Die Geister der Berge sind stumm geblieben.
Wir haben allerhand düstere Träume erwartet.
Es hätte uns nicht verwundert, wenn sich die Geister der Berge an den frechen Eindringlingen gerächt hätten. Mit Albträumen von tiefen Abgründen, von zerschmetterten Autos, von Beinhahe-Crashs, vom Fallen und Aufprallen.
Nichts dergleichen. Sie sind stumm geblieben.
Aber es ist ja noch nicht vorbei. Es warten weitere Abgründe, weitere Albtraumstrecken.
Der Rohtang La
Der Rohtang La, nur knapp 4000 Meter hoch, ist aber – wie sich zeigen wird – ebenso furchteinflössend wie die gestrigen Pässe. Er ist das erste Ziel nach der Abfahrt um Punkt acht Uhr. Wir erwarten eine gemütliche Fahrt, denn nach gestern kann uns eigentlich nichts mehr erschrecken. Wie man sich doch täuschen kann …
Wir befinden uns nicht mehr in der Region Jammu/Kaschmir, zu der auch Ladakh gehört, sondern im Bundesstaat Himachal Pradesh. Was aber nicht heissen will, dass nun alles besser ist, im Gegenteil! Auf der Passhöhe des Rohtang La befindet sich auch die Wetterscheide, dies bedeutet, dass sich hier der Monsun nach Lust und Laune austoben kann.
Schon auf dem Aufstieg, in endlosen Kehren wie immer, ändert sich die Umgebung von Kilometer zu Kilometer. Die lebensfeindliche Wüste ist verschwunden, plötzlich wachsen wieder Bäume, grosse, kraftstrotzende Bäume, und Büsche und Gras auf den Abhängen. Man glaubt, in einer anderen Welt gelandet zu sein, einer Welt, die plötzlich wieder Leben ermöglicht.
Alles scheint besser als gestern. Die Strasse ist wieder geterrt, viereckige Betonklötze sichern den Abgrund. Es geht zügig vorwärts. Wenn es so weiter geht, sind wir am Mittag in Manali.
So kann man sich irren …
Weitere Abgründe
Natürlich dauert es nicht lange mit der schönen gesicherten Strasse. Nach einer halben Stunde sind wir dort, wo wir gestern aufgehört haben – bei engen, unbefestigten, staubigen Strassen mit viel Gegenverkehr. Wir haben beim Nachtessen über alles gesprochen, ausser über die gestrige Etappe. Wahrscheinlich versucht man instinktiv, die zahlreichen Schrecksekunden am Rande des Abgrunds zu verdrängen.
Auf jeden Fall sehen wir weiteren Abgründen entgegen, wie der Fahrer mit einem breiten Grinsen bekanntgibt. Wie bereits mehrfach gehört und gelesen, wird an der Strecke heftig gearbeitet. Baumaschinen erschweren die eh schon schwierigen Durchfahrten weiter, der Staub wird dichter, der Lärm lauter. Aber dann erkennen wir ein Tal, ein kleines Dorf, von oben ganz klein, noch im Schatten liegend.
Und dann ist bereits die erste Pause angesagt.
Break im Nirgendwo
Erstaunlich, wie sich an den unwirtlichsten Orten eine winzige Art Dorf errichten lässt. Ein paar Hütten, ein Kiosk (oder müsste man es gerechterweise auch als Restaurant bezeichnen?), ein paar billige Plastikstühle und einige Tische, fertig ist der Lastwagen-Stopp. Tatsächlich sind die meisten der hier einen Aufenthalt einlegenden Vehikel Lastwagen, in mehr oder weniger heruntergekommenem Zustand. Man darf sie nicht zu sehr begutachten, denn angesichts der rostenden Komponenten wird es einem Angst und Bange. Das sind die Verkehrsteilnehmer, die uns entgegenkommen. Man darf nicht dran denken …
Vorbei mit der Ruhe
Am Himmel versammelt sich ein Gebräu aus düsteren Wolken, wie bereits erwähnt, ist der Monsun der allgegenwärtige Wettermeister. Es kann gut sein, dass es in einer halben Stunde regnet wie aus Kübeln. Das wäre dann für unsere Reise sozusagen der Supergau, die ganz und gar nicht willkommene Kirsche auf der Torte.
