Nach meinen Berechnungen fehlen bis zum Ziel in Genf noch knapp 20 Kilometer. Damit wären dann die angepeilten 500 Km erreicht (natürlich ist das ein vollkommen blödsinniges Ziel, es zählt schlussendlich alles andere).
Aber mal sehen, ich bin gespannt, wie sehr sich auch emotional das baldige Ende spüren lässt. Jetzt, am frühen Morgen, während ich mich im leeren Esssaal mit der Putzfrau unterhalte, ist es wie immer – entspannt, voller Vorfreude auf die kommende Etappe. Von Abschiedsblues keine Spur.
Und zum letzten Mal – eine liebgewonnene Tradition beim Frühstück – studiere ich den Travelguide und die Karte, mache mir Gedanken über die kommenden, letzten Kilometer bis zum Jet d’eau in Genf.
Die letzte Etappe hat zwei ganz verschiedene Gesichter: Am Vormittag Natur pur, am Nachmittag Siedlung total. Die Wanderung dem Waldflüsschen Versoix entlang ist ein reines Naturerlebnis und die Ankunft am Quai du Mont-Blanc ein stolzer Augenblick.
Länge: 17.75 km, Aufstieg | Abstieg: 670 m | 690 m, Wanderzeit: 5 h 07 min
Farewell Blues
Ich mache mich auf eine ziemlich öde Etappe auf lauter Strassen und wenig Natur gefasst. Die Karte zeigt eine fast komplett überbaute Region, die sich dem ganzen Genfersee entlang zieht. Nicht das, was ich bevorzuge, aber da muss ich durch.
Die ersten Kilometer entsprechen zu hundert Prozent meinen Befürchtungen, doch dann, ganz und gar unerwartet, befinde ich mich nach einer knappen Stunde in einem Wald.
Es könnte der letzte sein. Ich bleibe stehen, lausche dem Wind in den Ästen, dem Raunen des nahen Baches. Und jetzt überfällt mich aus heiterem Himmel die Erkenntnis, dass meine Reise zu Ende ist, dass sich hier in diesem unscheinbaren Gehölz die Essenz der letzten vier Wochen zusammenballt.
Es dauert einen Augenblick, bis ich mich wieder fasse, denn ich will nicht weitergehen, ich will verweilen, noch ein letztes Mal den Vögeln lauschen, das betörende Aroma der nassen Bäume riechen, den Blick in der Unendlichkeit ruhen lassen. Nun ist sie da, die erwartete und befürchtete Wehmut, die zu jedem Ende gehört.
Ich weiss jetzt schon, dass die nächsten Wochen eine schwere Herausforderung sein könnten.
Die Schönheit verweilt
Doch nach einigen tiefen Atemzügen, das Ende ruft, setzte ich den Pfad fort, niemand kreuzt meine Wege, es macht den Anschein, als gehörten die letzten Kilometer mir ganz allein und nur mir.
Es ist nicht so, dass ausserhalb des Waldes nur noch Hässlichkeit triumphiert. Schmucke kleine Dörfer ziehen sich dem Weg entlang, man erkennt die Liebe zur Schönheit, und wenn es nur ein paar Blumen zur Schmückung eines profanen Dorfbrunnens sind.
Und da, nicht mehr so überraschend, erkenne ich von weitem das Tagesziel, den Jet d’Eau, den Springbrunnen im Hafenbecken von Genf. Nun sind es wirklich nur noch ein paar wenige Kilometer, kaum der Rede wert, aber ich werde jeden Meter, jede Minute geniessen, als wären es meine letzten.
Nach Jerusalem
Der Schritt wird immer langsamer, als müsste ich das wenige, was jetzt noch folgt, mit allen Sinnen auskosten.
Nicht weit vor Genf kommt mir ein junger Mann entgegen, schon von weitem als Weitwanderer zu erkennen. Seine Schritte sind langsam und bedächtig, den kleinen Rucksack lose über die Schulter geschlagen, auf dem Gesicht soviel Ruhe und Frieden, wie man nur haben kann.
Man begrüsst sich, er ist Franzose, knapp 30, schlank und fit, und natürlich fragt er mich nach meinem Weg, und ebenso natürlich gebe ich ihm sehr stolz zu erkennen, dass ich in einer Stunde meinen Weg von 500 Kilometern absolviert hätte.
