In der Nacht – wen wundert’s, dass der Regen wieder mal wie mit Pferdehufen über das Dach galloppiert – entscheide ich mich endgültig für eine alternative Route über die Sattelegg.

Ich werde das Postauto bis zur Abzweigung zum Pass nehmen und dann hoffentlich auf einen geeigneten Wanderweg treffen.

Der eigentliche Plan für heute hätte etwas anders ausgesehen. Ein weiterer Tag mit einer Strecke, die irgendwie seltsam angelegt ist. Das Stöcklichrüz in allen Ehren, aber nochmals viele Kilometer geradeaus bis Lachen? Verstehe ich nicht.

From Siebnen to Einsiedeln

Die alternative Route nach Einsiedeln sieht etwas anders aus, ist aber nicht weniger attraktiv:

My way from Siebnen to Einsiedeln
Sieht etwas anders aus, aber genauso schön

Und doch ein Wanderweg

Nach einem Frühstück in der Bäckerei (meine Pension hat kein derartiges offeriert) im Dorf, fährt das Postauto pünktlich um 9.34 ab. Der Chauffeur hat mir versprochen, mir zu melden, wenn die Strasse zur Sattelegg abzweigt und ich aussteigen muss.

Ein sehr netter Mensch, der sich nach meiner Route erkundigt und versichert, dass es sehr wohl einen Wanderweg über den Pass gibt. Das sind doch schon mal positive Nachrichten. Die Fahrt durch die vielen engen Kurven ist mir bekannt, nicht lange her seit meiner letzten Schneeschuhwanderung da oben.

Meine Füsse versinken im Morast, die Gewitter der letzten Tage haben Spuren hinterlassen. Nach nicht mal 5 Minuten stehe ich zwar auf einem veritablen Wanderweg, dieser gleicht aber eher einem ausgewaschenen Bachbett als einem Pfad.

Egal.

Immerhin werde ich von ein paar Ziegen begrüsst, sie sind offenbar ganz glücklich über die Abwechslung.

Argwöhnische Blicke und böse Bemerkungen

Die Strasse ist seltsam still, ich höre keine Motorengeräusche, nur von weiter oben dringt der Lärm von Baumaschinen durch den Vormittag. Es macht den Anschein, als wäre die Strasse für Fahrzeuge gesperrt. Soll mir recht sein.

Weiter oben werden die Geräusche lauter, und tatsächlich, eine Gruppe kräftiger Männer ist daran, die Strasse mit einem neuen Belag zu versehen. Ich, freundlich wie immer, nicke ihnen zu und grüsse, und erhalte im Gegenzug ein paar selten dämliche Blicke.

Sie werfen sich Blicke zu, ich kann beinahe erkennen, was sich in ihren kleinen beschränkten Hirnwindungen abspielt. Ungefähr das gleiche wie gestern, ebenfalls an einer Baustelle, mit dem bezeichnenden Inhalt: „Nun kriechen sie wieder aus den Löchern, der Regen hat aufgehört.“

Irgendwie ist es tröstlich, dass in diesem SVP-Kanton offenbar nicht nur die Ausländer verachtet und gehasst werden, sondern generell jedermann, der nicht zu ihnen gehört. Wenig überraschend, dass im Trupp Arbeiter keine Ausländer zu entdecken sind.

Aber lassen wir das, wenn ich mich ärgern will, halte ich mich an Trumps Rednecks (die es offenbar auch in unseren Breitengraden gibt).

Aber ich muss mir mal ein paar Gedanken dazu machen, Zeit dazu habe ich ja genug.

Glück gehabt

Je weiter ich den morastigen Weg nach oben komme, desto sichtbarer werden die Folgen der Gewitter.Ich komme mir vor wie in einem Dschungel in Mittelamerika, einer grünen Hölle, wo alles lebt und wächst und austreibt, wo alles feucht ist und glitschig und irgendwie unheimlich.

Alles riecht nach Feuchtigkeit, nach Moder und Zerfall, nicht so wie sonst, nach trockenem Laub und Tannennadeln, nach Gras und Holz. Ein seltsam abstossender Wald, in den der Regen tiefe Gräben gerissen hat. Manchmal fehlt der Pfad, ist weggeschwemmt worden, man steigt über zerrissene Bohlen, muss höllisch aufpassen, nicht den Abhang hinunter zu schlittern.

Swiss forest, looking like a jungle

Wäre ich hier während der Niederschläge durchgegangen, wäre es mir mit Sicherheit schlecht ergangen. Vielleicht ist mir das Glück trotz allem treu geblieben und hat mich während der schlimmsten Gewitter gnädig auf die Linthebene befohlen.

Aber der Wald bleibt hinter mir, die Landschaft öffnet sich, die Passhöhe scheint nicht mehr weit zu sein. Und da sind auch wieder meine mehr oder weniger ständigen Begleiter, eine Herde Kühe, die friedlich auf der Wiese weiden, am Boden sitzen, genussvoll käuen und wiederkäuen und wiederkäuen, bis das Gras endlich die erforderliche Qualität besitzt.