Denn der Regen macht den Pass beidseitig beinahe unpassierbar. Schwerste Niederschläge verwandeln die Bäche in reissenden Muren, die die mühsame Wiederherstellung zu einer fahrbaren Strasse wieder zunichtemachen. Gab es gestern immer wieder echt schlimme Teilstücke, wo das Fahren zum Hexenwerk wird, so ist dies heute der Normalzustand. Wir mühen uns die Strasse hinauf, die keine Strasse ist, sondern ein ausgewaschenes Bachbett, wir umfahren tiefste Löcher, dass wir an die Decke katapultiert werden, wir folgen Lastwagen, die soviel Staub aufwirbeln, dass die Welt erblindet.
Und dazwischen ein paar Yaks
Und dann wie aus dem Nichts – eine grüne Wiese, darauf friedlich weidend ein paar Yaks. Weissbehaart, schwarz oder beides zugleich. Ihnen scheint weder das Wetter noch irgendwas etwas auszumachen. Ihr dickes Fell schützt sie vor allen unliebsamen Überraschungen des Klimas in diesen Breitengraden.
Aber wir sind noch nicht durch
Und der Gegenverkehr ist immer noch teuflisch: alle paar Meter kommt uns etwas entgegen, ein völlig überladener, im Schritttempo fahrender Truck, dessen über das Lenkrad gebeugten Fahrer man nur als schattenhaftes Wesen erkennen kann, eine Kolonne (indischer) Töfffahrer auf ihren Royal Enfields (übrigens fahren alle, wirklich alle Inder, auch in Ladakh, ausschliesslich Royal Enfields; das ist die Töff-Marke, die von den Engländern her stammt, aber von einer indischen Firma übernommen wurde), oder ein nervöser PKW-Fahrer, der kurz vor dem Herzinfarkt steht. Heute ist nämlich Sonntag, da machen sich die ganz wagemutigen Inder auf, ihren Familienangehörigen zu zeigen, was sie für exzellente Fahrer sind. Autsch! Das kann böse ins Auge gehen …
Anyway, wir erreichen die Passhöhe, erkennen tausende von (indischen) Touristen, die hier Halt machen und – oh Wunder! – Selfies schiessen.
Auch die Fahrt hinunter ist kein Honiglecken. Staub und gefährliche Abschnitte bleiben uns erhalten. Manchmal sieht man kaum die Hand vor den Augen. Aber es wird gebaut, Arbeiter sind daran, die Strasse den Fluss entlang zu verbreitern (was abgesichts der Topographie mehr als angebracht ist).
Manali in Sicht
Doch das Tal öffnet sich unversehens, in der Ferne erkennt man die Ausläufer der Berge. Manali ist nicht mehr weit. Die Fahrt hinunter ins Tal dauert länger als angenommen, doch wir nähern uns Meter um Meter unserem Ziel, Manali, und schliesslich, wir umarmen uns in Gedanken, haben wir das Abenteuer überlebt. Nervlich etwas angeschlagen, aber sonst guter Dinge und trotzdem wir nur Passagiere waren, ein bisschen stolz über das Geschaffte.
Und eine weitere halbe Stunde später kommen die ersten Häuser in Sicht, die Dächer rot und grün und blau.
Man atmet unwillkürlich auf und dankt dem Himmel oder den Göttern oder wem auch immer für die überstandene Fahrt. Der Fahrer scheint das hörbare Aufatmen mitbekommen zu haben, auf jeden Fall zieht wieder mal sein berüchtigtes Grinsen um die Mundwinkel.
Manali
Manali, Old Manali um genau zu sein, entpuppt sich wider Erwarten als unbekanntes Traveller-Mekka erster Ordnung, ein bisschen an andere Aussteigerorte wir Pai in Thailand erinnernd. Ein Guesthouse neben dem anderen, tausend Restaurants und Kaffees, Agenturen, Wechselstuben, Souvenirshops … TukuTuks dröhnen die steilen und engen Strassen hinauf und hinunter, ein ohrenbetäubender Krach, der bis lange nach Mitternacht andauert. Immer das gleiche: am Anfang überraschend und gerne akzeptiert, nach kurzer Zeit nervtötend und langweilig.
Das Zimmer aber ist prächtig, der Boss organisiert mir in Windeseile ein Busbillett für morgen Abend, und einem verdienten, entspannten Abend in perfekter Begleitung namens Anja steht absolut nichts im Wege. Kaffee trinken, dem Treiben auf der Strasse zusehen, Nachtessen, zum ersten Mal Bier trinken (in der Höhe Ladakhs eher nicht angesagt) und reden, reden, reden … Bis das Licht ausfällt und eine ganze Stadt in absoluter Dunkelheit versinkt.
Time to sleep.
PS Song zum Thema: Emily Browning – Sweet Dreams are made of this
Und hier geht die Reise weiter – im Nachtbus nach Delhi