Auf dem Gesicht der Frau zeigt sich Verständnislosigkeit. Furcht. Demütigung.
Geiz und kalte Herzen
Wie eine Horde angriffiger Teenager stehen ein paar Touristen um die Landlady herum, gestikulierend. Es geht offenbar um den zu bezahlenden Preis. Umgerechnet 16 Franken für Übernachtung und Nachtessen und Lunchpaket. Ein paar der Jungen sind der Meinung, dass der Preis zu hoch ist, dass man weniger bezahlen will.
Geiz und Habgier haben die Gestalter grosser Literatur immer schon zur Darstellung gereizt. Seit dem christlichen Mittelalter zählt man sie zu den «Wurzellastern», und es gibt eindringliche bildliche Darstellungen von geizigen Menschen, die bis zur Karikatur deformiert sind. Wobei: Nicht jeder, der Kapital anhäuft, braucht zwingend auch ein Geizhals zu sein. Weshalb Menschen zu Geiz, übertriebener Sparsamkeit und selbstschädigender Lustentsagung neigen, darüber gibt es soziologische und psychoanalytische Theorien zuhauf. Uns interessieren hier mehr Ausformungen von Habgier und Geiz in der Literatur. (aus NZZ – Geiz raubt dem Menschen alles, sogar die Stimme)
An diesem schönen Morgen wäre Grosszügigkeit und Fairness ein Geschenk Gottes, nur dass Gott noch schläft und sich nicht um die Laster der kleinen Menschen kümmert.
Es dauert also nicht mal eine halbe Sekunde, bis zwischen Geiz und gerechtfertigtem Zorn eine heftige Auseinandersetzung entbrennt. Irgendwann wird es sehr still. Die Kommunikation findet nur noch nonverbal statt. Ich weiss nicht, ob die Message angekommen ist. Wahrscheinlich nicht.
Muss man noch etwas beifügen? Eher nicht. Wenn freundliche Menschen, die im Vergleich zu uns wenig oder nichts haben, mit kalten Herzen konfrontiert werden, sind sie wehrlos. Geiz und Habgier offenbart sich in vielen Facetten. Auch hier, an diesem wunderschönen Ort.
Es ist traurig.
Ein schlechtes Ende dieses wunderbaren Treks.
Busfahrt mit abenteuerlustiger Dame
So warte ich wieder mal auf den Local Bus, treffe auf Anna, die schüchterne Engländerin, die ebenfalls zurück nach Leh will. Doch auch das Warten ist spannend. Eine alte Frau taucht auf, schwer beladen, aber mit einem Ausdruck voller Leben und Freundlichkeit auf dem Gesicht.
Man möchte sie umarmen.
Das ist sie auch, aber während der Bus ächzende, ratternde und quietschende Geräusche von sich gibt, ist die Unterhaltung mit Anna so anregend, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Sie ist pensioniert, lebt seit kurzem in Surrey, war aber vorher Englischlehrerin an allen möglichen und unmöglichen Orten auf der Welt. Man stelle sich vor, Lehrerin im Sudan, in Marokko, in China, in Indien und wahrscheinlich noch an anderen Orten, also zu Zeiten, wo sich im Normalfall keine Frau hingetraut hätte.
Echtes britisches Understatement vom Feinsten. Diese Frau hatte keine Angst vor nichts und niemandem, dabei macht sie einen derart zurückhaltenden und bescheidenen Eindruck. Ich könnte ihr stundenlang zuhören.
Und so erzählt sie von längst vergangenen Zeiten, als die Welt noch anders war. In vielerlei Hinsicht besser als die heutige, allerdings nicht für abenteuerlustige Damen, die sich partout nicht an die damaligen Regeln halten wollten.
Es gibt in diesem Zusammenhang wunderbare Bücher, die jeder Globetrotter gelesen haben sollte. Sie erzählen von mutigen Frauen, deren Tollkühnheit in der Realisierung ihrer Träume in keinster Weise denen ihrer männlichen Kollegen nachsteht.
Ein paar der interessantesten Geschichte sind in nebenstehendem Buch beschrieben. Anna hätte darin ein eigenes Kapitel verdient.
