Manchmal, glücklicherweise nicht allzu oft, gibt es Tage, die alles andere als eine Wohltat sind. Mit anderen Worten, Scheisstage.
Der Scheisstag beginnt schon früh, eigentlich hört der gestrige Tag gar nie wirklich auf. Er verschafft mir trotz angenehmer Umgebung und weichem Bett eine beinahe schlaflose Nacht, wie immer schwierig zu erklären. Zu grosse Pizza? Zuviel Bier? Allergie?
Anyway, morgens um halb sechs falle ich zwar endlich in einen unruhigen Dämmerzustand, kaum als Schlaf zu bezeichnen, und kurz nach sieben erwache ich bereits wieder. Keine gute Voraussetzung für einen Wandertag.
Das opulente Frühstück in der Küche der Wohnung vermag aber meine müden Geister aufzuhellen. Die Wohnungsinhaber, ein freundliches Paar in den besten Jahren, setzt sich dazu und bringt mir die Geheimnisse von St. Imier näher.
St. Imier
Das Städtchen hat offenbar eine lange Geschichte, und diese geht vor allem auf eine lange und erfolgreiche Uhrmachertradition zurück. Ich zitiere Wikipedia:
Saint-Imier war bis Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich von der Landwirtschaft geprägt. Danach entwickelte sich im Ort die Uhrmacherei, zuerst teilweise in Heimarbeit und in kleinen Werkstätten, später auch in Fabriken.
1866 wurde die Compagnie des Montres Longines Francillon SA gegründet. Breitling, Blancpain, Chopard und TAG Heuer stammen ebenfalls ursprünglich aus Saint-Imier.[10] Mit der Uhrenindustrie setzte ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung ein und die Bevölkerung wuchs von 2632 Einwohnern (1856) auf 7557 Einwohner (1888).
Saint-Imier wurde zum Zentrum der Uhrenherstellung im Vallon de Saint-Imier und erlebte nach 1880 eine Blütezeit, in der zahlreiche grosse Industriebauten erstellt wurden. Durch die Krise in der Uhrenherstellung ab 1970 hat der Ort schwer gelitten. Hunderte von Arbeitsplätzen gingen verloren und die Bevölkerungsabnahme verstärkte sich.
Heute hat sich die Gemeinde auf die Mikromechanik und die Produktion von Präzisionsgeräten spezialisiert. Weitere Arbeitsplätze gibt es auch in der Herstellung von Uhrengehäusen.
Der Niedergang ist spürbar, wenn man durch die Strassen geht. Die Stadt sieht wenig belebt aus, obwohl die typische welsche Lebensfreude doch da und dort noch zu spüren ist. Wenn man bedenkt, dass das Städtchen in seinen besten Jahren beinahe doppelt soviele Einwohner hatte, dann wundert man sich nicht.
Wie auch immer, ich verabschiede mich von meinen temporären Gastgebern und mache mich auf in Richtung Dombresson.
Topform
Überraschenderweise fühle ich mich trotz Schlafmangel in Topform, der Weg ausserhalb der Stadt macht es mir einfach. Wenn das so weitergeht, bin ich ganz zufrieden.
Der Travelguide macht Lust auf eine einfache, relativ kurze Etappe :
Vom Uhrmacherstädtchen in die Kornkammer des Neuenburgerlandes. Dabei geht es durch eine Klus, wie sie für das Kalkgestein der Jurakette typisch ist. Abstieg ins Val de Ruz durch einen schattigen Wald. Überragt wird die Ebene vom Chasseral mit seiner grossen Antenne.
Länge 15 km; Aufstieg | Abstieg 580 m | 560 m; Wanderzeit 4 h 20 min
St. Martin hat offenbar vergessen, vernünftige Unterkünfte bereitzustellen, und so bin ich gezwungen gewesen, ein Hotel in Dombresson zu suchen. Es gilt also, die richtige Abzweigung zu finden.
