Für eine derart kurze Etappe scheint es angebracht, mit etwas Geistreichem zu beginnen. Nun denn, ich habe etwas von Caravaggio gefunden, meinem Lieblingsmaler (nebst vielen anderen):
Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind. Ein Schatten nur, der wandelt, ist das Leben, ein Märchen, voller Klang und Wut. Komm mit deiner dunklen Binde, Nacht!
Ein seltsamer Einstieg in den heutigen Tag. Offenbar ist es so, dass je schöner die Umgebung wird, desto düsterer meine morgentlichen Eingebungen. Nach dem traurigen Bowie Einstieg nun also eine Referenz an Schatten und Dunkelheit und Nacht.
Sehr seltsam. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass das Tofu-Abendessen (grauslig) mir den Schlaf genommen hat.
Aber was soll’s, es sind gemäss Guide auch heute natur- und menschengemachte Wunder zu erwarten:
Eine Etappe für Bahnfreaks: Der Weg verläuft teils unmittelbar neben den Geleisen, passiert die Orte Göschenen und Andermatt, die in der Geschichte des Gotthardverkehrs eine wichtige Rolle spielten. Dazwischen die sagenumwobene Schöllenenschlucht.
Länge 10 km; Aufstieg | Abstieg 680 m | 150 m; Wanderzeit 3 h 10 min
Die Vergangenheit lässt grüssen
Der Weg in Richtung Göschenen ist reine Geschichte. Die Erzählung einer für die damalige Zeit aussergewöhnlichen Leistung beim Bau der Gotthardbahn und des Gotthard Eisenbahntunnels. Viel ist darüber geschrieben worden, man klopft sich immer noch auf die Schulter, man ist – mit einer gewissen Berechtigung – stolz auf das Wunder der Gotthardbahn.
Man kann tatsächlich von brillianter Planung und Ausführung zu einer Zeit sprechen, da Maschinen und Werkzeuge, wie wir sie heute kennen, unbekannt waren, und das meiste mit harter körperlicher Arbeit gemacht werden musste.
Aber es gibt auch eine andere Erzählung. Diejenige von schrecklichen Unglücken und Tod, aber auch von Ausbeutung, von Unmenschlichkeit, von jämmerlichem Versagen.
199 Arbeiter starben während der Bauarbeiten. Von den 171 Toten, die in der Unfallliste im Bundesarchiv erwähnt werden, wurden 53 Arbeiter von Wagen oder Lokomotiven zerquetscht, 49 von Felsen erschlagen, 46 durch Dynamit getötet. 23 kamen auf andere Art ums Leben, einer von ihnen ertrank.
Schuld war nach offizieller Angabe jeweils der Zufall oder der Verunglückte selbst. Zahlreiche weitere Männer starben allerdings im Laufe der folgenden Jahre an den Spätfolgen von Unterernährung, Krankheiten und Verletzungen, die sie sich während des Tunnelbaus zugezogen hatten.
«Nicht als Todesfälle erfasst wurden diejenigen Arbeiter, die an den Portalen tödlich verletzt oder unheilbar krank wurden, jedoch erst nach ihrer Rückkehr in die Heimat starben. Dieses Korrektiv gewinnt dadurch an Gewicht, dass gerade in Airolo Kranke und Verwundete ‹massenhaft nach Hause geschickt wurden›.»
Auf dem Weg in Richtung Andermatt sind zahlreiche Reminiszenzen an den Bau der Gotthardbahn zu sehen. Verrostende Geräte zeugen von der damaligen Art und Weise, wie man die Arbeiten durchführte.
Eine kleine, schwach beleuchtete Hütte (eine ziemliche Bruchbude, offiziell Museum für Steinbearbeitung) stellt damalige Werkzeuge und Geräte aus. Sie sind naturgemäss in schlechtem Zustand, aber die Funktionsweise ist einigermassen ersichtlich.
Allerdings – wenn man an die damalige Zeit erinnern will, sollte man sich bemühen, dem Ganzen eine gewisse Würde zu verleihen, ansonsten es angebracht wäre, darauf zu verzichten.
Der Weg aufwärts
Eigentlich (und ziemlich überraschend) ist der Weg hinauf in Richtung Andermatt zwar steil, aber recht einfach zu bewältigen.
Das Licht an diesem sonnigen Morgen ist milchig, die Schatten sind tiefer als sonst, wie kann das sein? Es zieht mich wie von selbst aufwärts, als hätte sich während den letzten Wochen ein innerer Automatismus entwickelt, der mich antreibt, der mir den Takt vorgibt. Ich bin zum Sklaven der Routine geworden. Das ist gut so, denn es bedeutet auch, dass ich endlos weitergehen könnte.
