Nun denn, heute also der erste Tag in Begleitung, der Weg ist weit, aber, wenn ich mich recht erinnere, von ausgesuchter Schönheit.
Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, während oben an der Strada Alta Ruhe herrscht. Prächtige Sicht auf die Bergketten der Leventina und des Val Bedretto. In Dörfern und Wiesen leuchten helle Kapellen. Osco war einst ein wichtiger Säumerort.
Länge 18 km; Aufstieg | Abstieg 760 m | 760 m; Wanderzeit 5 h 10 min
Unsere Werte: Länge 18 km; Aufstieg | Abstieg 980 m | 965 m; Wanderzeit 7 h 49 min
Der Klassiker der Leventina
So viele grossartige Etappen liegen hinter mir. Die Flusswanderungen entlang des Doubs oder der Aare und der Emme bis an ihre Quelle. Oder die phantastischen Wanderungen entlang einiger der schönsten Seen der Welt.
Unvergessliche Tage voller Licht und Sonne und Luft.
Aber heute beginnt ein neuer Höhepunkt.
Die Strada Alta, ein Klassiker, einer der schönsten Wanderwege, die unser Land zu bieten hat. Sie führt von Airolo bis Biasca, immer hoch über der Leventina, ein dauerndes Auf und Ab, durch Wälder und Wiesen, durch Dörfer und Weiler.
Wir folgen während drei Tagen einem alten Säumerpfad, der die gefährlichen Schluchten im Talboden umging.
Die Route steigt von Airolo bis zum höchsten Punkt auf 1400 Metern, um nach rund 45 Kilometern mit einem 700-Meter Abstieg abrupt in die Talsohle zu stechen.
Die ersten Sonnenstrahlen
Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir bei den ersten Sonnenstrahlen aufbrechen. Natürlich sind wir wie gewohnt viel zu spät beim Start, aber das kennen wir ja in der Zwischenzeit. Also gehen wir die Sache altersbedingt sehr gemächlich an, durchqueren das langgezogene Dorf und seine zugehörigen Weiler, bis der Weg zu steigen beginnt. Alles gut.
Airolo bleibt hinter uns zurück, der Weg führt gemütlich aufwärts, kaum zu spüren. Wir durchqueren das Val Canaria (was ein paar schmerzhafte Erinnerungen an eine Wanderung vor langer Zeit wachruft) und erreichen schon bald ein erstes Dorf hoch über dem Tal – Madrano.
Manchmal sind es sonnenbeschienene Wiesen und Abhängen, die wir durchqueren, manchmal Wald und Bäume, die sich über den Weg beugen. Man taucht in eine andere Welt ein, in eine stille, einfache Welt, wäre da nicht das Röhren und Brummen des unzähmbaren Verkehrs im Tal unten. Trotzdem, man atmet automatisch durch, die Brust weitet sich, der Geist, dieser unstillbare Geselle, wird leiser.
Der Blick zurück zeigt das Tal kurz vor Airolo, Autobahn und Bahnstrecke, Dörfer und Weiler und Abhänge und Wiesen und Wälder, ganz zuhinderst der Gotthard und die tiefen Einschnitte, die von der neuen Gotthardstrasse in den Berg geschnitten wurden. Soviele Sünden auf einen Blick.
Aber anyway, wir schauen vorwärts, lassen alles hinter uns, unsere Richtung ist Süden und nichts anderes mehr. Der Himmel ist zwar voller Wolken, aber die Sonnenstrahlen liebkosen die grün- und gelb gefleckten Hänge, wir fühlen uns willkommen.
Schritt für Schritt, manchmal schwatzend, dann wieder schweigend, wandern wir aufwärts. Die Wanderstöcke, klack, klack, geben den Takt vor. Dieser Sound wird uns bis Mendrisio begleiten. Nach einiger Zeit erreichen wir den höchsten Punkt auf gut 1400 Metern.
