Es gibt zahlreiche Sprichwörter zum Thema Kälte, ein passendes aus England:

Nach großer Hitze kommt die Kühle, niemand werfe den Mantel weg.

Wir haben, Gott sei’s gedankt, unsere Mäntel und die anderen Winterklamotten nicht weggeworfen, einfach nur ganz unten im Schrank verstaut, und da sind sie nun wieder, unwillkommen, aber unumgänglich.

Denn das, was uns hier in unserem geliebten Kabul erwartet, ist jenseits aller Befürchtungen. Aber alles schön von vorne.

Zurück im gelobten Land

Eigentlich beginnt das eisige Fegefeuer schon auf dem Khyberpass. Im Rückspiegel, in den ich einen letzten wehmütigen Blick werfe, verblassen die Erinnerungen an den Sommer und verschwinden in der weiten Ebene. Der Winter ruft und wir folgen ihm.

Wieder der Grenzübergang, wir wechseln auf die rechte Seite, ungewohnt nach tausenden Kilometern auf der linken. Ein weiteres Zeichen, dass wir uns wieder vertrauten Gefilden nähern, aber ich bin nicht unglücklich darüber. Man sitzt einfach auf der falschen Seite. Wenn dann noch ein Bus den rechten Außenspiegel abrasiert, wird das Überholen zum Risiko (was bei unserem langsamen Tempo allerdings äußerst selten vorkommt).

Die Zöllner schauen streng, fast abweisend, aber sie winken uns durch, die Rückkehrer sind ein alltägliches Bild. Wir werfen ihnen einen freundlichen Blick zu, als wären wir froh, wieder hier zu sein. Kann es sein, dass es sich nach einer Heimkehr anfühlt?

Doch Jalallabad kaum wiederzuerkennen, irgendwie grau und abweisend, hier wollen wir nicht verweilen. Also hinauf über die endlosen Serpentinen, zum Glück noch ohne Schnee auf der Straße, sonst kämen unsere Winterreifen endlich zum Einsatz.

Kabul – Der Schock im Schnee

Das, was man erwartet, entspricht selten dem, was die Realität bereithält. Noch vor ein paar Stunden haben wir uns den Schweiss abgewischt, die Sonne angebetet, nun stehen wir ziemlich fassungslos einer schneebedeckten Stadt gegenüber. Das ist nicht das Kabul, das wir kennen.

Der 2CV unserer Freunde fährt voraus, wir pflügen uns also langsam und vorsichtig durch den Schneematch und erreichen schliesslich unser altes Domizil, nur diesmal in ganz anderer Tracht als vor ein paar Monaten. Der Boss des Hauses grinst, als er unsere belämmerten Gesichter sieht, und lädt uns auf eine Tasse Tee im warmen Haus ein. Immerhin scheint es, als hätten wir eine geheizte Rettungsinsel gefunden, falls uns früher oder später in der Nacht das Blut in den Adern gefriert (nicht aus Angst!).

Wir ziehen es vor, nicht an die nächsten Nachte zu denken. Das wird kalt werden.

Winterliche Pracht

Nun denn, wir ergeben uns dem Schicksal und machen das Gleiche wie die Eingeborenen – wir sehen der weissen Pracht mit stoischer Ruhe entgegen und machen das Beste daraus. Der Gang in die Stadt zwecks Einkäufen oder Spaziergängen gestaltet sich allerdings etwas schwierig. Ehrlich gesagt erweisen sich unsere Schuhe und Klamotten nicht sehr zweckmässig für diesen südlichen Ausläufer des Nordpols.

Tatsächlich erscheint uns die Stadt in weiss und schwarz eher wie ein Phantom aus einer anderen Welt. Immerhin gibt es zahlreiche Restaurants, wo sich die halb- oder ganz erfrorenen Traveller treffen. Nicht unerwartet trifft man alte Bekannte, sie sind wie wir auf dem langen, mühsamen Heimweg. Nicht wenige bedauern – so wie wir – den Abschied vom indischen Subkontinent und fragen sich – so wie wir – warum man den Aufenthalt an der Wärme nicht verlängert hat.

Neues im Alten

Nun, es ist wie es ist, wie der alte Philosoph meint, und noch ein anderer Weiser fand die folgenden Worte, die ganz gut zu unserem Rückweg passen:

Es ist immer etwas Neues im Alten.

Hoffen wir also auf viel Neues, zumindest das weisse Zeug, das sich wie eine kuschlige Decke (kuschlig?) über die Stadt gelegt hat, bietet tatsächlich etwas Neues. Die Stadt scheint nun hart und trostlos, wir wagen gar nicht an die ärmeren Bewohner zu denken. Das Leben muss sich bei diesen Temperaturen als etwas darstellen, was wir uns gar nicht vorstellen können. Die Kinder auf der Strasse machen zwar einen lebhaften Eindruck, doch der Schein kann trügen.

