Wir sind die Summe unserer Erfahrungen. Unsere Erinnerungen sind das, was uns ausmacht.

Diesen weisen Satz habe ich irgendwo gehört oder gelesen. Er trifft sehr genau das, was uns in diesem Moment ausmacht. Jede Erfahrung, ob positiv oder negativ, trägt dazu bei, wer wir sind und wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.

Doch irgendwann werden die Erfahrungen, die wir im Verlauf der letzten Wochen und Monate gesammelt haben, zu Erinnerungen werden. Sie werden sich verändern, verblassen, vergehen, durch allerlei Kapriolen des Geistes ersetzt werden. Diese Geschichte wird zu einer anderen Geschichte.

Da scheint philosophisch mal wieder etwas los zu sein. Doch dazu mehr weiter unten.

Wir verbringen erst mal einen sehr entspannten Tag in Kandahar, die Kälte ist erträglich, Spaziergänge im Sonnenschein. Allerdings ist anzumerken (dieses Phänomen wird uns noch des öfteren überraschen), dass wir die Stadt weniger positiv beurteilen als auf der Hinfahrt. Sie kann nichts dafür, es scheinen sich einfach langsam gewisse Ermüdungserscheinungen einzustellen. Mal sehen …

Kandahar

Schreckensvisionen

Aber wie immer, wenn sich die Wolken zu verziehen scheinen, zieht jemand das nächste Ass aus dem Ärmel. Und wenn weder das Wetter noch die Straßenverhältnisse eine Rolle spielen, dann meldet sich unser guter alter VW-Bus und erinnert uns daran, dass wir ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.

Wahrscheinlich aus lauter Langeweile wechsle ich im Laufe des Tages ein zweites Mal den Vergaser und löse damit eine kleine Katastrophe aus. Der Motor gibt nun äußerst seltsame Geräusche von sich, die uns bekannt vorkommen und uns, gelinde gesagt, einen gehörigen Schrecken einjagen.

Es klingt nämlich verdächtig wie damals in Täbris mit den defekten Pleuellagern. Das wäre der absolute Super-Gau, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir hier in Kandahar eine professionelle Werkstatt finden würden.

Aber ich scheine mich doch langsam zu einem Experten in Sachen Vierzylinder-Boxermotor zu entwickeln, denn, man glaubt es kaum, ich finde die Ursache – ein ausgehängter Schwimmer ist der Bösewicht, der uns die letzten Nerven gekostet hat.

Vorerst ist die Angst gebannt, wir werden sehen, wie sich die Geschichte auf dem Weg nach Herat entwickelt.

Und noch eine Monsteretappe

Auf dem Hinweg von Herat nach Kandahar haben wir die Etappe zweigeteilt, um nicht im Nirgendwo übernachten zu müssen. Darauf werden wir uns diesmal nicht einlassen, sondern die ganzen knapp 600 km in einem Tag bewältigen.

Dann also machen wir uns für unsere Verhältnisse sehr früh schon um 8 Uhr auf den Weg durch die menschenleere afghanische Wüste, in der Hoffnung, dass uns gestrige Probleme erspart bleiben.

Rückweg von Kandahar nach Herat

Ticketkontrolle auf afghanische Art

Die Abwesenheit fast allen Lebens ist bedrückend. Wir sind froh, wenn wir wenigstens ab und zu ein paar Schafe sehen, die nach dem wenigen Futter suchen, das der karge Boden hergibt. es eigentlich gar nicht gibt, oder ein paar schwarze Nomadenzelte in der Ferne. Ab und zu fährt ein Lastwagen oder ein vollbesetzter Bus vorbei.

Man muss sich das mit den Bussen so vorstellen: sie sind hier nicht nur voll wie anderswo, nein! Sie sind so vollgestopft, dass der Schaffner keinen Durchgang findet, um die Fahrscheine zu kontrollieren.

Die afghanische Lösung ist so einfach wie genial und gefährlich. An den Außenwänden wurde eine Art Fußleiste und Haltegriffe angebracht, so dass sich der Kontrolleur an der Außenwand entlang hangeln und während der Fahrt durch die Fenster die Fahrkarten kontrollieren kann.

Wahnsinn!

Afghanischer Bus-Wahnsinn

Ich und ein Hund in der Wüste

Die alten Busse hatten keine Toiletten wie die modernen Wohnmobile. Wenn also die Natur ruft, muss irgendwo ein geschütztes Plätzchen gefunden werden. Das ist hier in der flachen Ebene ohne Bäume und Büsche ein Problem. Man ist gezwungen, weit hinaus in die Wüste zu gehen, weit genug, um vor Blicken geschützt zu sein.