Auf dieser ersten Etappe führt der Wanderweg immer wieder auf Asphaltstrassen entlang, aber was soll’s, wir nehmen, was kommt. Ab morgen wird alles besser (so hoffen wir). Aber immerhin gibt es grossartige Abschnitte, unter laubbesetzten Bäumen hindurch, wo der Boden weich und angenehm zu gehen ist. So muss es sein.
Holzhäuser und Steinhäuser und alles andere
Eine Wanderung ist auch immer (oder meistens) eine Lektion in Geographie, in Geschichte, in Politik und Wirtschaft. Dazu braucht es allerdings einen offenen Blick und gespitzte Ohren (und später eine nachträgliche Recherche in den dazugehörenden Informationen). Ach, dieses vermaledeite Halbwissen.
Wer hätte schon gewusst, dass in der oberen Leventina der Urner Baustil die vorherrschende Architektur der Hangsiedlungen mit den dunkelbraunen Holzhäusern ist, während sie weiter südlich durch Steinhäuser dominiert werden. Oder dass der Bergwald nach und nach durch Föhren, Birken und allerlei Gebüsch abgelöst wird und schon bald die ersten Kastanienhaine auftauchen.
Manchmal watschelt man einfach vor sich hin, ohne Gedanken an die Umgebung und deren Geschenke. Wenn man denn bloss etwas aufmerksamer wäre.
Eine Lektion fürs Leben, so scheint mir.
Dörfer mit und ohne Leben
Es ist tatsächlich so, auch in den winzigsten Dörfern, die kaum das Attribut Dort verdienen, steht eine Kirche oder zumindest eine Kapelle. Ein Aufruf an die frommen Bürger, natürlich allesamt Katholiken in diesem strenggläubigen Kanton, sich gefälligst an die Ehre Gottes zu erinnern.
Allerdings – die Erkenntnis lässt sich nicht verdrängen – scheinen all diese Dörfer an einem grossen Mangel zu leiden, der sicht- und spürbar ist. Es fehlt an Leben, an Menschen, an Stimmen, an Kinderlachen. Vielleicht haben wir den falschen Augenblick erwischt. Die Kinder sind in der Schule, die Erwachsenen im Tal unten am Arbeiten. Vielleicht – es wäre zu hoffen – erwacht das Leben erst nach Feierabend.
Ich bleibe skeptisch.
Und natürlich gibt es die umgebauten Häuser, die ehemaligen Rustici, die zu Ferienchalets verwandelt wurden, selten bewohnt, vielleicht an den Wochenenden oder Ferien. Einerseits eine Möglichkeit, eine Art Ersatzleben aufrecht zu erhalten, auf der anderen Seite der Einfluss einer fremden Welt, einer anderen Kultur, die vor allem durch Geld geprägt ist.
Es erinnert mich an einen Roman, der das Gegenteil beschreibt, ein fiktives Tessinerdorf im Bleniotal – Tage mit Felice von Fabio Andino. Obwohl die Geschichte eines alten Mannes in der Gegenwart spielt, weist vieles an eine längst vergangene Epoche zurück.
Doch Andino beschreibt ein lebendiges Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat.
Es gibt einen Laden, eine Kneipe, viele alte, teilweise baufällige Häuser, und vor allem viele Bewohner. So wie man sich an die eigene Jugend erinnert – voller schräger Figuren, voller Leben, auch wenn häufig von grosser Armut geschlagen. Doch das Dorfleben funktioniert, es gibt eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt.
Nun gut, irgendwie habe ich mich beim Lesen gefragt, ob die Geschichte nicht aus der Zeit gefallen ist, ob nicht vieles der Phantasie des Schriftstellers entspricht, der sich mit seinem Roman eine eigene Utopie geschaffen hat. Unsere Erkenntnisse beim Wandern auf der Strada Alta sind anders.
Aber wer weiss, vielleicht gibt es im Bleniotal noch Erinnerungen an die Vergangenheit.
