Und wieder ein Abschied, einer der weh tut.
Adios Cartagena
Im Wissen, dass am heutigen Abend ein Nachtbus auf mich wartet, der eine nochmalige Tortur von über 10 Stunden verspricht, nehme ich den letzten Tag in Cartagena gelassen, beinahe schon meditativ.
Ich lasse die Stadt hinter mir, das Dröhnen der Auto- und Busmotoren, das Schnattern der zahlreichen Touristen und Einheimischen, die je nachdem etwas kaufen oder verkaufen wollen, die Geräusche der Stadt, die ich noch heute verlassen werde. Es macht traurig und wehmütig, wie immer, wenn man sich an einem Ort sehr wohlgefühlt hat.
Der langsame Gang dem Meer entlang bringt meine mentale Konstitution wieder ins Lot. Der Strand ist beinahe menschenleer, ein Genuss nach all dem Tohuwabohu im Stadtzentrum. Manchmal setze ich mich auf einen Stein, den Blick auf den endlosen Horizont gerichtet, und erkenne, was mich bedrückt.
Meine Reise, mein wunderbarer Trip durch ganz Südamerika, nähert sich mit grossen Schritten ihrem Ende.
Leben abseits der Welt
Aber natürlich ist die Welt nicht ohne Leben. In Tat und Wahrheit öffnet sich der Blick auf die unscheinbaren Geschehnisse abseits der lauten und aggressiven Stadt. Man muss sie bloss sehen.
Da gibt es zwei Fischer, die auf dem unruhigen Meer versuchen, ein Boot mitzuziehen. Eine Aufgabe, die offenbar ihre ganze Konzentration erfordert. Warum sie allerdings ein leeres Boot hinter sich herziehen, bleibt mir verborgen, wie so vieles andere.
Oder die Wasservögel (Reiher?), die im angeschwemmten Müll nach Essbarem suchen. Ihre Schritte sind würdevoll, ihre Konzentration auf den Boden gerichtet, nur manchmal trifft mich ein kurzer misstrauischer Blick.
Doch dann, langsam zurück in der lauten Zivilisation, bricht der Lärm wieder über mich herein, und da, wie ein Phantom aus Afrika, eine wunderbar farbige Frau mit einer grossen Schale auf dem Kopf balancierend, voll mit irgendwelchen Süssigkeiten oder was auch immer.
Sie ist sozusagen meine letzte wirkliche Begegnung mit Cartagena. Denn anschliessend geht es ans Packen und Abschiednehmen.
Ein seltsamer Taxichauffeur
Es ist nicht so, dass mir der Taxichauffeur Angst einjagt, aber eine gewisse Unruhe stellt sich doch ein, als der junge Mann – narbengesichtig (in Hollywood-Filmen haben Bösewichte immer irgendwelche Narben oder seltsame Behinderungen), schmallippig, tough – mich durch völlig andere Strassen in Richtung des Busterminals fährt, als ich von der Hinfahrt in Erinnerung habe.
Es ist sechs Uhr abends, wie jeden Tag dunkelt es von einem Augenblick zum anderen, und der Kerl fährt mich durch ein paar der schlimmsten Slum-Alpträume. Auf meine Frage, ob er das Ziel kennt (denn er guckt permanent auf sein Handy oder spricht abwechselnd mit einem Kumpel am anderen Ende), reagiert er ziemlich beleidigt und deckt mich mit einem Staccato an spanischen Wörtern und Sätzen ein, die mir alle nichts bedeuten, aber wahrscheinlich nicht allzu freundlich sind.
Bei jedem Stau (um diese Zeit normal) versucht er es durch irgendwelche Nebengassen einen schnelleren Weg zu finden, nur um ein paar Minuten später beim gleichen Stau aufzusitzen. Also das Puzzle würde passen: ein älterer Herr als Alleinreisender, Dunkelheit, Absprache mit Kumpeln, Slums der schlimmsten Ordnung rundherum. Wer würde da nicht leichtes Kribbeln empfinden?
Haben mich nun die dauernden Warnungen doch noch eingeholt? Das Unterbewusstsein endgültig übernommen? Aber nein, der Kerl ist wahrscheinlich so harmlos wie meine Katzen, auf jeden Fall setzt er mich nach einer guten Stunde Fahrt am Terminal ab und wünscht eine gute Reise. Sorry, Amigo!
