Die alten Griechen hatten zwei Wörter für die Zeit: Chronos für die exakte gleichmässige Abfolge von gleichlangen Einheiten, während Kairos sich auf den günstigen Zeitpunkt bezieht, auf die Gunst der Stunde, das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, den richtigen Menschen begegnet zu sein (Danke Tagesanzeiger Magazin).
Zusammengefasst, Kairos misst die Bedeutung des Moments, nicht seine Dauer.
Es ist keine Überraschung, dass mir Kairos wesentlich näher liegt als Chronos. Jeder Schritt auf dem Trail hat seine eigene Bedeutung des Moments. Zu jedem Augenblick bin ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und manchmal, wenn auch selten, begegne ich den richtigen Menschen.
Mehr kann man nicht erwarten.
Und genau so soll es weitergehen, immer konzentriert auf die Gunst der Stunde.
Der Travelguide ist für einmal vollkommen meiner Meinung:
Vom Uferweg am Sarnersee steil hinauf zum Wallfahrtsort Flüeli-Ranft, wo der Eremit Niklaus von Flüe zurückgezogen in einer Schlucht als Gottesmann, Visionär, Mahner und Ratgeber wirkte. Das Geburtshaus gehört zu den ältesten Holzhäusern der Schweiz.
Länge 10 km; Aufstieg | Abstieg 340 m | 100 m; Wanderzeit 2 h 45 min
Schon beinahe ein Ruhetag, gar nicht schlecht nach den gestrigen Anstrengungen.
Postkartenschweiz
Die gestrige Etappe von über acht Stunden hat Spuren hinterlassen. Immerhin bin ich bereits über zwei Wochen unterwegs, kaum einmal weniger als 6 Stunden pro Tag, da kann sich schon mal so etwas wie mentale Müdigkeit einstellen.
Aber der heutige Tag scheint gewillt zu sein, meine Batterien wieder aufzuladen. Das Wetter ist ideal, nicht zu heiss, ein blauweiss gestreifter Himmel sorgt für das entsprechende Dekor.
Das wäre doch etwas für ein paar südkoreanische Stars, um die Attraktivität der Schweiz bekannt zu machen (man denke nur an „Crash Landing on you“, diese südkoreanische Erfolgsserie, die teilweise in der Schweiz gedreht wurde und zu einer derartigen Zunahme an Touristen führte, dass zusätzliche Postautokurse organisiert werden mussten).
Der Weg führt eine Weile der kleinen Melchaa entlang, einem kleinen sanften Flüsschen, umgeben von wilden Gebüschen und Bäumen, die sich alle paar Meter in den Weg hineinbeugen. Bevor er sich in den Sarnersee ergiesst, verabschiedet er sich von mir, ich folge dem Wanderweg einem Sumpfgebiet entlang, bis ich endlich den See erreiche.
Wie soll ich sagen, ab hier fängt eine Postkartenschweiz an, beinahe ein Überfluss an Schönheit. Der See glänzt im zarten Licht des Morgens, umrandet von Hügeln und Wäldern und Bergen, am Ufer ein Dorf, verstreute Häuser, beinahe schüchtern.
Und über allem das Bühnenbild des Himmels. Schönheit macht schläfrig, es ist beinahe zuviel.
Der Pfad ist zur Abwechslung einfach, da meistens auf ebenen Wegen dem See entlang.
Violette Blumen strecken ihre Köpfe durch den Maschendrahtzaun, grüssen den vorbeigehenden Wanderer, schön. Die Häuser am Ufer bleiben immer mal wieder zurück, machen Platz für sauber gemähte Wiesen, Bäume, die seltsamerweise nach Herbst riechen, Schilf im Uferwasser.
Man möchte den Schritt noch weiter verlangsamen, zu einem ewigen Wanderer werden, der nichts anderes mehr im Sinn hat, als die Schönheit der Welt zu feiern.
Schnelle Züge, langsame Paddler
Manchmal fährt ein Zug vorbei, blitzschnell, kaum Zeit, die Kamera zu zücken. Der Luftzug bläst um mein Gesicht, nur kurz, Dopplereffekt, man müsste Sheldon Cooper sein, um ihn realistisch zu imitieren.
Es gibt einige Schulfächer, die ich wegen fehlendem Talent und Interesse vernachlässigt habe, aber Physik steht auf dem ersten Platz. Immerhin kann ich mich an den Dopplereffekt erinnern, aber wie gesagt eher wegen Big Bang Theory.
Der See liegt still im Licht, kaum eine Welle beunruhigt seine Oberfläche. Die Pflanzen (Algen? Seerosen?) auf dem See verleihen eine zusätzliche Farbkomponente, ein einzigartiges Biotop voller Leben. Eine Collage aus unbelebter und belebter Welt.
Aber dann wird die friedvolle Stille gestört, rhythmisches Paddeln kommt näher, zwei Boote, ein Mann, eine Frau, paddeln mit kräftigen Bewegungen ihrer Oberarme vorbei, man hört fast nichts, ein leises Keuchen, das Geräusch der Paddel, wenn sie ins Wasser gleiten und dem Boot Schub verleihen.
