Was wissen wir im Jahr 1974 überhaupt über Indien? Nun ja, dass sich über 660 Millionen Menschen in diesem Ameisenhaufen tummeln. Dass es eines der ämsten Länder der Welt ist. Dass es so gross ist, dass man es beinahe als eigenen Kontinent bezeichnen könnte.

660 Millionen? Heute, 2024, wenn ich diese Zeilen schreibe, hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt und ist mit 1400 Millionen zum bevölkerungsreichsten Land der Welt geworden. Aber nicht nur das, es ist auch auf dem besten Weg, sehr einflussreich zu werden. Mit einer, im Gegensatz zu China, jungen Bevölkerung. Ein Gigant in der IT-Branche. Eine Atommacht. Mit einer wohlhabenden Ober- und Mittelschicht, die mehrere hundert Millionen umfasst.

Aber eben, wir befinden uns im Jahre des Herrn 1974, das Land ist weit davon entfernt, einflussreich oder reich zu werden. Die Armut ist allgegenwärtig, auf den Strassen, auf den Trottoirs, vor den Häusern, in der Stadt und auf dem Land. Man kann ihr nicht entkommen.

Genausowenig wie dem Tod. Die in der Nacht Verstorbenen werden in aller Frühe mit Lastwagen eingesammelt und weggebracht. Man sieht nichts davon, sie verschwinden einfach, als ob sie nie gelebt hätten.

Man kann die Augen verschliessen und sich einreden, dass es uns nichts angeht. Aber so einfach ist es nicht. Wir sind zwar nur Besucher, aber trotzdem Zeugen. Und es fällt schwer, sich nicht schuldig zu fühlen.

Aber so gehen die Tage dahin. Eine endlose Aneinanderreihung von schläfrigen, hellwachen, faszinierten, abgestossenen Tagen. Man fühlt sich in einem Zustand der Paralyse und nimmt trotzdem alles auf, was ringsherum geschieht. Das ist Delhi.

Der Ameisenhaufen namens Old-Delhi

Wenn man das wahre Indien, das wahre Delhi kennenlernen will, muss man Old Delhi besuchen. Denn Old-Delhi stellt in jeder Hinsicht eine Steigerung des Unfassbaren dar. Man stürzt sich hinein und merkt erst nach einer Weile, dass es nichts mit Mut sondern Tollkühnheit zu tun hat.

Nach kurzer Zeit macht sich Müdigkeit bemerkbar, die Beine werden schwer. Es scheint, als würden die von allen Seiten herunterprasselnden Eindrücke das System zum Erliegen bringen. Man schleppt sich durch die Strassen und Gassen, durch die Menschenmengen hindurch, entlang unendlich lang scheinenden Häuserzeilen. Das eigene Ich schrumpft in der Kakophonie von Stimmen, Motoren, schrillen Schreien, Hupen …

Ein AI-generiertes Bild von Old Delhi (ziemlich gewagt für 1974)

So stellt man sich die Hölle vor oder zumindest die Vorhölle. Man ist gleichermassen fasziniert wie irritiert, auf seltsame Art erschlagen von zuvielen gleichzeitigen Sinneseindrücken. Und doch muss man hindurch, längst ohne Plan, ohne Ziel, alles vergessen, nur noch vorwärts, seitwärts, rückwärts, gestossen von tausend Körpern.

Und wenn man den Ausgang schafft, stellt sich eine Mischung von Verwunderung und Erlösung und Dankbarkeit ein. Und man sieht ein, dass es das ausserordentlichste, wahnsinnigste, unvergleichlichste Erlebnis war.

Das ist Indien. Es gibt nichts Vergleichbares.

Das Jantar Mantar Observatorium

Es ist Zeit, sich ruhigeren Gefilden zuzuwenden, beispielsweise den unvergleichlichen Zeugen vergangener Zeiten, wie das Jantar Mantar Observatorium.

In meinen Notizen steht zwar noch, dass es Akbar der Grosse erstellen liess, aber in der Zwischenzeit ist klar geworden, dass es das erste der fünf von Jai Singh II. errichteten Anlagen darstellt und ab 1724 erbaut wurde. Wikipedia meint dazu etwas spöttisch, dass die Daten nicht nur der reinen Astronomie, sondern vor allem den astrologischen Neigungen des Herrschers dienten.