Während ich also unterwegs bin, die Toilettenrolle unter den Arm geklemmt, sehe ich in der Ferne einen dunklen Punkt, der immer größer wird und sich schnell zu nähern scheint. Ich zögere eine Minute, fast zu lange, denn schließlich erkenne ich, was sich da beängstigend schnell nähert.

Es ist einer jener riesigen Hunde, von den Nomaden abgerichtet, um Fremde zu vertreiben, diese Ungeheuer mit den abgeschnittenen Ohren. So sollen sie bei möglichen Auseinandersetzungen mit Wölfen weniger Angriffsfläche bieten.

Ob verjagen auch zerfleischen bedeutet, ist unklar, aber ich will diese Frage nicht beantwortet haben, also renne ich um mein Leben, so schnell wie noch nie zuvor. Ich schaffe es gerade noch, mich in den Wagen zu werfen, da ist das Ungeheuer schon da, springt an der Tür hoch, bellend, geifernd.

Jedenfalls verschiebe ich meinen Toilettengang auf ein anderes Mal.

Fata Morganas und Gegenwind

Das eintönige Brummen des Motors macht einsilbig, schläfrig, das Auge hat kaum etwas zu sehen, nur die immer gleiche Wüste, Steine, Himmel … Manchmal glaubt man am Horizont Seen und Inseln zu erkennen, glitzernde Flächen, die den Geist lähmen, das Auge betrügen.

Doch es sind Fata Morganas, so wie bei Tim und Struppi Im Land des Schwarzen Goldes, wo sich die Gebrüder Schulze und Schultze dem gleichen Phänomen gegenüberstehen, aber sich im Unterschied zu uns täuschen lassen und den Sprung ins vermeintliche Wasser wagen.

Und dann beginnt ab Mittag ein anderer altbekannter Feind, der uns wesentlich mehr Mühe bereitet als harmlose Fata Morganas – Gegenwind! Es ist aus mit der gemütlichen Fahrt mit 80 km/Std., jetzt heisst es, in den dritten Gang hinunterschalten und sich mühsam über die Strasse kämpfen. Und immer die Angst im Nacken, ob der Motor die zusätzliche Belastung erträgt.

Die erhabene, endlose, den Geist verrückende Wüste bleibt gegen Abend hinter uns, vor uns die ersten Lichter der Stadt. Wir erreichen unser letztes Ziel in Afghanistan – Herat!

Der letzte Tag in Afghanistan

Es ist kein Problem, in der geschäftigen Stadt die letzten Afghanis loszuwerden, und der eine oder andere Händler ist durch die unerwartete Grosszügigkeit überrascht. Wir streifen noch einmal durch die Stadt, die uns vertraut ist, wir bewundern ein letztes Mal die unter Alexander erbaute Zitadelle.

Eigentlich verrückt – Menschen beginnen ein Werk, obwohl sie wissen, dass es erst durch ihre Nachkommen beendet werden wird. Man kann sich nicht vorstellen, dass Alexander der Grosse damit rechnete, dass sein Bauwerk viele Jahrhunderte später immer noch in alter Pracht dasteht.

Doch es ist seltsam. Offenbar war es nicht das grauslige Wetter wie in Kabul, das uns die Freude an der Stadt getrübt hat. Ähnliches geschieht hier in Herat, der Stadt, wo wir uns auf der Hinfahrt so wohl gefühlt haben. Die freundlich lächelnden Schlitzohren, die wilden Turbane, die listigen Gesichter …

Herat Markt

Wir haben im Verlauf der letzten Monate offenbar eine Art Übersättigung bezüglich Orten, Kulturen, Menschen, Erlebnissen eingefangen, die sich nun auf dem Rückweg bemerkbar macht. Die Menschen erscheinen uns in einem anderen Licht, die rosarote Brille ist weg, sie ist durch eine graue ersetzt worden.

Wie wir von anderen Travelers vernehmen, sind wir nicht die einzigen, die diese Erfahrung machen. Wahrscheinlich trägt noch etwas anderes dazu bei. Es ist möglicherweise das altbekannte Phänomen, dass nach der Erreichung eines Ziels eine gewisse Störung eintritt. Wir haben das Ziel erreicht, alles, was nun kommt, ist Zugabe. Oder Wiederholung. Kurz – wir sind auf dem Heimweg. In ein paar Wochen oder Monaten wird das Abenteuer vorbei sein,und der Alltag wird uns einholen.

Und das macht uns zu schaffen.

 

Passender Song von 1975:  Fleetwood Mac – World Turning

Und hier geht der Trip weiter … zurück in den Iran

 

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