Bis ans Ende der Welt.
Ich denke, dass ich auch heute niemandem begegne, es wäre eine Überraschung. Dabei ist der Trail schlicht fantastisch. Der Weg folgt steilen Felswänden, überquert Brücken aus wackligem Holz, dann wieder unter einer Betonbrücke durch, was oben ist, weiss niemand.
Aber da sind sie wieder, die Betonmonster, mächtige Pfeiler in den Boden gerammt, geschwungene Bögen, beinahe schön, Architektenträume, mehr nicht. Darauf ein einzelnes Fahrzeug, ganz winzig, der Mensch wird zur Miniatur.
Der Mensch beherrscht die Natur, oder doch nicht?
Adios alter Zug
Göschenen nähert sich, der erste Punkt auf der heutigen Karte.
Es geschähe Unheimliches, falls man aus dem Mittelalter käme und noch nie einen Zug oder ein Tunnel gesehen hätte. Denn hier verschwindet die Gotthardbahn, die alte, endgültig in die Dunkelheit, die erst viele Kilometer im Süden, im Tessin, wieder Platz für das Licht macht.
Früher hätte man nicht lange auf einen Zug warten müssen, doch heute dauert es eine Ewigkeit. Ich möchte unbedingt einen Zug an mir vorbeifahren sehen, den Luftzug spüren, den Dopplereffekt erleben. Aber da kommt nichts, auch anstrengendes Lauschen auf mögliche akustische Annäherung bleibt erfolglos.
Und unweit davon wird emsig gebaut, es soll eine zweite Röhre für den Strassentunnel erstellt werden. Eine äusserst umstrittene Geschichte. Offziell wird beteuert, dass beide Röhren nur in Notfällen zugänglich gemacht werden, man zweifelt daran, mit Recht.
Auf diese Weise wird das Vertrauen in die Politik in Mitleidenschaft gezogen. Aber das kennen wir in der Zwischenzeit.
Alte Brücken und Steinschlag
Aber dann – eine Augenweide. Eine alte Steinbrücke über die Reuss.
So stellt man sich den alten Saumpfad vor, viele für Mensch und Tier steile anstrengende Pfade, dazwischen steinerne Brücken, die von erstklassigen Baumeistern gebaut worden sind. Es handelt sich um die Häderlisbrücke, ein Juwel einer Brücke.
Die entsprechende Beschreibung wird mitgeliefert.
Und noch etwas weiter oben – Gefahr!
Wenn man die Felswand hinaufblickt, versteht man die Warnung. Hier ist Vorsicht angebracht, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Felsabsturzes gering ist. Aber wir kennen das – falsche Zeit am falschen Ort, und schon gehst du ins Nirvana ein. Das muss nicht sein, also beeilt man sich trotz Wahrscheinlichkeitsrechung.
Die Teufelsbrücke – Satan und Geissbock
Kurz vor Andermatt, eines der mythischen Highlights – die Teufelsbrücke.
Ich zitiere die zugehörige Sage, die jedes Kind in der Schweiz kennt:
Einer Sage zufolge wurde die erste Teufelsbrücke vom Teufel errichtet. Die Urner scheiterten immer wieder an der Errichtung einer Brücke. Schliesslich rief ein Landammann ganz verzweifelt aus: „Do sell der Tyfel e Brigg bue!“ (Da soll der Teufel eine Brücke bauen!)
Kaum ausgesprochen, stand dieser schon vor der Urner Bevölkerung und schlug ihnen einen Pakt vor. Er würde die Brücke bauen und als Gegenleistung bekomme er die Seele desjenigen, der als Erster die Brücke überquere. Nachdem der Teufel die Brücke gebaut hatte, schickten die schlauen Urner einen Geissbock über die Brücke.
Der Teufel war über diesen Trick sehr erzürnt und holte einen haushohen Stein, mit dem er die Brücke zerschlagen wollte. Es begegnete ihm aber eine fromme Frau, die ein Kreuz auf den Stein ritzte. Den Teufel verwirrte das Zeichen Gottes so sehr, dass er beim Werfen des Steines die Brücke verfehlte. Der Stein fiel die gesamte Schöllenenschlucht hinab bis unterhalb des Dorfes Göschenen. (Wikipedia)
Die Schöllenen Schlucht – weltberühmt durch ihre geschichtliche Bedeutung. Und die Erinnerung an die mühsame Bezwingung mit der Hilfe des Teufels persönlich. Und der Zug, dieser hier verkehrt bis Andermatt, wo dann auf den berühmten Glazier Express ungestiegen werden kann.
