Das Hotel Chez Yann weist heute Morgen tatsächlich eine menschliche Komponente in Gestalt einer jungen Dame auf, die mir freundlich das Frühstück serviert. Mit etwas Mühe setze ich trotzdem mein grimmigstes Gesicht auf. „C’etait pas tres drole hier soir“.
Ich kann gar nicht anders als ebenfalls grinsen, denn ein Grinsen ist alles, was ich als Antwort erhalte. Offenbar ist der Herr und Meister des Hotels bekannt dafür, dass er schon mal vergisst, das Eintrittsprozedere bekanntzugeben.
Bei der heutigen Etappe ist es wie erwartet – man muss nun die Natur, nicht so wie die letzten Wochen, suchen. Manchmal ist es fast ein bisschen zuviel Zivilisation. Lange Reihen von Häusern, eher langweilig, dann wieder Asphaltstrassen. Aber das wusste ich ja, meine geliebten Berge und Hügel und Wiesen sind verschwunden, dafür jede Menge moderner Welt.
Der Travelguide findet:
Ein aussichtsreicher Vormittag durch die Rebberge und Weindörfer der Waadtländer La Côte und ein schattiger Nachmittag entlang des Toblerone-Wegs am Serine-Bach (ehemalige Panzersperre).
Da der Original Panoramaweg andere Routen nimmt, werde ich von jetzt an nur noch meine eigenen Werte anzeigen.
Länge: 19.35 km, Aufstieg | Abstieg: 530 m | 585 m, Wanderzeit: 6 h 11 min
Das ewig Gleiche – oder doch nicht?
Eine Strasse führt in Richtung des Sees, ich durchquere ein weiteres Dorf und zahlreiche hässliche Industriegebäude, die mich schneller gehen lassen. Es wird in ein paar Tagen früh genug sein, um diese Anblicke wieder ertragen zu müssen.
Doch nach einer halben Stunde liegt das Gröbste hinter mir, ein schmaler Weg entlang Weizenfeldern führt mich geradewegs in einen Wald, wo ich nach kurzer Zeit auf den Fluss Aubonne treffe. Das ist wieder mehr nach meinem Geschmack.
Auf den ersten Blick sieht alles genau gleich aus wie gestern – alte knorrige Bäume, die sich über den Weg neigen, eine grüne Welt rechts und links des Weges, manchmal ein Bach, diesmal die Aubonne.
Und doch ist es anders – und gleich. Auch ich bin nicht der gleiche wie gestern, und doch gleich. Auch die Eindrücke sind anders – und doch irgendwie gleich. Aber so muss es sein. So ist das Leben. Alles gleicht sich und ist trotzdem anders. Es erinnert mich daran, dass 99% der Gedanken, die man im Verlauf eines Tages denkt, die gleichen sind wie an allen Tagen zuvor. Irgendwie beschämend.
Der zerbrechliche Mensch
Es ist ein permanentes Hin und Her zwischen Wald und Wiesen und See. Die Aubonne hat ihren eigenen Weg zum See genommen, ich nehme einen anderen, doch auch dieser endet irgendwann am Ufer.
Heute spielt das Wetter eine untergeordnete Rolle, Wolkenschlieren verschaffen dem See ein kränkelndes Grau, nicht eben das, was man sich wünscht. Es ist niemand zu sehen, wahrscheinlich, heute ist ja Montag, sind alle am Arbeiten. Viel Spass!
Ich parkiere meinen Rucksack und setze mich ans Ufer. Das heisere Geschrei der Möwen ist das einzige Geräusch, vielleicht noch alle paar Sekunden begleitet durch das sanfte Plätschern der Wellen.
Die letzten Tage ist mir aufgefallen, dass ich eine merkwürdige Wehmut empfinde. Mein Blick liegt zwar nach wie vor auf der Umgebung, aber in einer Art Trance, als hätte ein inneres Auge die Kontrolle übernommen. Es ist so, wie wenn man lange, unfokussiert, ohne zu blinzeln, in die Ferne blickt.
Was hat dies zu bedeuten? Ist es das baldige Ende der Tour, oder hat es andere Gründe?
Natürlich stolpert man bei einer derart langen Wanderung früher oder später über jedes Thema, auch die unangenehmen, die lieber stumm bleiben wollen. Aber es ist unausweichlich, und ich realisiere langsam, dass in den letzten knapp vier Wochen einiges an Verdrängtem aufgebrochen worden ist. Es kommt mir vor, als hätten sich lang vergrabene Gefühle und Schmerzen an die Oberfläche gedrängt. Soviel, was nicht gedacht, nicht gesagt, nicht getan wurde. Oder umgekehrt.
In diesen Momenten wird man sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewusst.
Der Leser verzeihe mir, wenn ich hier nicht weiter in die Tiefe schweife. Gewisse Dinge müssen ungesagt bleiben.
Rolle
Nach einem erneuten Ausflug in die Natur empfängt mich Rolle, eine Kleinstadt am See, wunderschön gelegen, wie sich schon bald zeigen wird.