Kolumbianische Standup-Comedians
Der Nachtbus nach Medellin füllt sich langsam, ich dürfte einmal mehr der einzige Ausländer sein, dafür mit bevorzugtem Sitz in den hinteren Reihen. Während der erste Film gestartet wird („Central Intelligence“ mit The Rock – ein grauenhafter Film, der aber perfekt in die verblödende Unterhaltung in den Bussen passt), versuche ich so schnell wie möglich in das angenehm wohlige Gefühl des Zustands vor dem Einschlafen zu gelangen.
Meine Einschlafversuche sind von Erfolg gekrönt, denn ich erwache erst, als lautes Lachen durch den Bus dröhnt. Einige Frauen hinter und neben mir halten sich die Bäuche, während ich krampfhaft nach den Ursachen der Belustigung suche. Es läuft ein Programm mit einem offenbar berühmten kolumbianischen Standup-Comedian, und ich muss zugeben, auch wenn ich nicht alles verstehe – der Kerl versteht sein Handwerk. Er gibt ein Feuerwerk von Sprüchen und Witzen von sich, untermalt durch wilde Sprünge und immer lauter und hysterisch werdender Stimme.
Ich schlafe trotzdem wieder ein, erwache offenbar sehr viel später, denn in der Zwischenzeit hat sich der Bus geleert. Die lachenden Frauen, der junge Mann neben mir, die Mutter mit ihren zwei Kindern auf den Sitzen hinter mir – alle verschwunden. Es sind gerade mal noch etwa 6-7 Personen geblieben, alle im vorderen Teil des Busses sitzend. Ich habe also den ganzen hinteren Teil für mich, was mir allerdings nicht allzu viel bringt, ausser Ruhe und Frieden. Und das ist doch schon mal was …
Die wunderlichen Auswirkungen der Physik
Die Strecke ist ganz schön kurvig, man wird hin und her geworfen, was aber dem Chauffeur am Arsch vorbeigeht, denn wenn es so richtig schön zur Sache geht, gibt er noch mehr Gas.
Der Gang auf die Toilette ist dann immer etwas, gelinde gesagt, schwierig bis unmöglich. Ich möchte dem Leser die Einzelheiten ersparen, aber gewisse physikalische Gesetzmässigkeiten spielen eine grosse Rolle. Wie auch immer, dieses Mal schaffe ich es grade mal, die Tür hinter mir zu schliessen, da macht der Bus einen wilden Schlenker.
Die Physik, (ich hasse Physik!) das heisst die Zentrifugalkraft, schleudert mich rückwärts in die Tür, die sich unter dem plötzlichen Druck öffnet, und ich rückwärts aus der Toilette zu Boden stürze. So liege ich also mit wunderlichem Gesicht auf dem Rücken, die Beine halb in der Toilette, der Rest im Gang draussen.
Obwohl der Sturz schnell und heftig war, scheint wundersamerweise nichts passiert zu sein. Meine Knochen sind noch ganz, mein Selbstbewusstsein allerdings etwas angeschlagen. Gott sei’s gedankt, es hat niemand etwas bemerkt. Wahrscheinlich hätte ich tot sein können, mein Abgang wäre erst beim nächsten Toilettengang eines Passagiers entdeckt worden. Mein nächster Toilettenbesuch wird auf jeden Fall auf einer ruhigen, geraden Strecke stattfinden …
Irgendwann gegen Morgen erwache ich aus tiefem Schlaf, der Morgen meldet sich. Novemberstimmung. Nebel liegt über den sanften Hügeln, wabert in den Senken, wehrt sich verzweifelt gegen die Macht der Sonne, die am Horizont aufsteigt. Die sanften Hügel sind umschleiert von Dunst und Wolken, eine leblose Welt, wie es scheint.
Doch es sieht schön aus, ich bin einmal mehr ein Fremder in einer fremden Welt.
Der Rest der Nacht vergeht in Musse, und einmal mehr schafft es der Buschauffeur, seinen Plan auf die Minute genau anzuhalten. Es ist kurz nach neun, als wir nach dreizehn Stunden in Medellin einfahren. Ich kaufe bereits das Ticket für die letzte Fahrt nach Bogotà, wechsle Geld und genehmige mir ein ausgiebiges Frühstück, bevor ich, der sich hier schliesslich auskennt, nicht ein Taxi sondern die Metro nehme …
Kilometerstand: 9659
Song zum Thema: Sam Phillips – All Night
Und hier geht der Trip weiter … nochmals in Medellin