgendwann finde ich das Gebäude, wo sich die Zimmer befinden. Sie erinnern ans Militär, an Kasernen, an Lagerhäuser, an Schulferien, wirkt aber sehr sympathisch.
Ich muss im Web nachsehen, wo ich hier gelandet bin. Offenbar handelt es sich hier um ein recht vielfältiges Angebot. Es gibt einen Bio-Bauernhof, eine Bio-Imkerei, eine Bio-Gärtnerei, ein Pferdetherapiehof und ausserdem ein grosses und vielfältiges Aus- und Weiterbildungsangebot im Bereich der biologischen und regenerativen Landwirtschaft.
Alles in allem also ein auf biologische Philosophie aufgebautes Zentrum für eine vielfältige Natur und deren Erhaltung.
Gefällt mir.
Und da sind sie, meine Wanderkumpels
Heute Abend findet mein Solo–Wandern ein temporäres Ende, denn die nächsten 5 Tage werde ich von meiner langjährigen Wandertruppe begleitet, sprich Bruder Walti und Cousin Fridli. Der vierte im Bunde, John, ist quasi von Somerset aus dabei und wird uns wie immer mit Rat und Tat begleiten.
Wir sind ein eingeschworenes Trüppchen, seit 1997 jährlich unterwegs.
Wir haben den Montblanc umrundet, uns in Wales verirrt, das wunderbare Mairatal durchwandert, Korsika durchquert, vom Piemont nach Nizza gewandert, dem South West Coast Trail gefolgt und viele andere Wege in Italien und Frankreich und England und Schweiz und Österreich erfolgreich absolviert.
Und so wird das Zusammentreffen in der Pizzeria beim Bahnhof Münsingen zu einem glücklichen Wiedersehen.
Wir freuen uns auf die nächsten Tage.
Song zum Thema: Congo Natty – Get ready
Und hier geht der Trip weiter … nach Riggisberg