Die zweite Teufelsbrücke und die schmale Strasse waren Mitte des 20. Jahrhunderts den Anforderungen des modernen Verkehrs nicht mehr gewachsen. 1958 wurde daher rund 30 Meter östlich der zweiten Brücke und etwas erhöht die dritte Teufelsbrücke eröffnet, die direkt in den ebenfalls neu erbauten Fadeggtunnel übergeht. Mit zwei Spuren konnte sie den zunehmenden Verkehr besser aufnehmen.
Über der Brücke prangt an der Felswand ein markantes Teufelsbild des Urner Malers Heinrich Danioth, geschaffen 1950 in Ölfarbe. 2008 wurde das rote Bild bei einem Vandalenakt mit blauer Ölfarbe beschmiert und darauf im Sommer 2009 aufwendig restauriert. (Wikipedia)
So gehen Sagen. Immer mit einem kleinen Anteil Wahrheit und sehr viel Glauben an Gott und den Teufel. Offenbar hat die Geschichte – wahrscheinlich durch geschickte PR-Strategen – auch touristische Ohren erreicht. Man glaubt viele unterschiedliche Sprachen zu hören, und das Klicken von Kameras, da Oh und Ah angesichts der wilden Natur und der noch wilderen Phantasie, die der Teufel hervorzurufen vermag.
Ein Denkmal für die Russen
Unweit der Teufelsbrücke, das Suworow Denkmal.
In normalen Zeiten würde man versuchen, sich an die damaligen Kriege zu erinnern, an den Kampf zwischen den Franzosen und den Russen, vielleicht sogar mit ein bisschen mehr Sympathie für das russische Heer. In diesem Jahr ist es schwierig, den Russen auch nur den geringsten Goodwill entgegenzubringen.
Aber ein paar Gedanken zum damaligen Kriegsgeschehen, das auch die Schweiz in Mitleidenschaft zog, können nicht schaden.
Die Zeit um 1800, also nur ein paar Jahre nach der Französischen Revolution und der Machtergreifung durch Napoleon, war gezeichnet von unzähligen Kriegen zwischen den damaligen Mächten Frankreich, Russland, England, Österreich, Preussen und verschiedenen zersplitterten Königreichen und Tochterrepubliken.
Ich zitiere den entsprechenden Abschnitt in Wikipedia:
Im sogenannten 2. Koalitionskrieg (1798/99–1801/02) wurde von einer Allianz um Russland, Österreich und Großbritannien gegen das im Ersten Koalitionskrieg erfolgreiche revolutionäre Frankreich geführt.
Der erfolgreichste französische General, Napoleon Bonaparte, war nach der verlorenen Seeschlacht bei Abukir in Ägypten isoliert. Auch deswegen war das Bündnis zunächst sehr erfolgreich und konnte die französisch dominierten Tochterrepubliken in Italien zerschlagen und die alte Ordnung wiederherstellen. Allerdings waren die Verbündeten zerstritten, und Russland verließ die Allianz.
Nachdem Napoleon aus Ägypten zurückgekehrt war und in Frankreich mit dem Konsulat die Herrschaft übernommen hatte, siegte er 1800 in Italien (siehe unten). Die verbliebenen Verbündeten schlossen Frieden mit Frankreich.
Der Friede von Lunéville (1801) bestätigte dabei im Wesentlichen die Bestimmungen von Campo Formio. Die Niederlage der Alliierten war indirekt für die völlige Neugestaltung des Heiligen Römischen Reiches durch den Reichsdeputationshauptschluss mitverantwortlich. Mit dem Frieden von Amiens (1802) zwischen Großbritannien und Frankreich war der Krieg endgültig beendet.
Der Abschnitt der Schlacht an der Schöllenen Schlucht ist speziell interessant:
Der Plan Suworows war es, mit seiner ca. 21.000 Mann zählenden Armee durch einen überraschenden Vorstoß quer durch die Alpen in den Rücken der Truppen von General André Masséna vorzustoßen und ihn zusammen mit den Truppen von Alexander Rimski-Korsakow und einer österreichischen Armee unter General Hotze bei Zürich in die Zange zu nehmen.