Manchmal treiben Nebelschwaden durch die Stadt, es erinnert mich an das Buch eines unbekannten Autors, der dieses Phänomen sehr schön beschrieben hat:

Der Nebel war überall. Eine Böe zerzauste die weißen und grauen Schwaden, die sich unablässig bewegten und auflösten, trieb sie vor sich her wie eine Herde weißer Schafe. Wie versunkene Galeeren ragten die Umrisse der höchsten Häuser aus dem Nebel, und dazwischen, hell und spitz, der Kirchturm, daneben der Friedhof, der sich an die Kirchenmauer klammerte.

Ein Erdbeben

Und wenn wir schon von Neuem oder noch nie Erlebtem sprechen – davon gibt es einiges, auf das man gerne verzichten würde.

Zum Beispiel auf ein Erdbeben (andere Beispiele) in Kabul.

Wir sitzen also bei überraschend warmen Sonnenschein auf der Terrasse eines Restaurants, trinken Kaffee und schwatzen über dies und das, aber sicher nicht über Erdbeben, schon eher über zugeschneite Strassen oder gar Lawinen. Doch da fängt der Boden an zu schwanken oder in unserem Fall die Terrasse. Wir halten uns mit offenen Mündern und heruntergeklappten Kiefern an der Kaffeetasse fest. Ein unheimliches Grollen aus der tiefsten Tiefe begleitet das Spektakel, das zwar nur eine Minute dauert, uns aber vorkommt wie eine halbe Ewigkeit.

Ein Erdbeben! In Kabul!

Erdbeben sind ja ein Phänomen, das einige Gebiete auf der Welt mit bösartiger Regelmässigkeit überfällt, vor allem entlang des sogenannten pazifischen Feuerrings, der sich über den gesamten Globus erstreckt.

Einigermasse perplex und alarmiert, lassen wir das unerwartete Ereignis über uns ergehen, während auf der Strasse panische Rufe zu hören sind. Auf der Terrasse ist es merkwürdig still geworden, doch nach ein paar Sekunden, als sich die unter uns liegenden tektonischen Platten ausgetobt haben, hört man vom stillen Seufzer bis zum tiefen Einatmen und heftigem Fluchen alle Ingredienzen menschlichen Erschreckens.

The Return of the King

Aber die Stadt hat noch andere Überraschungen bereit, auch durchaus positive. Denn nicht nur in Kathmandu oder Delhi gibt es Buchhandlungen oder Bücher-Tauschbörsen, sowas existiert angesichts der vielen Touristen auch hier.

Und he – kaum zu glauben, aber ich finde tatsächlich „The Return of the King“, den dritten Band der „Herr der Ringe“ Trilogie. Ist es Zufall? Oder hat ein freundlicher literaturaffiner Herr im Himmel ein Zauberwort gesprochen? Ich schicke schon mal ein dickes Dankeschön gen Himmel.

Man kann es beim besten Willen nicht als Buch im Originalzustand bezeichnen, eher von tausend Händen abgegriffen, und würden bei jedem Lesen ein paar Buchstaben verloren gehen, wären es zwei Buchdeckel ohne Inhalt. Aber man darf es ruhig glauben – das Buch gehört wie die beiden anderen Bände zu meinen liebsten Besitztümern.

Kalte Nächte und Schneesturm

Man kommt nicht umhin, sich gelegentlich ärgern zu müsse. Über schlechte Strassen, über unfreundliche Zoll- und andere Beamte, über idiotische Busse und Lastwagen, über den einen oder anderen Depp von einem anderen Stern. Und vielleicht noch über unseren geliebten VW-Bus, der uns das Leben immer wieder zu einer kleineren Hölle gemacht hat.

Und es gibt die Kälte in der Nacht. Sie gehört wie alles andere zu den nicht erwarteten Absurditäten dieser Reise.

Ja, meine Lieben, es ist kalt. So richtig kalt. Und würde uns der Winter nicht schon genug Probleme bereiten, überfällt ein böser, mehrere Tage dauernder Schneesturm die Stadt. Wir verbringen die Tage irgendwo an der Wärme, trinken heissen Tee und Kaffee und denken wehmütig an die heissen Wochen zurück. Sie scheinen bereits in unendlicher Ferne zu liegen.

Und gelegentlich erinnert man sich an gut gemeinte Ratschläge von Freunden zuhause, die uns unbedingt eine Heizung unterjubeln wollten. „Eine Heizung? Für Indien? Eher wohl eine Klimaanlage!“ Tja, so kann man sich irren …

Anyway, eigentlich hält uns nicht mehr viel hier, aber die Strecke von Kabul nach Kandahar ist schneebedeckt und kann nicht befahren werden. Was den Schneefall dazu überzeugt, noch ein, zwei Tage länger zu toben.

 

Passender Song von 1975:  ABBA – S.O.S

Und hier geht’s weiter … nach Kandahar mit dem einen oder anderen Problem

 

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