Let’s enjoy the Rest of our Lives
Ja, und dann, nach knapp vier Stunden, eingeschlossen zwischen Sitzlehnen, Beinen und Gepäckstücken, während der Arsch langsam taub wird und die Hände vom krampfhaften Festhalten des Rucksacks schmerzen (ich dachte eben, dass es wundersamerweise keinem übel geworden ist, schon kotzt sich das kleine Mädchen neben mir die Lunge aus dem Leib), da erreichen wir Leh, das hektische, lärmige, staubige Leh, und fühlen uns wie zuhause.
Wir spazieren gemächlich dem Zentrum entgegen, reden über dies und das und was wir in unserem Leben noch alles zu tun gedenken, und dann, wie so oft, ein Abschied.
Let’s enjoy the rest of our lives, Anna!
Und weg ist sie … Auf Nimmerwiedersehen!
Hotelgeschichten
Eine seltsame Überraschung. Man hat mir in meinem Hotel zwar ein Zimmer reserviert, doch jetzt kostet es plötzlich doppelt soviel wie vorher. Der Verantwortliche an der Rezeption – wir kennen uns in der Zwischenzeit gut – entschuldigt sich in aller Form, doch am Entscheid seines Chefs sei nicht zu rütteln.
Manchmal ist es angebracht, sich gegen eine offensichtlich plumpe Methode des Über-den-Tisch-Ziehens zu wehren. Nach genau einer Stunde finde ich eine neue Bleibe, viel näher beim Zentrum und trotzdem ruhig gelegen und umgeben von Bäumen und Garten und sehr netten Menschen.
Dann also das letzte Mal die Fort Road hinaufkeuchen, die beiden Rucksäcke, die mir immer schwerer vorkommen, auf und neben dem Rücken. Das Guesthouse ist aber ok, ich habe ein Riesenzimmer im obersten Stock, mit Hot Water und einem TV, der allerdings schon zu Napoleons Zeiten veraltet gewesen sein muss. Macht aber nichts, ich bin ja nicht zum Fernsehen hier.
Der Weg vom Zentrum bis zum Dorje Guesthouse ist nur noch ein Katzensprung, allerdings auf einer unbefestigten Feldstrasse, auf der die Luft mit Staub geschwängert ist. Meine Lungen müssen nach den zwei Wochen Leh aussehen wie bei einem Minenarbeiter im 19. Jahrhundert.
Im Grunde genommen sind nur die wichtigen Strassen asphaltiert, alle Nebenstrassen sind Staubhöllen, denn sie bestehen hauptsächlich aus Löchern, tiefen Gräben (denen man nachts geflissentlich ausweichen sollte), Steinen und Staub. Jedes Vehikel, das überholt oder entgegenkommt, wirft eine Staubwolke um sich, der man rettungslos ausgesetzt ist (ausser man trägt wie die chinesischen Touristen eine Schutzmaske). Das Ergebnis ist eine permanent verstopfte Nase und unablässiges Niesen.
Abends um neun klingelt das Handy, man hat sich entschieden, mir das Zimmer grosszügigerweise zum vorherigen Tarif zur Verfügung zu stellen.
Sorry, Man, too late!
Seltsame Heilige
Auf dem Weg ins Zentrum, nun vorteilhafterweise nur ein Katzensprung vom Hotel weg, höre ich schon von weitem ein Getöse, der Klang von Trommeln und seltsamen Instrumenten, die ich nicht zuordnen kann.
Eine orange-blaue Kulisse dominiert das Stadtzentrum. Wo sich normalerweise dichte Kolonnen von Fahrzeugen den Weg streitig machen, ist eine farbige Prozession im Gang. Bärtige Männer mit grimmigen Gesichtern unter ihren Turbanen gehen gemessenen Schritten an den Schaulustigen vorbei. Hinter und vor ihnen bahnen sich bekränzte Fahrzeuge den Weg. Ich wüsste zu gerne, zu welcher Religion die Männer gehören. Die Turbane und Bärte erinnern an Sikhs, aber gibt es hier Sikhs? Meine Frage wird mit einem Schulterzucken beantwortet.
So bleibt die Frage offen.
Mitten auf der Strasse werden fingierte Schwertkämpfe durchgeführt. Die grimmigen Gesichter der blaugewandeten Kämpfer lassen auf eine ernsthafte Auseinandersetzung schliessen.
PS Song zum Thema: Black Honey – Crowded City
Und hier geht die Reise weiter …