Dark clouds again
Und wieder verdüstert sich der Himmel
Cows grazing
Aber die Kühe lassen sich davon nicht gross beeindrucken

Die Sattelegg Passhöhe

Es macht mir dank des nicht vorhandenen Verkehrs nichts aus, die letzten Kilometer bis zur Passhöhe auf der Strasse zu gehen. Immerhin bleiben meine Füsse dann trocken.

Es ist was los da oben. Das Restaurant hat geöffnet, viele Ausflügler sind von der anderen Seite hochgefahren. Andere stehen vor der Schranke an der Strasse, offensichtlich genervt, dass man nicht schon früher, also in Willerzell am Sihlsee, eine Warnung über die Sperrung angezeigt hat.

Nun stehen die Motorradfahrer da, verärgert und empört, und müssen wieder den gleichen Weg zurückfahren. Ich erkläre ihnen den Grund für die Sperrung, was aber ihren Frust zu Recht nicht zu mindern mag. Man ist sich einig darüber, dass es wieder einer dieser Schwyzer Schildbürgerstreiche ist. Wie lustig muss doch die Vorstellung sein, ein paar Auswärtigen zu zeigen, wer der Herr im Haus ist.

Wer nun den Eindruck erhält, dass dieser Kanton nicht zu meinen liebsten gehört, hat er recht. Aber ich komme darauf zurück. Der Kaffee allerdings und der Mandelgipfel im Restaurant sind erste Klasse. Immerhin.

Dem Sihlsee entgegen

Kurz nach der Passhöhe zweigt ein Weg ab, der hinunter nach Willerzell führt. es handelt sich zwar um einen Bikerweg, ist mir aber egal. Offenbar sind wir bereits so weit, dass es zwar spezielle Wege für Mountainbiker gibt, aber keine solchen für Wanderer. Seltsame Zeiten.

Tatsächlich kreuzen ein paar heftig schnaufende Biker meinen Weg oder überholen mich in rasantem Tempo. Ich habe mir längst abgewöhnt, mich über die Biker auf den Wanderwegen zu ärgern (andere sind nicht so gnädig, sondern ziehen es vor, dem Wandern generell abzuschwören), sie sind nun einfach da und werden nicht mehr verschwinden. Also ist es besser, sich damit abzufinden.

Die e-Mountainbiker sind allerdings ein anderes Kapitel. Auch dazu später …

Und oh Wunder, der Himmel scheint endlich ein Einsehen zu haben und zeigt mir seine blaue Seite. Die Talebene kommt näher, lamgsam zwar, den mein linkes Knie möchte endlich nach Hause. Ein Kirchturm taucht auf, mit rotem Dach, oder scheint es nur so von weitem?

The Sihlsee gets closer

Church with red roof

Kaffeeklatsch mit Einheimischen

Vielleicht bietet das kleine Café an der Hauptstrasse in Willerzell die Möglichkeit, ein paar böse Gedanken über den Kanton loszuwerden. Ich lasse mich unter einem Sonnenschirm (den braucht’s tatsächlich zum ersten Mal seit Tagen) auf den erstbesten Stuhl plumpsen und bestelle Kaffee und Kuchen (schon wieder; meine geplanten Minuskilos, im Volksmund Corona-Ranzen genannt, verschwinden im Abgrund der Kalorien, aber egal).

Ich offeriere einer älteren Dame, offenbar auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen, meinen Sonnenschirm, und daraus entwickelt sich eine lange und lustige Diskussion über Gott und die Welt und den Kanton Schwyz. Sie stammt allerdings aus dem Kanton Zürich, lebt aber in dieser Gegend, ist also sozusagen kompetent zur Beurteilung ihres Gastkantons.

Der Serviertochter (darf man das noch so sagen, oder verstosse ich gegen irgendeine Vorschrift gemäss Political Correctness?) ist offenbar langweilig, sie setzt sich zu uns, eine waschechte Schwyzerin. Und sofort kann man nicht mehr böse sein, ich freue mich über die Offenheit und den Mutterwitz der Frau.

Wir umgehen – wie man das heute unter Freunden und Verwandten macht – die schwierigen Themen und diskutieren über die verschiedenen Anbieter von Einsiedler Schafböcken (für Aussenstehende: ein berühmtes Gebäck, das nur in Einsiedeln angeboten wird) und deren unterschiedliche Qualitäten. Mir wird mit grossem Ernst eingebläut, dass es nur einen wirklich guten Anbieter gibt, und das ist offenbar die Bäckerei „Goldapfel“.

Werde ich mir merken müssen.

Über den See – fluchtartig

Natürlich sitze ich viel zu lange bei meinen Gesprächspartnern, merke nicht, dass sich der Himmel wieder dunkel überzogen hat. Verdammt! Damit ich Einsiedeln noch vor dem grossen Sprutz erreiche, muss ich mich sputen. das heisst allerdings, dass ich die endlos lange Brücke über den Sihlsee in schnellen und langen Schritten überqueren muss. Über meine Knie lege ich zur Abwechslung mal den Mantel des Schweigens.