Abstieg durch den Bosco d’Öss
Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, doch hier oben herrscht Stille, sieht man von den jubilierenden Gesängen unsichtbarer Vögel ab. Sie sind unsere ständigen Begleiter, denn ausser uns ist selten jemand zu sehen oder zu treffen. Die Wander-Hauptsaison ist vorbei, man hat sich wieder der Arbeit verschrieben, der Schule, anderen Leidenschaften.
Im Sommer hingegen wimmelt es hier von Ausflüglern, von leicht bis schwer beladenen Wanderern, manche für einen Kurztripp, andere wie wir für längere Etappen. Wir sind froh um die relative Einsamkeit, die Autos und Traktoren auf den jeweiligen Asphaltabschnitten genügen vollkommen.
Durch den sogenannten Bosco d’Öss, hoch über der Piottinoschlucht, überschreitet man auf einem strengen, steinigen Abstieg die Grenze zur mittleren Leventina (machen wir uns später schlau). Eine interessante Bezeichnung, weist sie doch auf die besonderen Dialekte hin, die hier gesprochen werden. Man kann nur vermuten, dass sich die Sprache alle paar Täler wieder ändert, so wie wir das aus unserer gemeinsamen Heimat kennen (wo ein schmaler Fluss zwischen zwei Dörfern nicht nur andere Ausdrücke, sondern auch andere Betonungen bedeutet).
Es ist ein ständiges Auf und Ab. Zuweilen glaubt man, am gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Osco zu erkennen, aber es entpuppt sich als Schimäre, unserer langsam etwas müde gewordenen Phantasie entsprungen.
In der Zwischenzeit sind viele Stunden vergangen, wunderbare Stunden entlang (meistens) grossartigen Wegen mit einer Aussicht, die man eigentlich kostenpflichtig machen müsste (was der Krämermentalität der Schweizer durchaus entsprechen würde; man darf ihnen allerdings nicht allzu böse sein – es gibt in diesem kleinen Land weder Bodenschätze noch sonst was, was sich monetarisieren lässt, also hält man sich an das, was vorhanden ist, die grossartige Natur).
Osco – und eine verlassene Unterkunft
Schliesslich nähern wir uns doch dem malerischen Dorf Osco, im Mittelalter ein wichtiger Säumerort, wo die sogenannte Säumerordnung aus dem Jahr 1237 das älteste Dokument ist, das über die Nord-Süd Verbindung über den Gotthard berichtet.
Auch hier, wir sind gar nicht mal überrascht, keine Menschenseele zu sehen, einmal mehr weit weg von geschäftigem Leben. Wir sind einquartiert im mehr oder weniger einzigen Etablissement im Dorf, im Ostello pro Osco, einem stattlichen Gebäude, wo wir garantiert genug Platz haben werden. Nur ist leider auch hier niemand zu sehen, die Tür ist verschlossen, kein Laut zu hören.
Zumindest haben wir eine Telefonnummer, ein Kontakt wird hergestellt, und kurz darauf keucht eine ältere Dame vom Dorf herauf, die uns die Pforten zu unserem temporären Paradies öffnet. Unser Paradies entpuppt sich als Unterkunft für gut zwanzig Personen, man schläft in Reihenbetten, der Waschraum erinnert an die Zeiten in der Armee, aber was soll’s, wir sind gelandet.
Abendessen und Frühstück werden am zentralen Platz im entsprechenden Restaurant (dem einzigen im Dorf) eingenommen, die Dame, die uns das Haus geöffnet hat, ist gleichzeitig auch die Wirtin des Restaurants. Draussen stehen lange Tische und Bänke bereit für viele Gäste, doch neben ein paar anderen Wanderern oder was immer diese Leute sind, ist der Platz verwaist.
Das Abendessen, soviel muss gesagt werden, ist von ausgesuchter Qualität, ein echtes Tessinergericht, wie man es in den teuersten Restaurants nicht besser erhalten kann. Wir verabschieden uns von unserer Wirtin mit dem Versprechen, in den heiligen Hallen unseres Ostellos zu schlafen wie die Könige von Frankreich …
Passender Song: Express and Company – Out by the Trees
Und hier geht der Trail weiter … der Strada Alta entlang nach Anzonico