Während ich genussvoll in meinem Frühstücksteller stochere, höre ich den Gesprächen des Pöstlers mit den Wirtsleuten zu. Sie unterhalten sich, wie wahrscheinlich die halbe Schweiz, über die gestrigen Abstimmungsresultate. Interessant, wie sachlich und differenziert diskutiert und bewertet wird. So sollte das immer und überall sein. Leider ein frommer Wunsch.
Die Bäckerei, wo ich kurz nach dem Abmarsch einkaufen möchte, scheint geschlossen zu sein. So wie die Schaufenster aussehen, offenbar seit vielen Jahren. Einmal mehr das Ergebnis des Niedergangs des lokalen Gewerbes, das gegen die Macht der grossen Detailhändler keine Chance hat. Wir werden es irgendwann bitter bereuen. Oder auch nicht, weil die Leute in absehbarer Zeit gar nicht mehr wissen, was sie verloren haben.
Der Kleinen Emme entlang
Ich muss es einfach erwähnen: auch heute kann der Himmel nicht blauer, die Luft nicht würziger, der Kopf nicht leichter und beschwingter sein. Sogar die Beine inklusive Knie fühlen sich an wie bei einem Zwanzigjährigen. Alles angerichtet für einen weiteren fantastischen Tag.
Es ist eine Wanderung durch eine der reizvollsten Flusslandschaften des Kantons Luzern. Entlang der Kleinen Emme, die Lebensräume für Tiere und Pflanzen schafft, sind Naturdenkmäler zu entdecken, aber auch Zeugen der Zivilisation.
Der Weg gemäss Führer ist noch fast kürzer als der gestrige, beinahe ein Spaziergang.
Länge: 10 km, Aufstieg | Abstieg: 220 m | 150 m, Wanderzeit: 2 h 40 min
Ich folge der Kleinen Emme, im Schatten von Bäumen und Sträuchern, noch immer allein, begleitet lediglich vom Zwitschern der Vögel und dem Summen der Insekten.
Meine Vogelerkennungs-App Zwitschomat ist heftig im Einsatz. Tatsächlich erkennt sie ein paar Vogelarten, die in unseren Breitengraden selten geworden sind: Mönchsgrasmücken, Zaunkönig und sogar ein Pirol (falls ich der App Glauben schenken darf).
Bienen und Vögel
Beim Wandern wird man zwangsläufig mit all den Problemen der Umwelt konfrontiert. Das fängt mit den gedüngten Wiesen an, totes Land für die Insekten, und setzt sich entlang der Nahrungskette fort. Keine Insekten, keine Bestäubung, keine Vögel. Enden wir am Schluss so wie die Chinesen, die ihre Blüten von Hand (!) bestäuben müssen?
Solch pessimistische Gedanken tauchen immer wieder auf, auch wenn ich immer wieder auf Wiesen stosse, auf denen zahlreiche Blumen in allen Farben gedeihen. Oder dieser wunderbare Tümpel, in dem es summt und surrt und quakt.
Besser geht’s nicht
Tja, besser kann’s tatsächlich nicht werden. Nach all den verregneten Tagen werde ich ein kleines Bisschen entschädigt, auch wenn ich dem Frieden noch nicht ganz traue. Aber ich nehme den azurblauen Himmel gerne an, genauso wie die Postkartenidylle, die mich umgibt, die noch leicht verschneiten Berge am Horizont, die Hügel und Wiesen und Wälder.
Die Zukunft des Planeten
Die blöden Abstimmungsplakate sind natürlich noch nicht verschwunden, also werde ich zwangsläufig mit den Konsequenzen der gestrigen Abstimmung konfrontiert. Wenn ich versuche, sachlich darüber nachzudenken, wird es schwierig. Zu sehr schmerzen die Niederlagen. Dass die Agrarvorlagen abgeschmettert wurden, ist keine Überraschung. Aber was wirklich weh tut, ist die CO2 Geschichte. Während ich sozusagen durch eine vermeintlich intakte Natur wandere, wenden sich meine Gedanken automatisch dem zu, was diese Natur im schlimmsten Fall erleiden könnte.
Die Zeichen an der Wand könnten nicht klarer sein. Wie jemand auch heute noch den menschlichen Einflluss auf die Veränderungen des Klimas abstreiten kann, ist mir ein Rätsel. Wie so vieles anderes in dieser seltsamen Zeit. Offenbar ist es wirklich so, dass der Mensch prinzipiell nicht in der Lage ist, Bedrohungen der Zukunft in der Gegenwart zu lösen. Vor allem nicht dann, wenn das eigene Verhalten und das Portemonnaie betroffen sind.
Ich bin zutiefst pessimistisch geworden, was die Zukunft unseres wunderbaren Planeten anbetrifft.
Mittelerde
Dennoch wende ich mich wieder dem zu, was mich in aller Pracht umgibt. Ich befinde mich ja in einer Art Mittelerde, alles sieht intakt aus. So muss es auch sein, wenn man sich in Tolkien-Country befindet.