Für den Laien sind es merkwürdig verspielte Bauten aus rotem Sandstein, Sonnenuhren, Steinquader, Treppen. Man betrachtet sie von allen Seiten, man bewundert, man rätselt, man versucht zu verstehen, und muss früher oder später einsehen, dass sie sich dem Verständnis entziehen. Und tatsächlich, ich trauere ein bisschen den Physikstunden nach, die ich mehrheitlich im Halbschlaf verpasste. Vielleicht wäre doch das eine oder andere hängengeblieben, was mir zum Verständnis geholfen hätte.

Aber man kann sich schlau machen:

Zweck der Strukturen war es, astronomische Tabellen zusammenzustellen, um die Bewegungen und die Erscheinungszeiten von Sonne, Mond und Planeten vorhersagen und so verlässliche Kalender anlegen zu können.

Aha.

Der Tod ist allgegenwärtig

Wie andernorts ist der Campingplatz von Hunden bevölkert. In mehrheitlich schlechtem, gesundheitlich angeschlagenem Zustand liegen sie im Schatten und lassen sich durch die die Touristen verwöhnen oder jagen einander durch die Wiesen nach.

Zwei davon, ein weisslicher Rüde, und eine Dame, die wahrscheinlich alle paar Monate ein neues Rudel Welpen in die unbarmherzige Welt wirft, haben sich in unserer Nähe niedergelassen. Natürlich werden sie gefüttert, was aber den Rüden namens Schnappsauge nicht davon abhält, unseren nächtlichen Schlaf durch endloses Bellen und Jaulen zu stören. Was mich jeweils mitten in der Nacht zu minutenlangen Verfolgungsjagden durch den Zeltplatz bringt. Natürlich ohne Erfolg.

In Indien, diesem riesigen Biotop, begegnet man Leben und Tod auf Schritt und Tritt. Und so geschieht es eines Tages, dass auch wir damit konfrontiert werden.

Es herrscht eine aufgebrachte Stimmung im Camp, als wir vom Einkaufen zurückkehren. Eine Frau erzählt uns, dass ein paar Einheimische unserem geliebten und gehassten Schnappsauge solange Steine nachgeworfen hat, bis er auf die Strasse flüchtete und prompt überfahren wurde. Niemand weiss, wo er ist.

Ich gehe ihn suchen und finde ihn, sterbend an einer Mauer liegend. Alles, was ich ihm geben kann, sind ein paar so sehr vermisste Streicheleinheiten und beruhigende Worte. Bis er seinen letzten Atemzug macht.

Während ich ihn unter Tränen mit ein paar Ästen zudecke (was wenig nützen wird), hätte ich in diesem Augenblick den Tätern mit Vergnügen den Hals umgedreht. Doch letztlich ist es so wie überall auf der Welt: der Schwache sucht sich einen noch Schwächeren. So geht es in der unseligen Kette von ganz oben bis nach ganz unten.

In der nächsten Nacht wache ich auf und lausche einen Augenblick lang auf das Bellen, bis mir die bittere Wahrheit einfällt, dass ich ihn nie mehr hören werde.

Irak? Libanon?

Wenn man Zeit im Überfluss hat, kommt man gelegentlich auf die merkwürdigsten Gedanken. Eigentlich haben wir ja noch nicht mal die Hälfte des Trips geschafft, Halbzeit werden wir erst in Kathmandu feiern. Was uns aber nicht davon abhält, bereits jetzt Gedanken zur Heimfahrt zu machen.

Eine dieser merkwürdigen Ideen ist der Plan, den Heimweg etwas anders zu gestalten und eine alternative Route durch den Irak zu suchen.

Irak? Das klingt auf den ersten Blick ziemlich abwegig, auf den zweiten macht es Sinn. Warum sollten wir nicht versuchen, anstelle des tupfgenau gleichen Heimwegs eine südliche Route durch den Irak und anschliessend den Libanon und Syrien zu fahren? Der Gedanke klingt verführerisch. Bagdad, Euphrat und Tigris, die Ruinen von Babylon und Ninive, französische Strassencafés in Beirut …

Doch bis dahin sind diverse Hürden zu überwinden.

Anyway, wir füllen also auf der entsprechenden Botschaft ein Formular aus, dieses wird nach Bagdad geschickt, und wenn alles klappt, können wir auf dem Rückweg von Nepal erfahren, ob’s klappt oder nicht.

Wir sind gespannt.