Offenbar entspricht das Stadtbild einem mittelalterlichen Muster. Es gibt nur eine einzige Hauptstrasse, an der entlang die Häuser stehen. Es gibt eine reformierte Pfarrkirche, deren Glockenturm noch aus dem Mittelalter stammt.
Das Schloss von Rolle steht direkt am Seeufer, ich bleibe stehen, lese seine Geschichte nach und bin beeindruckt. Es sieht aus, als könnte es noch heute jeder Bedrohung widerstehen, allerdings erfahre ich, dass es im 16. Jahrhundert von den Eidgenossen niedergebrannt wurde. Also doch nicht so trutzig wie erwartet.
Eine kleine Insel, die Ile de la Harpe, liegt einen Steinwurf weit im See draussen, das Schiff auf dem Weg zur französischen Seite nimmt eben Fahrt auf.
Die Seepromenade ist einmal mehr eine Augenweide. Der ganz normale Steg zur Anlegestelle ist mit roten und violetten und gelben Blumen geschmückt, ein überlebensgrosses Modell einer Biene, mit Blumen bedeckt, steht in einem Blumenbeet, als würde sie den Nektar schlürfen.
Man kann gar nicht anders als glücklich zu sein.
Lange Wege nach Gland
Irgendwie ein seltsamer Weg heute. Er scheint sich nicht entschliessen zu können, ob er eher dem See entlang oder doch lieber im Landesinneren durchgehen soll. Nach Rolle geht es erstmal wieder ins Grüne, endlos scheinende Pfade den dunklen Wolken entgegen, der Himmel hängt tief und bedrohlich. Es würde mich nicht wundern, wenn ich auch heute Nachmittag mit einem feuchten Gruss beschenkt werde.
Es ist noch früh, wenn ich in diesem Tempo weitergehe, bin ich hoffentlich noch vor dem erwarteten Gewitter im Hotel. Wenn ich mir allerdings den Himmel ansehe, wird mir etwas unbehaglich. Der Blick geht nun häufiger zur Karte, man schätzt die Entfernung ab, beruhigt sich für den Moment, um sogleich wieder das verstörende Gefühl vor einem nahenden Gewitter zu verspüren. Wenn ich etwas hasse, dann auf einem flachen Feld einem Gewitter ausgesetzt zu sein.
Immerhin, ich werde bis wenige Kilometer vor dem Tagesziel verschont, um dann doch noch verregnet zu werden. Die letzten Kilometer führen entlang einer stark befahrenen Strasse, nicht unbedingt meine bevorzugte Fortbewegung. Neben mir donnern die Autos und Lastwagen vorbei, aus denen mir der eine oder andere spöttische Blick zugeworfen wird.
Aber schliesslich bin ich da, ich werde bereits erwartet, welche Ehre, und man führt mich gemessenen Schrittes zu meinen Gemächern, für heute allerdings lediglich in Form eines ziemlich kleinen Zimmers, aber was brauche ich mehr.
Ein Fussball-Krimi am späten Abend
Das Abendessen im Hotel Restaurant de la Plage fällt aus, heute ist das Restaurant geschlossen, und ich bin wieder mal angeschmiert. Das Etablissement befindet sich zwar an schönster Lage direkt am See, allerdings weitab von jeglichen anderen Restaurants oder Einkaufsläden.
Die Dame des Hauses sieht meinen enttäuschten Blick und sucht nach einer Lösung. Sie beauftragt ihren Mann, einen Herrn trés distingué in den besten Jahren, mich zu einer Pizzeria zu fahren, die nicht allzu weit entfernt liegt.
Und so lande ich nach kurzer Fahrt in der besagten Pizzeria, wo ich erstens eine grossartige Pizza und zweitens einen Logenplatz vor dem TV erhalte. Die damit verbunden Diskussionen zum Fussball-Match machen mich in kurzer Zeit zu einem engen Freund der Belegschaft.
Um 21 Uhr findet der entscheidende Achtelfinal zwischen Frankreich und der Schweiz statt. Allerdings hat der Glaube an unsere Nationalmannschaft stark gelitten (und nicht mal das gute Spiel gegen die Türkei hat meine Zweifel reduzieren können). Gegen Frankreich, immerhin den amtierenden Weltmeister hat unser Team keinen Stich.
Nach dem 1:3 ist jegliche Hoffnung erloschen, ich habe genug und lege mich schlafen. Allerdings werde ich kurze Zeit später durch seltsame Geräusche von draussen geweckt. Doch etwas neugierig geworden, schalte ich den TV wieder ein, oh, neues Resultat 3:3. Wow!
Es geht in die Verlängerung, aber vor dem entscheidenden Penaltyschiessen erinnere ich mit Schaudern an 2006 und schalte wieder ab, um nach gut zehn Minuten durch ein paar euphorische SMS geweckt zu werden. Was niemand erwartet hat, ist passiert: die Schweiz hat Frankreich nach Hause geschickt. Und ich armer Tor habe das meiste verpasst!
Song zum Thema: Lana Del Rey – Summertime Sadness
Und hier geht der Weg weiter … nach Commugny