Tolkien war ja sein Leben lang ein Gegner des technologischen Fortschritts, er hasste alles, was nicht urtümlich, nicht dem Ursprung der Natur entsprach. Man denke nur an Saruman, das Fällen der uralten Bäume, die Errichtung der unterirdischen Fabriken mit Rauch und Lärm und der ganzen damit verbundenen Achtlosigkeit gegenüber dem Leben.
Aber bleiben wir bei der Schönheit, beim Stausee, beim rauschenden Wasser, beim blauen Himmel.
Da fliesst er also, der kleine Fluss, ruhig dahin, schäumt gelegentlich auf, als würde er gestört durch einen Stein, einen Felsen, ein Stück Holz, das sich verfangen hat.
Eine Stelle, wo spielende Kinder ein paar Steine zu einer kleinen Mauer gesetzt haben, ladet mich ein zum nächsten Picknick. Niemand zu sehen, nichts zu hören ausser dem Gurgeln des Flusses. Ich schaue dem Wasser zu, kaue auf altem Brot herum, bin in Gedanken ganz woanders und trotzdem ganz hier.
Der Wallfahrtsort Werthenstein
Auf einem Felsen thront, gekrönt vom Blau des Himmels und umrandet vom Grün der Bäume und Sträucher, das Kloster Werthenstein. Es hat eine ganz besondere Geschichte, aber ob sie stimmt, ist nebensächlich. Ich zitiere den ersten Teil der Geschichte, lange vor unserer Zeit geschehen, also genau dann, als viele unserer Sagen und Mythen entstanden. Warum nicht auch für das Kloster Werthenstein.
Das Kloster Werthenstein entstand an einer Stelle, an der etwa ums Jahr 1500 ein niederländischer Goldwäscher arbeitete. Er war ein glühender Verehrer Marias und es wird von Erscheinungen berichtet. So soll er eines Abends nach dem Nachtgebet Engelsgesang gehört haben. In der Folgezeit suchte er diesen Kraftort täglich auf und hängte dort ein Marienbild auf. Im Laufe der Zeit verbreitete sich das Gerücht von der Erscheinung des Goldwäschers und immer mehr Menschen wollten diesen Ort kennenlernen. Man berichtete auch von wundersamen Heilungen bei Menschen der Umgebung.
Wie sagt man so schön: Und ist es nicht wahr, so doch wenigstens gut erfunden.
Nach dem schweisstreibenden Aufstieg besuche ich als erstes den Friedhof des Klosters.
Und wie immer werden alte Gefühle geweckt – Trauer, NIchtverstehen, Ehrfurcht. Und immer denkt man dabei auch an sich selbst. Es ist, als würde man etwas vorausnehmen, das irgendwann in der Zukunft geschehen wird. Jedes Grab, jeder Name auf den Kreuzen erinnert daran, dass irgendwann die eigene Glocke erklingen wird.
Die Kirche und ein Toter
Immer wieder wird man von der Schönheit von Klosterkirchen überrascht. Manchmal ist es die schiere Pracht der Ausstattung, die unirdische Schönheit der Kunst, alles zu Ehren Gottes. Auch diese Kirche besitzt ihre eigene Schönheit, auch wenn karger und weniger opulent als Einsiedeln. Und trotzdem zwingt sie zu Stille, man zieht den Hut, man kniet nieder, und – ganz unerwartet – zünde ich sogar eine Kerze an. Kann nicht schaden für die nächsten anstrengenden Wochen.
Ich trete wieder hinaus in die Mittagshitze, setze mich auf die steinerne Sitzbank. Es ist niemand zu sehen, offenbar hält man im Kloster Siesta.
Ein kleiner Raum, direkt neben mir, erweckt meine Neugier. Der schwere Duft von Blumen und Kerzen dringt heraus. Eigenartig. Wozu könnte dieser Raum dienen? Neugierig wie ich nun mal bin, trete ich hinein, bin einen Moment lang irritiert, doch dann realisiere ich endlich, wo ich mich befinde.
Denn vor mir liegt, aufgebahrt in seinem Sarg, ein Mann. Er scheint noch jung zu sein, auf seinem Gesicht liegt tiefer Frieden. Durch das niedrige Fenster dringen Sonnenstrahlen, zaubern helle Flecken auf seinen Anzug, vielleicht ein Abschiedsgruss.
Ich ziehe den Hut vom Kopf, stehe ein paar Augenblicke vor dem Sarg, wünsche dem Verstorbenen alles Gute und verlasse den Raum.
Wolhusen
Der Weg nach Wolhusen ist nicht mehr weit, in Gedanken versunken wandere ich die letzten Kilometer, verpasse einmal mehr den Pfad und muss mich einer endlos langen Baustelle entlang zum Städtchen kämpfen.
Ich werde im Hotel August bereits erwartet, das Zimmer ist ok, der spätere Nachmittagstrunk ebenso, genauso wie das Abendessen im Restaurant Bahnhöfli. Im Fernsehen läuft die EM Spanien gegen Schweden, doch ich bin nicht recht bei der Sache. Offenbar hat der tote S.B. mehr Spuren hinterlassen, als mir lieb ist.
Song zum Thema: Band of Horses – The Funeral
Und hier geht der Weg weiter … nach Luthern