Obwohl die Russen noch nie zuvor in den Bergen gekämpft hatten, eroberten sie am 24. September den Gotthardpass von den Franzosen, worauf sie unter französischem Beschuss die Schöllenenschlucht passierten. Angekommen in Altdorf, erkannte Suworow, dass ein Weg nach Schwyz entlang des Vierwaldstättersees, mit dem er gemäß der ihm von den Österreichern zur Verfügung gestellten Militärkarten gerechnet hatte, gar nicht existierte. Die Straße endete damals in Altdorf. (Wikipedia)
Da ist nicht viel zu ergänzen. Es war eine verrückte Zeit voller Kriege und Gewalt und Elend, alles, damit irgendwelche narzisstische Männer ihre Träume von Macht realisieren konnten.
Das neue Andermatt – Geld und wenig Geist
Kurz nach der Schöllenenschlucht öffnet sich das Tal in eine weite Ebene, mittendrin Andermatt, mein heutiges Ziel.
Es gab das alte Andermatt, ein verschlafenes Dorf inmitten von Felsen und Bergen und Steinen. Eigentlich schön in seiner stillen Einfachheit.
Dann kam Samih Sawiris. ein ägyptischer Geschäftsmann und Milliardär, und mit ihm das Versprechen auf Geld und Wohlstand. Die alte Geschichte der Versuchung. Die Hybris des Menschen, der er immer wieder erliegt.
Man kann Sawiris nicht mal viel vorwerfen. Er tut genau das, was er beherrscht. Möglichkeiten erkennen, Kosten gegen Nutzen aufrechnen, Entscheide fällen, Hindernisse aus der Welt schaffen, die Möglichkeit zur Tatsache werden lassen.
Heute gibt es das alte Andermatt zwar noch, aber nun umgeben von protzigen Hotelkästen, mitten im Dorf steht ein Luxusressort namens Chedi, auf der weiten Ebene, wo sich die Reuss ihren Weg sucht, gibt es einen Golfplatz, auf dem kein Mensch zu sehen ist.
Das alte Hotel Krone heisst nun The Crown, alles ist auf englisch angeschrieben und wenn wundert’s – auf der Strasse wird mehrheitlich englisch oder italienisch gesprochen, und in den Restaurants wird man selbstverständlich auf englisch angesprochen.
Man fragt sich, seit die Sawiris Pläne bekannt wurden, ob sein Projekt Erfolg haben würde. Um erfolgreich gegen weltberühmte Ressorts wie St. Moritz oder Zermatt bestehen zu können, braucht es mehr als nur ein paar teure Hotelkästen und einen Golfplatz.
Es braucht vor allem eine schöne, das Auge betörende Umgebung wie im Oberengadin oder eine weltbekannte Bergspitze wie das Matterhorn.
Nichts dergleichen hier in Andermatt. Es gibt viele Felsen, hässliche Geröllhalden ringsherum, ein paar Bergspitzen, eine sattgrüne Ebene mit dem Fluss, und natürlich das Skigebiet am Gemsstock (das nun bis nach Sedrun erweitert werden soll).
Und das Tüpfelchen auf dem i – eine amerikanische Investmentfirma, die in den USA erfolgreich mehrere Luxusressorts betreibt, hat sich die Lizenz für den Betrieb des Skigebiets erworben. Eine Firma, die bisher ausschliesslich auf dem amerikanischen Markt Luxusresorts betreibt. Und nun sollen die Preise für eine Tageskarte an die entsprechenden US-Preise angepasst werden, d.h. über Fr. 200.- Pro Tag!
Kann das gut gehen? Ich bezweifle es. Schweizer Skifahrer sind Tagesausflügler. Sie reisen an den Ort, fahren einen Tag Ski und reisen wieder ab. Sie benötigen keinen Full-Service (den ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann) und bezahlen garantiert keine Fr. 200.-
Aber mal sehen. Für die Touristen am Ort, mehrheitlich ausländischer Provenienz, sind diese Preise möglicherweise völlig in Ordnung. Wir werden also vielleicht eine Triage erleben. Hier Ausländer, hier Schweizer.
Nur schon der Gedanke ist beunruhigend.
Dabei behält der alte Ortskern seinen Charme, auch wenn die fremden Einflüsse zunehmen. Sie werden es nicht schaffen, die natürliche Ausstrahlung des alten Andermatt zu zerstören.
Oder doch?
Anyway, ausgerechnet hier verbringe ich meinen einzigen Ruhetag. Ich hätte mir etwas Besseres gewünscht.
Passender Song: The Eagles – Seven Bridges Road
Und hier geht der Trail weiter … über den Gotthard