Eine Hochzeit und eine Mondfinsternis

Der Boss des Campingplatzes, ein stattlicher junger Herr, nicht nur seiner besonderen Rolle sondern auch seiner Attraktivität bewusst, ist nicht jemand, der sich auf besondere Weise um das Wohlergehen seiner Gäste kümmert. Aber ein gelegentlicher Schwatz liegt drin, auch wenn ich vermute, dass er sich vor allem für Monika interessiert.

Anyway, eines schönen Tages macht er bekannt, dass es ihn danach trachtet, in den Stand der Ehe zu treten. Und wie immer in Indien, wenn man Geld hat oder wie in seinem Fall aus wohlhabender Familie stammt, dann ist eine Hochzeit nicht einfach eine Hochzeit, es ist ein Monsterfest, das alle Grenzen unserer Vorstellungen sprengt.

Und als schmückende Beilage werden ein paar ausländische Gäste eingeladen, die man stolz den anwesenden Gästen präsentiert. Man will ja schliesslich zeigen, dass man die Welt kennt.

Und so werden auch wir eingeladen. Was uns vom ersten Augenblick Bauchschmerzen bereitet. Es gibt nämlich ein praktisches Problem, das der Ausstattung. Einer indischen Trauung kann man wohl kaum in unseren heruntergekommenen Klamotten beiwohnen. Man möchte sich ja nicht den indignierten Blicken der anwesenden Gäste aussetzen.

Aber vor allem stinkt uns die Rolle als Sahnehäubchen auf der Torte. Also suchen wir nach einer Ausrede, die nachvollziehbar ist, ohne den Einladenden blosszustellen. Die fehlende Festtagskleidung bringt uns die entsprechenden Argumente.

Und ja, vielleicht haben wir etwas verpasst, die wahrscheinlich einmalige Gelegenheit, Indien aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen.

Aus der Perspektive der Reichen.

Immerhin, als wäre unser Entscheid trotz schlechtem Gewissen richtig gewesen, werden wir mit einem grandiosen Vollmond beschenkt. Fast so gut wie eine indischen Märchenhochzeit. Und für all die Touristen, die den Vollmond über dem Taj Mahal sehen wollen, wohl der Höhepunkt ihrer Reise.

Qutb Minar

Eine knapp halbe Stunde ausserhalb Delhis findet man den Qutb Minar, eine der höchsten Turmbauten der islamischen Welt.

Die Bing AI meint dazu:

Der Qutb Minar ist ein Sieges- und Wachturm sowie ein Minarett im Qutb-Komplex in Delhi, Indien. Er gilt als frühes Meisterwerk der indo-islamischen Architektur und zählt zu den höchsten Turmbauten der islamischen Welt. Der Turm ist 72,30 Meter hoch und hat einen Durchmesser von 13,70 Metern an der Basis, der sich bis zur Spitze auf 2,75 Meter verjüngt.

Der Qutb-Komplex beherbergt die Ruinen der ersten Moschee Delhis, die Quwwat-ul-Islam-Moschee, die um das Jahr 1200 nach der muslimischen Eroberung der Stadt erbaut wurde. Der Komplex wurde 1993 von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.

Der Weg ist nicht weit, und als wir dort ankommen, herrscht ein grosses indisches Durcheinander. Es macht den Anschein, als hätten sich ein paar Schulen den Tag für einen Ausflug ausgesucht. Tausend Kinder und Jugendliche haben sich um die Ruinen versammelt, ein paar davon machen sich den Spass, sich um Monika herumzuscharen. Der Ausdruck in ihrem Gesicht zeugt von wenig Freude über diese Sympathiebekundung.

Der Qutb Minar Turm ist tatsächlich ein besonderes Juwel architektonischer Kunstfertigkeit. Und man kann ihn tatsächlich besteigen (seit 1981 ist die Besteigung ist Besucher nicht mehr erlaubt, seitdem bei einem Stromausfall und einer nachfolgenden Massenpanik 45 Menschen ums Leben kamen).

Einmal mehr muss man sich vor dieser Leistung in Demut verneigen. Der Grundstein wurde wahrscheinlich Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts gelegt, später gebaut und fertiggestellt, immer wieder (auch durch Blitzschlag) beschädigt und wieder repariert.

Bei alledem muss man sich vor Augen halten, wieviele Jahrhunderte voller Kriege und Unrast dieser Turm und die benachbarten Bauten überstanden haben. Stolz und unerschütterlich stehen sie da, widerstehen allen Stürmen, allen Anfechtungen der Natur und des Menschen.

Song von 1974: Queen – Killer Queen

Und hier geht der Trip endlich weiter – zum berühmtesten Gebäude der Welt

 

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