„Et toi?“
Er lacht und erklärt beinahe verschämt, dass er auf dem Weg nach Jerusalem sei.
Es braucht etwas, bis es mir die Sprache verschlägt, aber das haut mich nun doch aus den Schuhen. Was zählen da schon mickrige 500 km. In Sekundenbruchteilen werde ich auf mein richtiges Niveau zurück gestutzt.
„Jerusalem, wow, c’est loin.“
„Oui, mais j’ai le temps.“
In diesem Augenblick erkenne ich, wie sehr ich ihn beneide, wie gern ich ebenso durch ganz Europa bis nach Vorderasien und in den nahen Osten marschieren würde. Aber das sind Träume, die ich mir für das nächste Leben aufspare.
Geschafft!
Noch etwas unsicher, ob ich den Moment der Wahrheit wirklich erleben will, folge ich dem Uferweg in Richtung des Jet d’Eau, vorbei an Tafeln mit irgendwelchen Sujets und Themen, die mich ganz und gar nicht interessieren, überholt von schwer atmenden Joggern.
Und dann bin ich da, auf dem See rauscht der Springbrunnen, er ruft mich zu sich her, man muss ihm die Aufwartung machen. Also mache ich mich auf den Weg, so wie alle anderen Touristen und Spaziergänger, nur dass ich einen etwas weiteren Weg hinter mir habe, um hier zu sein.
Ich spreche den erstbesten jungen Mann an, bitte ihn, ein Foto von mir und dem Jet d’Eau zu machen und setze mein stolzestes Gesicht auf.
Und dann verabschiede ich mich zum letzten Mal vom See, der mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Der Blick auf meine Pulsuhr zeigt mir, dass nur noch wenige Meter bis zur magischen Grenze von 500 Kilometern fehlen, bis zum Bahnhof dürfte es reichen.
Der Verkehr um mich herum scheint mir ohrenbetäubend, die vielen Menschen auf der Strasse erschreckend, die Schaufenster langweilig. Und genau unter dem letzten Wegweiser mit der Zahl 3 und der Bezeichnung „Alpenpanoramaweg“ (oder „Chemin Panorama Alpin“) stoppe ich meine Uhr zum letzten Mal, sie zeigt 501 Kilometer an.
Ich habe es geschafft.
Bevor mich Wehmut und Trauer überwältigen, muss ich sofort etwas unternehmen, also setze ich mich in das erstbeste Restaurant und lasse die letzten vier Wochen Revue passieren.
Erkenntnisse einer fabelhaften Tour
Niemals hätte ich mir vor vier Wochen vorstellen können, dass ich heute tatsächlich in Genf stehe, 500 Kilometer in den Knochen und wenn die Schätzung stimmt, irgendwas von 800’000 Schritten hinter mir.
Und doch habe ich es geschafft.
Einen Schritt um den anderen, immer schön dem Panoramaweg entlang, mal rauf, mal runter, mal bei Regen und Sturm, mal bei Hitze und gleissender Sonne. Es war nicht immer ganz einfach, aber niemals, NIEMALS, etwas anderes als eine einzige grossartige wunderbare einmalige Erfahrung.
Ich glaube, dass ich nur sehr selten in meinem langen Leben in derart vollkommener Balance gewesen bin. Wenn einfach alles stimmt, wenn man vergisst, was alles nicht stimmt, wenn sich alles Negative irgendwohin verzogen hat, wo es still und leise wartet, bis die Zeiten wieder schlechter werden.
Kann es sein, dass diese vier Wochen zu den schönsten meines ganzen Lebens gehören? Dass diese lange Wanderung das Beste war, besser als all die wunderbaren Reisen auf den ganzen Welt?
Niemals zuvor bin ich so nahe am Glück gewesen.
Mehr kann man nicht erwarten.
Und damit endet meine Wanderung. Und allen, die mich auf die eine oder andere Weise begleitet haben, sage ich Dankeschön und verabschiede mich mit einem wehmütigen Blick zurück.
Und zum letzten Mal der Song zum Thema: The Rolling Stones – The Last Time