Der erste Eindruck nach einem 10-stündigen Schlaf – die Kopfschmerzen sind weg.
Am Morgen, nach einem irgendwie seltsamen Schlaf, unterbrochen durch ungewohnte Geräusche von draussen (sind es schlaflose Vögel? unbekannte Tiere?), erwache ich mit schwerem Kopf. Vom meinem Zimmerfenster aus hoffe ich vergeblich einen Blick auf hohe Berge, auf wüstenartige Abhänge werfen zu können, doch alles, was mir geboten wird, sind tiefliegende Wolken.
Der Frühstückssaal ist brechend voll, ich suche mir einen der letzten freien Plätze und mache mich auf ans Frühstücks-Buffet. Es gibt alles, was das westliche Herz begehrt, aber auch asiatische Gaumen werden gebührend mit allerhand scharf riechenden Speisen verwöhnt.
Am Nebentisch sitzt eine amerikanische Familie, Eltern und zwei Teenager, in lebhaften Diskussionen. Natürlich dauert es nicht lange, bis ich Teil der Gespräche werde (das ist eine der amerikanischen Tugenden, die ich schon immer geliebt habe; unsere europäische Zurückhaltung scheint mir vergleichsweise schon beinahe asozial zu sein). Es stellt sich heraus, dass man nur wenig Zeit hat und diese möglichst gut nützen will.
Ein altersschwaches Ross
Im Gegensatz zu den Kopfschmerzen hält die Atemlosigkeit an. Es sind genau zwei Treppen mit etwa 20 Stufen zu meinem Hotelzimmer hinauf, also nichts Besonderes würde man meinen. Aber jedesmal, wenn ich oben ankomme, keuche ich wie ein altersschwaches Ross in den letzten Zügen. Manchmal begegne ich oben an der Treppe einem Inder, ungefähr in meinem Alter, wir lächeln uns wissend zu, zucken bedauernd die Schultern und keuchen wortlos weiter.
Aber die Stadt ruft. Ich habe leider feststellen müssen, dass mein Hotel ziemlich weit ausserhalb des Zentrums liegt und deswegen ein längerer Fussmarsch unumgänglich ist. Und der Weg führt offenbar aufwärts, was für den kurzen Atem eine weitere Belastungsprobe darstellen wird. Aber mal sehen …
„Special Price for you!“
Die erste Erkundungstour ins Stadtzentrum erweist sich als die befürchtete Anstrengung. Der Weg führt nämlich tatsächlich konstant bergaufwärts. Es erinnert mich schmerzlich an die etwas blechern klingende Lautsprecherstimme kurz nach der Landung. Sie empfahl uns wärmstens nicht nur strikte Ruhe von mindestens 24 oder noch besser 36 Stunden, sondern auch langsames Gehen.
Na gut denn, schalten wir halt einen oder zwei Gänge zurück (fehlt eigentlich nur noch der Rollator) und geniessen die Umgebung!
Die Strasse, die ich in den nächsten Tagen wohl öfters begehen werde, führt zwischen neuen Hotels und baufälligen Wohnhäusern hangaufwärts der Stadt entgegen. Schon bald tauchen die ersten Shops auf. Und damit wären wir nun bei den Worten zum heutigen Tag. Wieviele Male habe ich es gehört, dieses „Hello Sir“, meistens freundlich, gelegentlich aggressiv, aber immer mit grimmiger Entschlossenheit? Tausende, abertausende Male. Mit kleinen Nuancen immer die gleichen Sprüche in allen Ländern an allen möglichen Orten. Vielleicht noch ergänzt mit „Where you from?“ oder „Special Price for you“.
Aber die Händler sind nett, auf freundlche Weise aufdringlich. Sobald man als Opfer erkannt worden ist, werden die Netze ausgeworfen und dann geht’s los. Man muss es mit einer gewissen Gelassenheit über sich ergehen lassen. Gehört einfach dazu. Am Anfang ist man noch nett, beantwortet jeden noch so Spruch mit Freundlichkeit, doch das gibt sich schnell, und das Ohr verschliesst sich von selbst. Es ist wie beim Flugzeuglärm, der nach kurzer Zeit verstummt.