Aufwärts zu den Frommen
Eine Gartenwirtschaft, vollbesetzt mit fröhlich schwatzenden Leuten, Kastanienbäume, die mit ausladenden Ästen Schatten spenden, ein Kaffee, ein bequemer Stuhl, das ist alles, was es braucht, um die Stimmung an diesem Morgen in weitere Höhen zu schrauben.
Ich sitze einfach da, für einmal ganz bei mir, was ich normalerweise so sehr vermisse. Alles stimmt, alles in Balance, man müsste diesen Moment einfrieren. Festhalten in alle Ewigkeit.
Aber der Augenblick verliert sich, die Zeit, die sich eben zu einem einzigen Moment verdichtet hat, erwacht zum Leben, es muss weitergehen, immer weiter, immer weiter …
Doch der Aufstieg belohnt mit einem Tunnel aus Bäumen und Sträuchern, man meint sich im Bauch eines Walfisches. Seltsame dünne Bäume zu beiden Seiten des Weges verdecken die Sicht auf die Sonne, eine eigenartige Gegend, irritierend und einladend zugleich.
Bruder Klaus – der Schweizer Schutzpatron
Wolkenpyramiden begrüssen mich bei der Ankunft in Flühli-Ranft, passt zu meinem Bild von diesem seltsam frommen Ort. Vielleicht erkennen sie meine Zweifel, meinen Mangel an Frömmigkeit.
Ein winziges Dorf, ein paar Häuser, Hotels natürlich, ein zentraler Platz mit Kiosk, der allerhand heiligen Krempel anbietet, mehr nicht.
Wäre da nicht eine Kapelle in einer nahen Schlucht, sie ist das eigentliche Zentrum dieses Ortes. Ohne Bruder Klaus ein vergessenes Kaff in den Bergen, eines wie zahllose andere.
Aber sehen wir mal, was es zu entdecken gibt. Mal ganz ohne Zynismus.
Flüeli-Ranft gehört zur Gemeinde Sachseln und liegt auf 728 m.ü M. Es ist die Heimat von Niklaus von Flüe, dem Eremit Bruder Klaus, der sich auch als Politiker, Mystiker und Visionär einen Namen machte. Im Weiler lebte er als Einsiedler zwischen 1467 und 87. Viele Pilger reisen noch heute hierher. Auf der Etappe bis kurz vor Stans werden den Wandernden auf Informationstafeln sein Werk und sein Leben nähergebracht.
Niklaus von Flüe, Nikolaus von der Flühe oder Bruder Klaus (* 1417 im Flüeli, Obwalden; † 21. März 1487 im Ranft ebenda) war ein einflussreicher Schweizer Einsiedler, Asket und Mystiker, zuvor Bergbauer, Politiker, Richter und Soldat. Er gilt als Schutzpatron der Schweiz und wurde 1947 heiliggesprochen. [Wiki]
Ein steiler Weg führt in eine Art Schlucht hinunter (eine Alternative steht den Rollstuhlfahrern zur Verfügung), wo die Kapelle und die ehemalige Klause des Eremiten stehen.
Es gäbe einiges zu sagen zu diesem seltsamen Heiligen, aber ich behalte mir meine Vorbehalte zurück, nur so viel:
Kaum vorzustellen, wie ein weisser alter Mann heute beurteilt würde, der seine Familie mit zehn Kindern verlässt, um sich anschliessend in eine Klause in einer schattigen Schlucht zurückzuziehen, um dort seine Existenz als Einsiedler zu verbringen.
Nun, vielleicht tue ich ihm unrecht, die riesige Anzahl Pilger, die sich jedes Jahr hier einfinden, ist auf jeden Fall anderer Meinung.
Die Pilger treffen ein
Anyway, das Hotel, in dem ich rechtzeitig vor dem einsetzenden Regen Unterschlupf finde, scheint recht leer zu sein. Der ältere Mann an der Rezeption begrüsst mich ohne Lächeln, ohne Höflichkeit, aber immerhin begleitet er mich zu meinem Zimmer.
Etwas später stellt sich der TV als nicht funktionierend heraus, der grimmige Blick des Rezeptionisten wird noch grimmiger. „Wahrscheinlich haben ein paar fromme Gäste das Stromkabel ausgezogen und auch das Wifi abgestellt. Sie könnten ja vielleicht Schaden davontragen“. Jetzt erst erkenne ich die ironische Seite des Mannes. „Die wollen alle 120 Jahre alt werden.“ Wir lachen beide, das Eis ist definitiv gebrochen.
Das Abendessen findet in einem grossen Speisesaal statt. In der Zwischenzeit sind die Pilger eingetroffen, viele aus Deutschland, wie man hören kann.
Ich fühle mich zwar nicht unwohl inmitten dieser frommen Leute, aber es scheint, dass ich der einzige ohne Pilgerambitionen bin. Man wirft mir ab und zu Blicke zu, nicht unangenehm, mehr in der Art, dass man sich fragt, wie jemand an einem solch heiligen Ort nicht sofort auf die Knie fällt.
Wie auch immer, die Umgebung, wahrscheinlich voller Nachtgebete, bereitet mir einen tiefen und ungestörten Schlaf. Na immerhin …
Passender Song: Bon Jovi – Living on a Prayer
Und hier geht der Trail weiter … nach Stans