Und tatsächlich, die ersten Kilometer führen entlang Wiesen und Wälder, man erklimmt leichten Schrittes sanfte Hügel, der Himmel, manchmal stahlblau und wolkenlos, dann wieder überzogen mit weissem Geflecht.
Die Schönheit der Gegend bringt einem aus dem Gleichgewicht, man möchte sich niedersetzen und nur noch staunen über die Welt, die hier noch seltsam intakt scheint, beinahe unberührt durch die Eingriffe des Homo Sapiens.
Düstere Gedanken
Der Gegensatz zwischen dem, was Auge und Herz entzückt, und dem, was der Kopf für die Zukunft des Planeten befürchtet, könnte nicht grösser sein.
Hier grünes saftiges Gras, Wälder mit (auf den ersten Blick) gesunden kräftigen Bäumen, angenehme Temperaturen. Und dort, vielleicht zu weit weg, um sich grosse Sorgen zu machen (so tickt der Mensch), verbrannte Erde, unertragliche Hitze, verhungernde verdurstende Tiere auf toten Weiden.
Und so kann ich die seltsamen düsteren Gedanken, die immer dann auftauchen, wenn sich die Welt in aller Pracht darbietet, nicht verdrängen. Wir alle sind uns bewusst, was es geschlagen hat. Die Uhr tickt, TICK TICK TICK, unser wunderbarer Planet geht einer heissen, unbewohnbaren Zeit entgegen. Punkt.
Die Menschheit zieht es vor, in einer seltsam apathischen Ruhe zu verbleiben, in der Hoffnung, dass unsere technologischen Entwicklungen den Armageddon verhindern werden.
Ich, als geborener Optimist, habe in den letzten Jahren jede Hoffnung auf das Veränderungspotential des Menschen aufgegeben. Sind wir zu dumm, zu schwach, um unser Verhalten zu ändern? Man macht einfach weiter, so wie immer, und hofft darauf, dass es nicht allzu schlimm werden wird.
Düstere Gedanken an einem derart schönen Tag.
Dabei bin ich eben daran, die Wiesen zu verlassen und mit ihnen das Vallon de St. Imier, und zwischen die Bäume einzutauchen.
Der Himmel verschwindet immer wieder zwischen den Ästen, nur gelegentlich erweisen ihm die Bäume einen kurzen Gruss. Der Gang ist leicht, die bösen Gedanken krakelen nicht mehr herum, verschwinden vorübergehend im Unterbewusstsein.
Ich geniesse die Abschnitte durch den Wald, es geht eine Weile aufwärts, ein einsamer Baum, liebevoll eingerahmt durch dunkle Wolken, weist mir den Weg.
Unfreiwillig auf Teerstrassen
Leider hat das Vergnügen schon bald ein Ende.
Der Rest der Etappe findet mehrheitlich auf Teerstrassen statt. Nicht das, was ich mir wünsche, aber manchmal kommt die beste Routenplanung an ihre Grenzen, weil es einfach keine anderen Möglichkeiten gibt.
Und so trampe ich vor mich her, ein bisschen verärgert, wir immer, wenn das, was ist, nicht dem entspricht, was man gerne hätte. Eine Weisheit, die für das ganze Leben gilt.
Aber immerhin, nach einigen Kilometern erwische ich die richtige Abzweigung nach Dombresson, es geht abwärts, ich bin nun im Val de Ruz.
Das Hotel scheint geschlossen, also setze ich mich in die Gartenwirtschaft, strecke die Beine aus und fühle mich so wie immer, wenn ein Ziel erreicht ist.
Auf angenehme Weise müde, zufrieden und vollkommen im Gleichgewicht.
Das ist das, was man sucht, nicht nur auf Wanderungen.
Das Gleichgewicht.
Passender Song: Soundgarden – Fell on black Days
Und hier geht der Trail weiter … nach Neuchatel