Das Stadtzentrum
Und dann bin ich da. Plötzlich und unerwartet stehe ich mitten auf einem langgezogenen grossen Platz. Der langsame Gang entlang der zahlreichen Verkaufsläden und Restaurants – in der Zwischenzeit brennt eine unbarmherzige Sonne herab, erstaunlich nach dem eiskalten Abend – öffnet den Blick auf das Alltagsleben.
Dann also Leh. Oder auch „Klein-Kathmandu“ genannt. 15’000 Einwohner, in der Hauptsaison auf das Mehrfache anschwellend. Auf gut 3500 Metern im Industal inmitten kahler toter Berge und Hügel gelegen (was mich anfänglich doch sehr verwirrt hat, denn kann es derselbe Indus sein, den wir vor hundert Jahren im südlichen Pakistan überquerten?
Es ist tatsächlich so, denn der Fluss entspringt irgendwo im Himalaya, fliesst anfänglich Richtung Nordwesten an Leh vorbei, bevor er sich endgültig nach Süden wendet und zum riesigen Strom wird, der nach tausenden von Kilometern ins Arabische Meer mündet).
Leh ist also eigentlich eine Kleinstadt, die aber auch jetzt, in der Nachsaison, aus allen Nähten platzt. Der dichte Verkehr führt an allen Ecken und Enden zu Staus und bringt die schmalen und schlechten Strassen und Gassen an den Rand ihrer Kapazität (es kommt mir vor, als hätte ich die gleiche Geschichte schon mehrfach erzählt, sei es von Mandalay oder Luang Prabang oder anderen von der Entwicklung überrollte Orte). Auf jeden Fall ist man als Fussgänger gut beraten, einen gut funktionierenden Fluchtreflex zu entwickeln, und auch ältere Leute besinnen sich mit Vorteil an ihre frühere Beweglichkeit.
Farbige Anblicke
Das Auge hat Mühe, sich sattzusehen. Irgendwann setzt man sich hin, ermüdet, erhitzt, lässt den Zufall führen.
Die Burg
Mal abgesehen von diesen leider nur allzu bekannten Zeichen zivilisatorischer Entwicklung bietet die Stadt alles, was das unersättliche Travellerherz begehrt.
Das eigentliche Zentrum von Neu-Leh macht einen ziemlich modernen Eindruck (wobei der Ausdruck „modern“ mit Vorsicht zu geniessen ist). Es gibt eine mit zahlreichen Läden flankierte Fussgängerzone (tatsächlich!), wobei man unter Läden in erster Linie Souvenirshops, Guesthouses und Trekking-Agencies zu verstehen hat. Ein paar Meter dahinter liegt Old-Leh mit verschachtelten Gassen, ein Irrgarten, in dem der Unkundige nach kurzer Zeit jeglichen Sinn für die Orientierung verliert. Verwinkelte Gässchen führen mitten in ein undurchdringliches Labyrinth und über kurz oder lang strandet man in Hinterhöfen, Sackgassen und verwunschenen Plätzen.
Und über allem thront auf einem Hügel majestätisch der alte Königspalast, zwar nicht mehr bewohnt und in ziemlich schlimmem Zustand. Und noch etwas weiter oben auf der Hügelkuppe starren die Überreste einer Burg auf ihre ehemaligen Untertanen herab. Die beiden fast- oder beinahe-Ruinen werde ich mir morgen zu Gemüte führen. Heute gilt es erst mal die Atmosphäre reinzuziehen, die Energie zu spüren. All das, was diesen Ort ausmacht. So speziell macht …
PS Song zum Thema: Sia – Breathe me
Und hier geht die Reise weiter …