And again dark clouds

the endless bridge over the Sihlsee

Ich weiss nicht genau, wann diese vermaledeite Brücke gebaut wurde, wahrscheinlich zu einer Zeit, als das Automobil das einzige und ultimative Mittel zur Fortbewegung bedeutete, auf jeden Fall hat man vergessen, dass es gelegentlich den einen oder anderen Spinner gibt, der zu Fuss darüber möchte.

Es gibt also kein Trottoir, man drückt sich eng an die Absperrung, vor allem wenn grössere Vehikel gleichzeitig vorbeifahren, betet zu Gott, dass alle Fahrer nüchtern sind und auch nicht von der Sonne geblendet werden.

Die Schwarze Madonna

Der Einsatz hat sich gelohnt, schwer schnaufend und ein bisschen fluchend über die Torheit der Brückenbauer, erreiche ich das andere Ende der Brücke. Nun fehlt nur noch der letzte Hügel, und schon tauchen in der Ferne die Kirchtürme des Klosters Einsiedeln auf.

Man durchquert zuerst ein langezogenes Gebäude, das zu den Pferdeställen gehört. Das Kloster ist berühmt für seine Pferdezucht.

Ich zitiere: Im Marstall des Klosters Einsiedeln, dem ältesten Gestüt Europas, werden seit über 1000 Jahren Einsiedler-Pferde gezüchtet. Die „Cavalli della Madonna“ wurden wegen ihrer Eleganz, ihres guten Charakters, dem schwungvollen Gang und der robusten Gesundheit geschätzt.

Die drei noch vorhanden Mutterstutenlinien (Quarta/Klima/Sella) gehören zu einem kulturhistorischen Erbe von nationaler, ja sogar internationaler Bedeutung.

famous horse breeding

Ich bin nicht das erste Mal hier, also schreite ich mit schnellen Schritten, allerdings einmal mehr bewundernd, an den wunderschönen Pferden vorbei und gelange zur langen Treppe, die zum Klostereingang hinaufführt.

Und Überraschung, mein Hotel liegt gegenüber, ein Katzensprung, ich bin angekommen. Und wieder zeigt meine Pulsuhr, trotz verkürzter Strecke, 17 Kilometer und 6.5 Stunden. Auch kein Wunder bei diesen vielen Café- und sonstigen Ruhepausen.

Das Kloster Einsiedeln

Meine Zeit als gläubiger Katholik liegt ein paar Jahrzehnte Zurück, was aber nicht heisst, dass ein Kloster wie das von Einsiedeln nicht trotzdem einen Eindruck hinterlassen kann.

Nach dem Besuch der Bäckerei Goldapfel und dem Kauf zusätzlichen Gewichts von allerhand Gebäck mache ich einen Abstecher zur Kirche. Eine Messe ist im Gang, wie immer bin ich beeindruckt und auch ein bisschen berührt über die Anteilnahme der Gläubigen. Sie hängen an den Lippen des Priesters, einige machen den Eindruck, als wäre das Gebet ihre letzte Hoffnung.

Für viele Besucher stellt die Schwarze Madonna das eigentliche Ziel ihrer Reise dar. Ich zitiere:

Das jetzt schwarze Antlitz und die schwarzen Hände der Madonna, wie auch das Jesuskind, waren ursprünglich farbig gefasst. Sie wurden durch den Rauch und Russ der vielen Kerzen und Öllampen, welche ständig in der engen und dunklen Heiligen Kapelle brannten, im Laufe der Jahrzehnte dunkel, schliesslich silberschwarz. Schon im 17. Jahrhundert sprach man einfach von der „Schwarzen Madonna von Einsiedeln“.

Mass in the church

Ich bin mucksmäuschenstill, während ich gemessenen Schrittes zum Altar gehe (nicht so wie einst im Mailänder-Dom, als mitten in der andächtigen Stille mein Handy losbrüllte, ausgerechnet mit Purple Haze von Jimi Hendrix). Die Ausstattung ist von überirdischer Schönheit, so wie in den meisten katholischen Kirchen.

Interior 1

Interior 2

Interior 3

Interior 4

Auch wenn man sich über die zweifelhafte Zurschaustellung göttlicher Pracht im Klaren ist (man denke nur an die Finanzierung, die zum grossen Teil durch die Gläubigen erbracht wurde), sieht man darin auch als Nichtgläubiger die Kunst. Das genügt, um doch immer wieder eine gewisse Ergriffenheit zu spüren.

Weniger ergriffen bin ich später beim Essen, Pizza und Rotwein, vor mir an der Wand eines der schrecklichsten Bilder seit langem. Als müsste ich für meine ganz und gar unchristlichen Gedanken im Kloster bestraft werden …

terrible painting at the wall of the restaurant

 

Song zum Thema: Jimi Hendrix – Purple Haze

Und hier geht der Marsch weiter … nach Unterägeri

 

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